Abtreibungen in der EU: Die Moral steht über dem Gesetz
Als Ende Juni der Supreme Court der USA das Abtreibungsgesetz aufhebt, löst das weltweit eine heftige Debatte über das Selbstbestimmungsrecht von Frauen aus. Das EU-Parlament reagiert deutlich und will das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche in der Charta der Grundrechte verankern – denn Abtreibungen sind in der EU längst nicht überall legal.
Die Aufhebung des als „Roe v. Wade“ bekannten Grundsatzurteils aus dem Jahr 1973, das ein landesweites Recht auf Schwangerschaftsabbrüche verankert hatte, ermöglicht es den US-Staaten, Abtreibungen einzuschränken oder komplett zu verbieten. Einige konservativ regierte Staaten wie Missouri oder Indiana haben das bereits umgesetzt. Liberale Staaten wie New York oder Kalifornien haben hingegen Gesetze, die das Recht auf Abtreibung ausdrücklich schützen. New York will dieses Recht jetzt auch in seiner Verfassung verankern.
Einen ähnlichen Schritt will das EU-Parlament gehen: In einer Entschließung empfiehlt es, Artikel 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) der Charta der Grundrechte um den Zusatz „Jeder hat das Recht auf sichere und legale Abtreibung“ zu erweitern.
In der Resolution verurteilen die Parlamentarier:innen, dass viele Frauen in der EU „aufgrund der noch bestehenden rechtlichen, finanziellen, sozialen und praktischen Einschränkungen in einigen Mitgliedstaaten“ immer noch keinen Zugang zu Abtreibungsdiensten haben, und fordern die Mitgliedstaaten zugleich auf, Abtreibungen zu entkriminalisieren und Hindernisse für eine sichere und legale Abtreibung zu beseitigen. Denn derer gibt es genug.
Die rechtliche Lage in der EU
Die meisten Länder der EU erlauben Schwangerschaftsabbrüche auf Verlangen der Frau innerhalb des ersten Trimesters. Dass das Thema aber längst nicht so liberal gelöst ist, wie man annehmen möchte, zeigt ein Blick auf den European Abortion Policies Atlas. Darin wird der Umgang mit Abtreibungen anhand mehrerer Faktoren bewertet, etwa der Möglichkeit für einen sicheren und niederschwelligen Zugang, des Umfangs an gesetzlichen Hürden oder des Angebots an Information. Mit null von möglichen 100 Prozent ist Malta das am schlechtesten bewertete EU-Land. Abtreibungen sind dort ausnahmslos unter allen Umständen verboten – selbst wenn das Leben der Frau auf dem Spiel steht.
Ein ähnlich strenges Abtreibungsrecht hat in der EU nur Polen. Entgegen der weltweiten Tendenzen der vergangenen Jahrzehnte, Schwangerschaftsabbrüche zu legalisieren bzw. den Zugang für Frauen auszubauen und zu vereinfachen, hat das polnische Verfassungsgericht 2021 das davor bereits sehr strenge Abtreibungsgesetz noch weiter verschärft und fast alle bis dahin geltenden Ausnahmeregelungen aufgehoben. Zwar dürfen Abbrüche in Fällen von Vergewaltigung und Inzest sowie bei Gefahr für das Leben der Mutter auch jetzt noch durchgeführt werden – weil ihnen die rechtliche Lage zu unsicher ist, wollen viele Mediziner:innen in Polen den Eingriff aber selbst unter diesen Umständen nicht durchführen. Im vergangenen Jahr hat das zum Tod einer 30-Jährigen und daraufhin zu landesweiten Protesten geführt, Anfang diesen Jahres starb eine 37-jährige dreifache Mutter unter ähnlichen Umständen.
Ebenso verboten, aber weitestgehend straffrei sind Abtreibungen in Österreich, Deutschland, Griechenland, Rumänien und Zypern. Österreich und Deutschland gelten dabei als Länder, in denen „alte“ Gesetze zumindest in der Praxis vergleichsweise gut umgesetzt werden. Die Kriminalisierung, ein erschwerter Zugang oder dass die Kosten selbst getragen werden müssen, sind jedoch Gründe für die Platzierung im EU-Mittelfeld.
Am besten schneidet in diesem Ranking Schweden mit 94 Prozent ab, aber auch Finnland, Dänemark, die Niederlande und Frankreich erreichen Werte über 80 Prozent. Gemeinsamkeiten der Rechtslage in diesen Ländern sind etwa, dass Schwangerschaftsabbrüche als gewöhnliche Gesundheitsleistung betrachtet und von den Krankenkassen bezahlt werden, oder dass unnötige medizinische Vorgaben wie Bedenkzeiten (bis auf die Niederlande) nicht vorgesehen sind.
Steigender Druck von rechts und „oben“
Dass Schwangerschaftsabbrüche legal oder zumindest straffrei möglich sind, heißt jedoch nicht, dass sie auch problemlos zugänglich sind. Denn auch in Ländern mit progressiver Gesetzeslage werden Frauen teils zahlreiche Hindernisse in den Weg gelegt. Problematisch gestaltet sich in vielen Fällen etwa die Möglichkeit von Mediziner:innen auf „Verweigerung aus Gewissensgründen“, deretwegen sie die Durchführung des Eingriffs ablehnen können, wenn dieser im Widerspruch zu ihren moralischen oder religiösen Ansichten steht. Besonders in katholisch geprägten Ländern wie Portugal, Spanien, Italien oder Kroatien führt das oftmals dazu, dass Frauen ihr Recht auf Abtreibung verwehrt bleibt.
Der offene Brief einer Kroatin, der eine Abtreibung von vier Krankenhäusern verweigert wurde, machte im Frühjahr auf die absurde Schieflage aufmerksam. Im sechsten Schwangerschaftsmonat wurde ein tödlicher Gehirntumor beim Fötus der 39-Jährigen diagnostiziert. Bis zur 10. Woche sind Abbrüche in Kroatien legal, darüber hinaus auch in Ausnahmefällen wie eben einer schweren Fehlbildung des Fötus. Trotzdem ist es in Kroatien beinahe unmöglich, den Eingriff durchführen zu lassen, weil sich Ärzt:innen aus Gewissensgründen weigern – diese Möglichkeit haben sie seit einer Gesetzesänderung aus dem Jahr 2003. Der Fall der 39-jährigen wurde schließlich sogar von Gesundheitsminister Vili Beroš persönlich aufgegriffen. Er setzte eine Kommission ein, die den Fall bewerten sollte. Diese kam zu dem Schluss, dass die Abtreibung aus medizinischen Gründen gerechtfertigt sei – und sprach die Empfehlung aus, den Abbruch im Nachbarland Slowenien durchführen zu lassen.
In Italien ist die Situation besonders ernüchternd: Abtreibungen sind zwar innerhalb der ersten 90 Tage im ganzen Land legal, sieben von zehn Gynäkolog:innen weigern sich aber, diese durchzuführen. In Sizilien sind es laut Gesundheitsministerium gar 85 Prozent. Zudem werden Gesundheitsthemen auf regionaler Ebene bestimmt. Einige Regionen wie Umbrien oder Marken weigern sich schlicht, Richtlinien des Gesundheitsministeriums, wie jene aus dem Jahr 2020, die Frauen den Zugang zu medikamentösen Abbrüchen erleichtern soll, umzusetzen. Treibende Kraft dahinter ist – neben dem starken Einfluss der katholischen Kirche – die rechtsextreme Partei Fratelli d’Italia, die etwa im Piemont hinter einem 400.000 Euro schweren Fonds steht, der Frauen dafür bezahlen soll, ihre geplante Abtreibung abzusagen.
In Ungarn ist der Schwangerschaftsabbruch bis zur 14. Woche legal. In der 2012 in Kraft getretenen Verfassung ist jedoch der Schutz des menschlichen Lebens vom Moment der Empfängnis an festgeschrieben, was als De-facto-Verbot von Abtreibungen ausgelegt werden kann. Und auch die Unterzeichnung der Genfer Konsenserklärung aus dem Jahr 2020 wird als Angriff des rechtskonservativen Premiers Viktor Orbán auf die Regelung für Abtreibungen in Ungarn gesehen. Die Erklärung, die die „Erhaltung des menschlichen Lebens“ und die „Stärkung der Familie“ fordert, wurde neben Ungarn und Polen als einzigen EU-Staaten von 30 weiteren Ländern unterzeichnet, darunter die USA, Saudi-Arabien und der Sudan.
Zwischen Bevormundung und Einschüchterung
Auch medizinisch nicht notwendige Vorgaben wie eine vorgeschriebene Beratung oder eine mehrtägige Bedenkzeit zwischen der Beratung und der Durchführung des Abbruchs, wie sie es in vielen EU-Ländern gibt, stellen für die Betroffenen eine Bevormundung dar. Kein anderer medizinischer Vorgang wird so strikt reguliert.
Und nicht zuletzt haben Frauen, die sich für eine Abtreibung entschieden haben, mit Anfeindungen zu kämpfen, die Anti-Abtreibungs-Lobby ist – auch dank kirchlicher Finanzierung – in vielen Ländern lauter denn je. Anfang Juli gingen mehr als 100.000 Menschen in Madrid auf die Straße, um gegen ein liberaleres Abtreibungsgesetz zu demonstrieren. Die von der sozialistischen Regierung um Ministerpräsident Pedro Sanchez mittlerweile in Kraft getretene Reform umfasst unter anderem die Abschaffung der verpflichtenden dreitägigen Bedenkzeit vor einem Schwangerschaftsabbruch, zudem ist der Eingriff jetzt kostenlos in öffentlichen Krankenhäusern möglich, und Mädchen ab 16 Jahren dürfen auch ohne elterliche Zustimmung abtreiben. Weil die Proteste von Abtreibungsgegnern aber besonders auch in Spanien oft in regelrechte Angriffe auf Frauen umschlagen, wurden solche Belästigungen und Einschüchterungen dort jetzt unter Strafe gestellt.
Fundamentalisten vs. Frauenrechte
Der Zugang zu sicheren Abtreibungen ist in der EU nicht nur abhängig von der geltenden Gesetzeslage, sondern in erster Linie von den sozialen Gegebenheiten und der politischen Stimmung im Land. Dass es trotz gegenteiliger Meinung der Bevölkerung – weltweit sind 70 Prozent für ein Recht auf Abtreibung zumindest unter bestimmten Umständen – und entgegen des weltweiten Trends zu liberaleren Abtreibungsregelungen zu Rückschritten kommen kann, liegt meist am großen Einfluss der katholischen Kirche und dem Lobbying rechtskonservativer Gruppierungen.
Die Aufhebung des Urteils „Roe v. Wade“ zeigt nicht zuletzt, dass Frauen- und Menschenrechte auch in westlichen Demokratien nicht als gegeben hingenommen werden können, sondern ständig aufs Neue verteidigt werden müssen. Denn selbst gesetzlich festgeschriebene Rechte können verwehrt werden, wenn die Gesellschaft sich dazu entschließt, das hinzunehmen.