Bildung: Was Österreich von Finnland lernen kann
Wenn man in Österreich über das Bildungswesen spricht, dann oft über dessen Reformbedarf.
Diesen kann man nicht nur an Erzählungen abschätzen – jede:r kennt Geschichten, dass jemand einfach „Glück“ und eine engagierte Lehrkraft hatte. Man kann den Reformbedarf auch an diversen Kennzahlen ablesen, z.B. aus der PISA-Studie, in der Österreich eher durchschnittlich abschneidet. Finnland ist dagegen in den Kategorien Reading und Science – verstanden als die Fähigkeit, logische Schlussfolgerungen zu ziehen und Probleme zu lösen – unter den besten in Europa. Nur in Mathematik ist Österreich besser, um einen Platz.
Laut dem Better Life Index der OECD erzielen Schüler:innen aus Ländern wie Estland, Kanada und eben auch Finnland gute Ergebnisse auch unabhängig vom sozialen Hintergrund. In Österreich dagegen spielen oft immer noch Einkommen und Bildungsniveau der Eltern eine Rolle dabei, wie gut ihre Kinder später in der Schule sein werden. Bildung wird „vererbt“.
Werfen wir also einen Blick darauf, was Finnland als Bildungs-Musterland im Bildungsbereich anders macht, und was Österreich davon lernen kann.
1. Der Lehrplan
2016 geisterte die Nachricht durchs Netz, dass Finnland „die Schulfächer abschafft“. Das ist so nicht ganz korrekt, aber zeigt schon, dass dort etwas anders gemacht wird: Finnland setzt nämlich, anders als Österreich, auf fächerübergreifenden Unterricht und allgemeine Kompetenzen. Diese werden definiert als:
- Denken und Lernen lernen
- Kulturelle Kompetenz, Interaktion und sich selbst ausdrücken
- Für sich selbst sorgen und das tägliche Leben bewältigen
- Mehrsprachigkeit
- Informations- und Kommunikationstechnologie
- Kompetenz im Arbeitsleben und Unternehmertum
- Partizipation, Engagement und Aufbau einer nachhaltigen Zukunft
„Phänomen-basiert“ nennt man das, etwas lose übersetzt. Dieser Ansatz kommt aus der Theorie des Konstruktivismus, die besagt, dass Lernende ihr Wissen durch erstens ihre Erfahrungen und zweitens in Zusammenarbeit mit anderen produzieren. Quasi das Gegenteil vom Frontalunterricht, bei dem eine Lehrkraft einer mehr oder weniger interessierten Klasse erzählt, wie die Welt ist.
Finnland setzt also auf eine andere Art von Lehrplan und trennt die Fächer nicht mehr so klar ab, wie das in Österreich getan wird. Trotzdem gibt es nach wie vor Schulfächer. Der finnische Ansatz arbeitet aber damit, dass sich Schüler:innen selbst mit den Themen befassen können, und das ohne künstliche Fächergrenzen, die alle 50 Minuten abrupt abgebrochen werden.
2. Der Unterricht
Was heißt das konkret? Schüler:innen lernen über sogenannte multidisziplinäre Lernmodule und arbeiten viel projektbasierter als in Österreich. Wenn z.B. die Europäische Union Thema ist, kann man nicht nur ihre Geschichte behandeln, sondern in Kunst und Musik europäische Werke besprechen, im Fach Politische Bildung die Institutionen der EU besser kennenlernen und im Fach Finnisch Literatur besprechen, die wesentlich für den europäischen Gedanken ist. Das geht bis zur angewandten Mathematik, die sich mit der Politik der EZB befassen kann. Der Fächerkanon setzt kaum Grenzen.
Um die oben angeführten Kompetenzen zu erarbeiten, werden Themen in mehreren Fächern behandelt. Dabei wird in Gruppen oder allein gearbeitet, die Schüler:innen können das selbst entscheiden und ihr eigenes Tempo wählen.
Aber wenn die Kinder nur machen, was sie wollen, wie bewertet man die Leistung? Teilweise funktioniert das über die Selbsteinschätzung der Schüler:innen – Lehrkräfte geben ihnen Feedback und haben die Aufgabe, nicht nur Schwächen auszubessern, sondern auch die Stärken der Schüler:innen zu fördern.
Wer in Finnland in die Schule geht, hat also mehr Freiheit über die eigene Ausbildung als in Österreich. Der finnische Bildungsausschuss schreibt dazu:
The foremost task of assessment is to guide and encourage the pupil. Pupils are not compared to each other. Instead, pupils are guided to reflect on their own learning against the objectives. The teachers help the pupils understand the objectives and recognise their own strengths and development needs. The teachers provide opportunities for the pupils to develop their skills for self-assessment and peer assessment so that they can both give and receive constructive feedback. Assessment supports the pupils as life-long learners.
Dieses Zitat führt uns zum nächsten wichtigen Unterschied zwischen Österreich und Finnland.
3. Die Lehrkräfte
Ein großer Unterschied in der Lehrer:innenausbildung ist, dass sie in Finnland selektiver ist. Für die Grundschulen werden weniger als 10 Prozent der Berufsanwärter:innen auch wirklich zum Beruf zugelassen. Auch der Inhalt des Studiums ist anders: In Finnland werden Lehrer:innen in Form von fünfjährigen Masterstudiengängen ausgebildet.
Das heißt aber nicht, dass man nach einem Hochschulabschluss „fertige Lehrkraft“ ist – es gibt auch vielfältige Weiterbildungsangebote. Das finnische Bildungsministerium erarbeitet mehrere Pilotprojekte, die im Sinne der Bildungsforschung ausprobiert werden.
Dazu kommt, dass Lehrkräfte in Finnland ein ganz anderes Berufsbild haben. Sie sind die Hauptansprechpartner:innen für die Bildung der Kinder – und nicht Befehlsempfänger:innen der Politik, die umsetzen, was in Ministerien abstrakt beschlossen wird. Grund ist die Schulautonomie, die im Norden viel stärker ausgeprägt ist.
4. Die Schulautonomie
Dieser Begriff bedeutet nicht nur, dass Schulen ein Mitspracherecht haben, wie und was sie unterrichten: Lehrkräfte können ihren Unterricht tatsächlich frei gestalten und sogar die Inhalte wählen. Wo in Österreich die Eigeninitiative engagierter Lehrer:innen gebraucht wird, um auf veraltete Informationen in Schulbüchern hinzuweisen, müssen ihre finnischen Pendants überhaupt nicht in diese Situation kommen – sie beurteilen selbst, welche Art der Themenvermittlung die beste ist.
So kann man auch auf lokale Gegebenheiten eingehen, und es gibt einen echten Wettbewerb in Sachen Bildung. Wer die Möglichkeit hat, schickt ihre/seine Kinder in eine der besten Schulen. Das heißt aber nicht, dass schlechte Schulen schlecht bleiben – durch den Wettbewerb haben sie einen Anreiz, ihre eigenen Fehler anzugehen, sich neue Konzepte zu überlegen und junge Lehrkräfte anzustellen, die interessante Ansätze verfolgen. Diese sind gut ausgebildet und im ganzen Land verfügbar. So ist davon auszugehen, dass die „schlechten“ finnischen Schulen besser sind als die „schlechten“ österreichischen Schulen, die meist auf Basis der Alternativlosigkeit durch den Wohnort keinen Anreiz haben, sich zu verbessern.
Finnland zeigt, was möglich wäre
Wenn unsere Politik einen Blick auf Finnland wirft, könnte also vieles besser werden. Österreich könnte nicht nur bessere Ergebnisse in den PISA-Studien erzielen – diese sind ja kein Selbstzweck –, sondern auch die Kompetenzen der Schüler:innen so stark verbessern, dass sie wirklich fürs Leben lernen, anstatt nur für die nächsten Tests. Österreich könnte ein Land sein, in dem Lehrer:innen nicht nur gut ausgebildet, sondern auch flächendeckend verfügbar sind.
Dafür braucht es aber auch ein anderes Bild von Bildung. Wir könnten als Gesellschaft schon heute damit anfangen, dem Lehrberuf die Wertschätzung zu geben, die er verdient, und einen Diskurs darüber beginnen, welche Kompetenzen die Schule in Zukunft vermitteln soll und was es dafür bräuchte. Von alleine wird es nicht gehen – aber Finnland zeigt, dass sich engagierte Reformen bezahlt machen können.