Adam Smith: Der unterschätzte Liberale
Adam Smith – ein Name, der für Kapitalismus steht. Und ein Name, der mit vielen Vorurteilen behaftet ist, die nicht stimmen. Für viele steht er stellvertretend für eine Art „Raubtierkapitalismus“, in dem der Staat sich zurückzieht und alles dem Markt überlassen wird. Aber das stimmt so nicht: Vielmehr war Smith ein sogenannter Ordoliberaler, der staatliche Eingriffe dort fordert, wo sie sinnvoll sind.
Denn Smith war nicht nur ein wichtiger Ökonom, sondern beschäftigte sich auch mit philosophischen und moralischen Fragen. Er beschäftigt sich nicht nur mit der berühmten „unsichtbaren Hand des Marktes“, sondern auch mit der sichtbaren Hand des Staates und damit, welche Aufgaben dieser einzunehmen habe. Heraus kommt kein Nachtwächterstaat, der sich nur auf Sicherheit und Eigentum beschränkt, sondern ein Staat, der wohl auch heute noch für viele Parteien Konsens wäre.
Wie Adam Smith zu seinem Ruf kommt
An und für sich ist Adam Smith auch ein Gründervater des Kapitalismus: Mit seinen volkswirtschaftlichen Werken zu Arbeitsteilung und Marktwirtschaft wurde er zu einem der wichtigsten Wirtschaftswissenschaftler aller Zeiten, wodurch ihm noch heute ein Platz in den Lehrbüchern sicher ist. Smith konnte herausarbeiten, warum der freie Markt eine gute Idee ist, die den Wohlstand für das Individuum und den Staat als Gesamtes steigern kann. Das sind wirtschaftliche Wahrheiten, die mittlerweile so fest verankert sind, dass selbst Karl Marx ihn als „zusammenfassenden politischen Ökonomen der Manufakturperiode“ bezeichnete.
Was Smith aber konkret sagt, ist nicht unbedingt das, was man als „turbokapitalistisch“ erwarten würde. Weder fordert er einen totalen Rückzug des Staates noch fordert er großartige Privatisierungen. In seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen“ erklärt er lediglich theoretisch, warum der Markt und das individuelle Verhalten der Menschen ein guter Weg sind, um viele Dinge im Leben zu regeln. Diese Einsicht kennen wir heute unter dem Begriff „unsichtbare Hand“.
Die unsichtbare Hand des Marktes
Mit diesem Begriff meint Smith das, was wir heute als Marktwirtschaft kennen: Die Summe unserer individuellen Handlungen, sowohl unserer Konsum-, als auch unserer Karriereentscheidungen, sorgt dafür, dass wir am Ende alle bekommen, was wir wollen. Dafür sorgt das Prinzip Arbeitsteilung: Wir müssen uns nicht mehr um jeden einzelnen Schritt in der Wertschöpfungskette kümmern, sondern machen nur einen Teil – und sparen uns sowohl individuell als auch als Gesellschaft die Mehrkosten dafür.
Nehmen wir etwa an, wir hätten kein arbeitsteiliges Prinzip. Wir müssten uns unser Essen selbst – je nach unserer Präferenz – anbauen, pflücken, aufziehen oder jagen, um es dann mühsam zu zerlegen, es möglicherweise zu konservieren und jedes Mal selbst zuzubereiten. Dadurch, dass jeder Schritt in dieser Wertschöpfungskette ein eigener Beruf ist, ersparen sich die allermeisten Menschen die gesamte Mühe. Sie tragen eine konkrete Aufgabe zur Gesellschaft bei. Das spart Kosten im Sinne von Geld, aber wir haben auch alle wesentlich mehr Zeit und sparen uns Mühen, die wir sonst jeden Tag hätten.
„Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass die ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“
Adam Smith
So folgen wir am Ende alle unseren eigenen Interessen und handeln doch gleichzeitig im Sinne des Gemeinwohls. Dafür müssen wir aber nicht einmal wissen, dass wir das tun – wir kennen nicht einmal das Endergebnis und die Konsequenzen unserer Entscheidungen. Diesen Prozess bezeichnet Smith als die „unsichtbare Hand des Marktes“: Wenn alle aus Selbstinteresse handeln und arbeitsteilig wirtschaften, drückt das nicht nur die Preise, sondern führt auch zu optimaler Entwicklung.
Und was heißt „optimale Entwicklung“? Vieles auf einmal. In Smiths Werk geht es auch um das Steigern des Bruttoinlandsprodukts (das damals noch nicht so genannt wurde), um die Steigerung des individuellen und allgemeinen Wohlstands. Aber auch darum, durch die Möglichkeit des internationalen Handelns einen guten Lebensstandard für alle zu ermöglichen – denn eine starke Volkswirtschaft, die viele und gute Produkte und Dienstleistungen anbietet, kann sich durch die damals noch junge Globalisierung umso mehr Vorteile erkaufen, die am Ende allen zugute kommen. So kommt Smith zu seiner berühmten „unsichtbaren Hand“:
„Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch diese so lenkt, dass ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten lässt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, dass das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch der eigene Betrag ist. […] Er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.“
Adam Smith
Verfechter der „öffentlichen Aufgaben“
Das ist das Prinzip des freien Markts, des freien Wettbewerbs, mit dem Adam Smith unmittelbar verbunden ist. Und es hat, ganz im Sinne des Buches, wirklich für mehr Wohlstand in den Nationen gesorgt, die diesem Prinzip gefolgt sind – nach wie vor sind marktwirtschaftliche Staaten nicht nur wirtschaftlich erfolgreicher, sondern in der Regel auch demokratischer. Aber dieses Bekenntnis zum Markt und zum Wettbewerb ist nicht absolut, es ist noch keine dogmatische politische Forderung.
Das führt uns zum nächsten Klischee, das Adam Smith und seiner Fangemeinde anhängt: Er habe eine Art „Nachtwächterstaat“ vertreten, in der sich der Staat lediglich auf den Schutz von Leben und Eigentum konzentrieren sollte. Diese Theorie kommt zwar in der liberalen Ideengeschichte durchaus vor – aber nicht bei Smith. Im Gegenteil: Wenn es um Bereiche wie Bildung, Gesundheit oder Infrastruktur geht, spricht Smith sogar dezidiert von „öffentlichen Aufgaben“.
Der Staat hat also nicht nur die Aufgabe, seine Bevölkerung zu schützen und die Rahmenbedingungen für Unternehmertum zu schaffen. Gewisse Güter müssten kollektiv organisiert sein, weil sie laut Smith „ihrer ganzen Natur nach niemals einen Ertrag abwerfen, der hoch genug für eine oder mehrere Privatpersonen sein könnte, um die anfallenden Kosten zu decken, weshalb man von ihnen nicht erwarten kann, dass diese Aufgaben übernehmen“.
Smith nimmt also an, dass ein Gesundheitssystem etwa nicht so gestaltet sein kann, dass es Gewinn abwirft und auf dem rationalen Selbstinteresse aller beruht. Zumindest nicht ohne seine öffentliche Aufgabe zu vernachlässigen – in Staaten, in denen man sich Krankenhausbesuche und Rettungstransporte persönlich leisten muss, kann man das Gegenmodell dazu beobachten. Eines, das oft als „turbokapitalistisch“ bezeichnet wird. Und mit Adam Smith nichts zu tun hat.
Diese Kernaufgaben lassen sich auf einige Bereiche zusammenfassen, die sich im Wesentlichen mit der liberalen Idee decken: Der Staat kümmert sich um die Landesverteidigung und den Schutz seiner Gesellschaft vor Ungerechtigkeit. Um Aufgaben, die von privater Seite nicht eingerichtet und unterhalten werden können, kümmert er sich selbst – also eben um öffentliche Güter wie Bildung und Gesundheit. Und er hat sich darum zu kümmern, dass freies Unternehmertum funktioniert, um die „unsichtbare Hand“ überhaupt möglich zu machen.
Die sichtbare Hand des Staates
Bis jetzt ist das alles nicht überraschend: Ein Kapitalist erklärt, warum freie Märkte gut sind. Interessant wird es aber, wenn Smith darüber spricht, was der Staat tun soll. Denn dieser hat nicht nur die Aufgabe, Eigentum und Leib und Leben zu schützen.
Und auch wirtschaftlich hat Smith einige Aufgaben für die sichtbare Hand des Staates: Er soll nicht nur Unternehmertum fördern und den freien Wettbewerb schützen – etwa durch die Verhinderung und Zerschlagung von Kartellen –, sondern erzwingt durch seine Institutionen die Einhaltung von Verträgen, reguliert Kreditzinsen. Unternehmungen, die zu riskant für den privaten Markt allein wären, werden von ihm gefördert, und durch seine Steuerpolitik setzt er Anreize für die ganze Wirtschaft. Von einem Rückzug des Staates kann also keine Rede sein: Er soll sich eben nur auf die Aufgaben beschränken, in der er wirklich bessere Ergebnisse als der Markt erzielen kann.
„Wirtschaftspolitik im Sinne des Schotten zielt auf die Schaffung eines Klimas ab, in dem individuelle Initiativen zwar grundsätzlich gefördert, aber auch behutsam in eine dem Ganzen förderliche, nicht schädliche Richtung gelenkt werden.“
Rolf Stelteheimer, Autor von „Liberalismus – Ideengeschichtliches Erbe und politische Realität einer Denkrichtung“
Aber die Wirtschaftspolitik ist nicht der einzige Bereich, in dem Smith besser als sein Klischee ist. Ein weiteres Vorurteil besagt, dass Adam Smith ein Vertreter der „Reichen“ sei. Auch das deckt sich nicht mit seinem Werk: Smith plädiert für eine Gesellschaft, in der alle Menschen die Chance zum sozialen Aufstieg haben. Geprägt ist das auch durch seine schottische Herkunft: Zu seiner Zeit war das Bildungssystem in Schottland deutlich egalitärer, und während in England noch die soziale Herkunft bestimmte, wie viel Bildung einem zustand, saßen Kinder aus „gutem“ und „schlechtem“ Hause zusammen im Klassenzimmer.
Daraus folgt für Smith auch der Wert des Staats: Eine Institution, die lediglich faire Spielregeln festlegt und einklagbar macht, sei im Interesse aller. Über die staatlichen Institutionen können die Armen ihre Rechte auch gegen die Reichsten und Mächtigsten einklagen. Von Rechtssicherheit profitieren auch die Reichen – aber auch durch den Schutz ihres Eigentums und die allgemeine Sicherheit, die durch diese Institutionen erfolgt.
Adam Smith und die Gerechtigkeit
Smith tritt also sowohl für staatliche Eingriffe als auch für die Armen ein – und ist damit ganz anders als das Klischee, das oft von ihm gezeichnet wird. Aber gerade in seinem Verständnis von Gerechtigkeit und seine Auffassung darüber, welche Aufgaben der Staat zu erfüllen hat, zeigen den Unterschied zwischen Liberalen und anderen Ideologien bis heute auf. Denn wo andere das Ziel der Chancengleichheit anstreben, geht es Smith um Chancengerechtigkeit. Es geht nicht darum, dass alle gleich viel haben, sondern darum, dass alle Menschen alle Chancen haben.
Gerechtigkeit ist bei Smith quasi ein Abwehrkampf und nicht etwas, auf das der Staat positiv hinarbeitet. Aufgabe der öffentlichen Hand ist es zu verhindern, dass Menschen geschadet wird. Der Schutz des Eigentums, der Sicherheit und der Gesundheit sind daher oberste Aufgaben des Staates. Aber es ist nicht die Aufgabe des Staates, auf die Ergebnisse zu schauen, auf das, was die Menschen aus ihrem Leben machen. Das zeigt sich im Schulsystem: Der Staat soll öffentliche Schulen einrichten, die unabhängig von Geld allen offen stehen. Was die Jugendlichen am Ende aus ihrer Schulzeit herausholen, ist aber ihnen überlassen: Der Staat wertet nicht, welche Karriere und welches Gehaltsniveau wünschenswert ist.
„Solange der einzelne nicht die Gesetze verletzt, lässt man ihm völlige Freiheit, damit er das eigene Interesse auf seiner Weise verfolgen kann und seinen Erwerbsfleiß und sein Kapital im Wettbewerb mit jedem anderen oder einem anderen Stand entwickeln oder einsetzen kann.“
Adam Smith
Insofern ist Smith zwar immer noch ein Kapitalist, aber kein Staatsgegner. Und auch kein Anhänger einer Klientelpolitik für die Besitzenden. Das macht seine Theorien, wirtschaftlich wie philosophisch, so interessant: Eine Politik, die in der Geschichte oft als „im Interesse der Reichen“ beschrieben wurde, führt zu besseren Resultaten für alle, unabhängig von ihrem wirtschaftlichen Hintergrund. Eine Erkenntnis, die sich noch heute in ökonomischen Debatten zeigt: Eine Senkung der Einkommensteuer bringt zwar in absoluten Zahlen mehr Ersparnis für reiche Menschen, aber in ihrem Alltag und in ihrer Lebensqualität profitieren gerade die Wenigerverdienenden davon. Diese Erkenntnis zeigt sich auch darin, dass kapitalistische Staaten bei der Armutsbekämpfung besonders erfolgreich sind.
Was von Adam Smith bleibt
All diese Ausführungen, politisch wie ökonomisch, sind heute in den Hintergrund getreten. Längst dominiert das Bild vom „Urvater des Kapitalismus“, der von Politik links und rechts der Mitte verunglimpft wird. Dabei hat Smith nicht nur für den freien Markt argumentiert, der für den Wohlstand sorgt, mit dem wir heute leben – sondern auch für einen Staat, der aktiv seinen Aufgaben nachkommt und Chancengerechtigkeit fördert. Wer Smith gelesen hat, wird Smith weniger kritisieren als jene, die ihn nur als Klischee kennenlernen.
Die Erkenntnisse des Schotten sind aber trotzdem immer noch in unserem Alltag präsent. Durch Arbeitsteilung, internationalen Handel und einen freien Markt ist unser Wohlstandslevel gestiegen. Auch, wenn das in Zeiten hoher Inflation zynisch klingen mag – aber der heutige Lebensstandard der Massen war früher maximal Adeligen vorbehalten. Die ständige Verfügbarkeit einer weiten Auswahl an Lebensmitteln, die Möglichkeit eines international vernetzten Handels, der Produkte weit über die Saison hinaus verfügbar macht, und technologische Innovation zählen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen, die nicht zuletzt auch auf Smiths „unsichtbare Hand“ zurückgehen.
Smith fällt damit in eine Reihe großer Liberaler, deren Werk heute derart unumstritten ist, dass man die bloße Existenz schon vergisst. Freier Handel und Arbeitsteilung sind längst ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens, genau wie gesellschaftspolitische Errungenschaften wie die Meinungs- und Pressefreiheit. Man muss Smith nicht kennen, um diese Vorteile zu genießen oder gut zu finden. Aber das Klischee vom bösartigen Turbokapitalisten hat er nicht verdient. Denn davon war Smith zeit seines Lebens weit entfernt.
Einen großen Teil seines Vermögens schenkte der Liberale übrigens Bedürftigen – was erklärt, warum bei seinem Begräbnis so viele Menschen waren, die man am letzten Weg eines Universitätsprofessors normalerweise nicht gesehen hätte.