Argentinien: Weltmeister im Geldausgeben
Es gibt zwei Dinge, in denen Argentinien besonders gut ist. Das eine ist Fußball: Argentinien ist dreifacher Weltmeister und wurde dreimal Zweiter. Das ist auch einer von zwei Gründen, warum das Land international in den Schlagzeilen landet. Auf Maradona und Messi ist die Bevölkerung zu Recht sehr stolz. Der zweite Grund ist aber eher ein unfreiwilliger.
Neben WM-Pokalen holt Argentinien vor allem eines ins Land: Angestellte des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die 22 Vereinbarungen des lateinamerikanischen Landes mit dem IWF sind unerreicht – und wahrscheinlich ein Rekord für die Ewigkeit. Daher überrascht es nicht, dass der amtierende Fußball-Weltmeister auch eine weltmeisterliche Inflation hat: rund 100 Prozent.
Das hat historische Gründe: Seit den 1960er Jahren reguliert Argentinien seine Volkswirtschaft durch einen Mix aus populistischer Ausgabenpolitik, wirtschaftlichen Interventionen und katastrophalen makroökonomischen Entscheidungen. Ein Blick in die Fehler der Vergangenheit – und ein Ausblick auf die Zukunft.
Messis Geburtsstadt als Gradmesser
Rosario, eine Stadt etwa 300 Kilometer nordwestlich von Buenos Aires, ist der Geburtsort von zwei der bekanntesten Argentiniern der Geschichte: Von dort stammen der Arzt und Revolutionär Ernesto „Che“ Guevara (Jahrgang 1927) und der siebenfache Weltfußballer Lionel Messi (Jahrgang 1987).
Als sich der junge Che auf seine niemals endende Reise durch Lateinamerika (und Afrika) machte, war Rosario eine reiche und durchaus industrialisierte Stadt. Insbesondere der Bundesstaat Santa Fe, in dem Rosario liegt, erlebte eine rasante industrielle Entwicklung: Die Stadt war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt und ist das Schifffahrtszentrum für das nordöstliche Argentinien. Nicht umsonst gab es gerade hier die höchste Rate an Autos in der südlichen Hemisphäre. Das war zu einer Zeit, in der Argentinien auf einem wirtschaftlichen Niveau gleichauf mit oder leicht vor anderen Einwanderungsländern wie Australien oder Kanada lag. Heute ist Rosario nicht ansatzweise mit Brisbane oder Vancouver vergleichbar.
Als Messi im Jahr 1987 zur Welt kam, war Rosario immer noch der Industrie-Hub samt Automobilindustrie, die in der Gegend blühte. Das argentinische General-Motors-Werk ist dort ansässig, genau wie der amerikanische Landmaschinen- und Motorenfabrikant John Deere. Heute aber liegt Argentinien auf Platz 144 im Ranking des Index für wirtschaftliche Freiheit – von 177. Ein Downfall, der vor allem auf einen Namen zurückgeht: Juan Domingo Perón.
Am Anfang stand der Perónismus
Den wirtschaftlichen Kurs der Perón-Jahre könnte man als „Ausgabenpopulismus“ zusammenfassen. Durch ein Ausmaß an Interventionen, die zu wiederum noch mehr Interventionen führen, bis sich die Interventionsspirale immer weiter drehte.
Der Außenhandel wurde reguliert, die bestehende Politik der Importsubstitution wurde vertieft, der Anteil des Handels am Bruttoinlandsprodukt ging weiter zurück. Die meisten einzelnen Schritte waren populär – der Gesamtmix aus interventionistischer Politik und Versuchen der Industrialisierung hinterließ aber unverwischbare Spuren in Argentiniens Politik und Wirtschaft.
Die Folgen beschränken sich nicht „nur“ auf eine Teuerungswelle zur damaligen Zeit – Peróns Interventionen waren trotz hoher Inflation beliebt. Fünfmal musste Argentinien in den letzten vier Jahrzehnten die Rückzahlung seiner Auslandsschulden aussetzen. Seit 1969 hat Argentinien fünfmal seine Währung gewechselt, ohne die Inflation nachhaltig zu bremsen. Im Jahr 2001 „gelang“ der größte Staatsbankrott der Geschichte – und aktuell versucht Argentinien, den größten IWF-Kredit aller Zeiten zurückzuzahlen.
Der teuflische Tango aus Populismus und Interventionismus
Zum wirtschaftlichen Chaos der 60er Jahre kam in den 70ern das politische Chaos. Zuerst wurde Perón durch einen Staatsstreich gestürzt, der zwar kurz orthodoxe Wirtschaftspolitik brachte, aber den zu hohen Preis – politische Freiheiten – einforderte. Zuerst wurde der Präsident verbannt, die linksgerichtete Guerilla-Gruppe der „Montoneros“ wurde durch das Militär verboten. Nach Jahren des Kampfes setzte sich Perón wieder durch: Das Verbot seiner Organisation wurde aufgehoben, als Präsident erhöhte er erneut die Reallöhne und orientierte sich am „fifty-fifty“: Die Arbeiter:innen sollten die Hälfte des BIP ausmachen.
Der Ölpreisschock führte zur nächsten Krise: Ein kompliziertes Netz von Preiskontrollen und mehreren Wechselkursen führte zu Engpässen und einem ausgedehnten Schwarzmarkt. Das Haushaltsdefizit wuchs, der Inflationsdruck konnte nicht mehr eingedämmt werden. Die folgende Preisanpassung war so einschneidend, dass sie sogar einen eigenen Namen bekam: „Rodrigazo“ beinhaltete eine Abwertung des Wechselkurses um 150 Prozent und eine Erhöhung des Kraftstoffpreises auf 180 Prozent. Als Folge schoss der Wert des Dollars sprunghaft an, die Preise verdoppelten sich in nur drei Monaten. Perón reagierte wieder mit Lohnerhöhungen – was die Inflation noch weiter ankurbelte.
1976 übernahm die Militärdiktatur die Macht in Argentinien. Der berüchtigte „schmutzige Krieg“, der über die ganze Zeit des Regimes andauerte, hinterließ tiefe Wunden – darunter tausende Menschen, die „verschwanden“, also ermordet wurden. Das Finale der Fußball-WM 1978 fand unweit einer Einrichtung statt, in der Menschen gefoltert wurden. Es scheint also, als würde für Argentinien vor allem eine Regel gelten: Auf ökonomische Interventionen folgt immer die militärische.
Chaos mit Folgen
Die Geschichte des Landes ist von Putschen geprägt: 1930, 1943, 1955, 1962, 1966 und 1976 übernahm das Militär die Macht. Die Wahl von 1989 war die erste seit über 60 Jahren, in denen ein ziviler Präsident die Macht an einen gewählten Nachfolger übergab. Wirtschaftspolitisch gab es zwischendurch zwar Phasen der Liberalisierung – aber der Interventionismus hat bis heute seine Anziehungskraft behalten. Heute ist etwa ein Drittel der argentinischen Wirtschaft wettbewerbsfähig, z.B. die Landwirtschaft, der Weinbau oder der Tourismus. Die anderen zwei Drittel sind es bis heute nicht.
Die Folgen sind nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich spürbar: Bis heute misstraut die argentinische Bevölkerung ihrer eigenen Währung, der US-Dollar spielt eine zentrale Rolle. In keinem Land der Welt werden pro Kopf mehr Dollar in bar gehortet als in Argentinien, Schätzungen gehen von rund 223,3 Milliarden US-Dollar außerhalb des nationalen Finanzsystems aus. Das entspricht etwa 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Andere sprechen sogar von vergrabenen und versteckten Dollar-Reserven in Höhe des gesamten BIP.
Eine Wirtschaft, zwei Währungen
Das führt dazu, dass es heute in Argentinien zwei Wechselkurse gibt: den „offiziellen“ und den inoffiziellen, echten Wechselkurs. Am 25. April erreichte der inoffizielle Wechselkurs 500 Pesos pro US-Dollar – der offizielle dagegen lag bei 222. Grund für diese komplexe Situation sind strenge Kapitalkontrollen, die den öffentlichen Zugang zum US-Dollar stark einschränken. Aber teilweise kommen die Unterschiede auch von der Regierung selbst: Agrar-Exporteur:innen, Finanzakteur:innen oder einfache Leute aus Argentinien, die ihre Kreditkarten im Ausland verwenden, bekamen etwa unterschiedliche Wechselkurse auferlegt.
Heute gibt es in Argentinien einen illegalen, aber sehr aktiven Markt, in dem Haushalte, Unternehmen und Investor:innen Dollar kaufen, um vor dem Hintergrund einer sehr hohen Inflation zu sparen, zu konsumieren oder zu investieren. Tatsächlich werden viele Transaktionen – von Immobilien bis zum Kauf von Technologieartikeln – in US-Dollar abgewickelt. Infolgedessen ist der inoffizielle Wechselkurs zu einem Barometer für die Gesundheit der argentinischen Wirtschaft geworden und wirkt sich gleichzeitig auf die Inflation aus, da Unternehmen und Haushalte ihre Erwartungen für die Preisentwicklung nur entsprechend den Schwankungen des illegalen Wechselkurses aktualisieren.
Währungskontrollen beschränken den Zugang der argentinischen Bevölkerung zur US-Währung zum offiziellen Kurs. Dadurch bleibt allen, die sparen wollen, aber auch vielen Unternehmen keine andere Möglichkeit als der Weg in die Schattenwirtschaft. Da der Dollar nur durch Exporte offiziell nach Argentinien kommen kann, haben Unternehmen Nachschubprobleme – denn wer nicht im Landwirtschaftssektor arbeitet, muss das meiste importieren. Dieser Nachschub kommt nur teilweise an, nicht selten bleiben Produkte monatelang im Zoll hängen.
In Argentinien ist also eine „bimonetäre Wirtschaft“ entstanden: Das Gehalt kommt in Pesos und dient dem täglichen Konsum, größere Transaktionen werden mit dem US-Dollar abgewickelt. Seit August 2022 hat das argentinische Finanzministerium die Importe massiv reduziert, um die wenigen Devisen im Land zu halten. Aber das kennt die Bevölkerung schon. Hält dieser Trend noch lange an, wird der Schwarzmarkt blühen – und damit auch der Schmuggel. Vermutlich über Paraguay.
Nächstes Dilemma vor dem Wahltag
Am 22. Oktober wird Argentinien wieder wählen. Und je näher der Wahltag rückt, desto mehr Schwierigkeiten wird die Koalition haben, die Inflation zu bekämpfen. Natürlich wird die Regierung in einem Wahljahr davon absehen, die Ausgaben für Sozialprogramme und Subventionen für Energie und öffentlichen Verkehr zu kürzen – sondern sie eher vor der Wahl erhöhen, um die eigene Popularität zu verbessern. Das bedeutet, dass die hohen öffentlichen Ausgaben (die zur Inflation beitragen) anhalten werden. Und dass das Risiko einer Hyperinflation in den Monaten vor den Präsidentschaftswahlen steigt.
Wir halten also fest: Die argentinische Bevölkerung hat weder Vertrauen in die Problemlösung ihres politischen Systems noch in die Stabilität der eigenen Währung. Dadurch wird die Regierung umso handlungsunfähiger, Negativspiralen verstärken sich. Ohne Vertrauen kann die Politik die Menschen auch nicht mehr davon überzeugen, dass es besser wird – aber nur so gäbe es Gründe, die Dollarverstecke aufzulösen und den Peso zu stützen.
Das alles kann man als komplexe politische Situation beschreiben, aus der es keinen einfachen Ausweg gibt. Oder als Bilderbuchbeispiel dafür, was populistische Interventionen in der Wirtschaftspolitik anrichten können.