Bosnien-Herzegowina: Zwischen EU-Annäherung und Putin-Freundschaft
Ein ausländischer Journalist fragte einst einen bosnischen Politiker, wer der bosnische Präsident sei. Der Politiker fing an zu lachen und meinte, es gebe zu viele, um sie beim Namen zu nennen. Dieser Witz gibt einen Einblick in die politische Situation in Bosnien und Herzegowina.
In den Jugoslawien-Kriegen versuchte sich die Führung des Landes neutral zu verhalten, um Eskalationen zu vermeiden – immerhin war die Bevölkerung schon damals ethnisch heterogen. Als sich Kroatien und Slowenien für unabhängig erklärten, erfasste der Krieg auch Bosnien und Herzegowina: Die Bosniaken – Bosnier mit islamischem Glaubensbekenntnis – strebten ein unabhängiges Bosnien an, für die bosnischen Serben hingegen kam eine Unabhängigkeit nicht infrage. Daher bereiteten die serbischen Politiker Radovan Karadžić und Slobodan Milošević eine gewaltsame Übernahme des bosnischen Staatsgebiets vor. Doch sie waren nicht alleine: Auch Kroatien beanspruchte einige bosnisch-kroatische Gebiete für sich.
Der Jugoslawien-Krieg endete 1995 mit dem Abkommen von Dayton. Es ist nicht nur ein Friedensvertrag, sondern zugleich die bosnisch-herzegowinische Verfassung, die bis heute gilt und ein Land prägt, das unter zahlreichen Ineffizienzen leidet.
Bosnien und Herzegowina: Ein komplexes System
Mit dem Vertrag von Dayton gingen Kriegshandlungen zu Ende, trotzdem gibt es noch viele Probleme in Bosnien und Herzegowina. Das Abkommen teilte das Land in politischen und ethnischen Kategorien auf. Und der heutige bosnisch-herzegowinische Staat ist stark dezentralisiert. Der Bundesstaat ist nur für Asyl-, Finanz-/Geld-, Außen- und Verteidigungspolitik zuständig – die restlichen politischen Kompetenzen liegen in der Hand der sogenannten „Entitäten“, den ethnisch homogenen Regionen. Bosnien und Herzegowina besteht aus zwei solcher Entitäten und einer Sonderverwaltungszone. Entitäten sind de facto autonome Landesteile.
Die Bosniaken teilen sich mit den bosnischen Kroaten die Föderation Bosnien und Herzegowina. Dieser Teil ist sehr dezentral organisiert: Er besteht nämlich aus zehn Kantonen, die ihre eigenen Parlamente und Regierungen haben. Gerade wichtige Themen wie Bildung und Kultur werden von den Kantonen an die Gemeinden abgegeben, was politisch gravierende Konsequenzen hat. Denn diese verfügen über geringe finanzielle Mittel – ihnen ist es unmöglich, gute Bildung für jedes Kind anzubieten. Insgesamt führt diese Politik zu einer ineffizienten Kompetenzverteilung, weil sich viele Institutionen doppeln. Die Gemeinde Mostar verfügt heute z.B. über zwei Feuerwehren – eine von der Gemeinde, eine vom Kanton.
Die Föderation Bosnien und Herzegowina besitzt unter anderem auf Entitätsebene ein Zweikammern-Parlament. In der anderen Entität, der Republika Srpska, leben die bosnischen Serben. Im Gegensatz zur Föderation ist die serbische Entität zentral organisiert: Alles wird aus der Hauptstadt Banja Luka entschieden. Und dann gibt es noch die Sonderverwaltungszone: den Distrikt Brčko. Dieser Teil wurde keiner Entität zugeordnet und war im Krieg umkämpft, aber keine Kriegspartei konnte diesen Teil für sich beanspruchen.
Der Bundesstaat Bosnien und Herzegowina verfügt über zwei parlamentarische Kammern: Die 1. Kammer ist das Repräsentantenhaus und besteht aus 42 Mitgliedern. Die 2. Kammer ist das Haus der Völker, in dem 15 Abgeordnete bestellt sind, bei der jeweils fünf die alten Kriegsparteien repräsentieren. Jede Volksgruppe verfügt im Haus der Völker über ein absolutes Vetorecht. Somit kommt es leicht zu einem legislativen Stillstand, weil eine ethnische Gruppe ihr Veto einlegen kann.
Wer den Staat reformieren will, beißt sich an diesem System die Zähne aus. Auf Österreich umgelegt: Wenn eine Partei im Nationalrat und Bundesrat die absolute Mehrheit hätte, könnte sie trotzdem nichts umsetzen, wenn sich auch nur eines der Bundesländer dagegen entscheidet. Gerade ambitionierte Reformen sind in diesem System so gut wie unmöglich.
Dayton prägt noch heute die Politik
Das Abkommen von Dayton sieht in allen politischen Institutionen, bis auf die Nationalbank, eine Verteilung der Volksgruppen vor. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die bosnische Innenpolitik, bei der in jeder bundesstaatlichen Institution, vom Verfassungsgericht bis hin zum Regierungskabinett, nach ethnischen Kategorien besetzt wird. Das bedeutet auch, dass die Präsidentschaft in Bosnien und Herzegowina aus drei Amtsträgern besteht. Sie vertreten jeweils ihre eigene Volksgruppe. Das dreiköpfige Staatspräsidium wechselt den Vorsitz alle acht Monate. Zusätzlich verfügt jeder Präsident über ein Vetorecht und kann wie das Haus der Völker Gesetze blockieren.
Die bosnische Innenpolitik hat eine weitere Besonderheit, und zwar das Amt des Hohen Vertreters. Diese Person wird von der internationalen Gemeinschaft bestellt und ist quasi eine „Schattenregierung“ ohne Legitimität der bosnischen Bevölkerung. Christian Schmidt, der ehemalige deutsche Minister für Landwirtschaft, bekleidet dieses Amt seit August 2021. Seine Kompetenzen sind weitreichend: Er kann Gesetze eigenhändig erlassen, Politiker des Amtes entheben und vieles mehr. Das Amt wurde geschaffen, um das Dayton-Abkommen zu schützen. Doch das Amt gerät bei der bosnischen Bevölkerung immer mehr in Verruf, da es weder eine demokratische Legitimität noch eine Kontrolle über den Amtsträger gibt.
Politikwissenschaftler bezeichnen Bosnien und Herzegowina als Staat mit einem der kompliziertesten politischen Systeme der Welt. Das machen sich die einzelnen Wortführer der ethnischen Gruppen zunutze, indem sie das Abkommen von Dayton als ihre Bühne für Nationalismus und Korruption sehen. Jede Ethnie arbeitet für sich, wodurch weder Frieden noch Einheit gefördert werden.
Zwischen Europäischer Integration und Putin-Freundschaft
Bosnien und Herzegowina wurde einige Jahre nach dem Krieg die Mitgliedschaft der Europäischen Union in Aussicht gestellt, 2016 reichte das Land seinen Antrag zum Beitritt ein. Die EU ist der Ansicht, dass der Staat nicht genügend Reformen umgesetzt hat, um überhaupt den Kandidatenstatus zu erhalten. Mit dem Kandidatenstatus der Ukraine öffnete sich dennoch die Diskussion, ob man nicht auch Bosnien und Herzegowina den Status gewähren sollte.
Ein großes Hindernis für die europäische Annäherung stellt die Politik der bosnischen Serben dar. Aufgrund der Nähe zum Kreml blockieren hochrangige bosnisch-serbische Politiker Gesetzesinitiativen, die das Land Richtung EU und Wohlstand führen könnten. Noch heute hat Bosnien und Herzegowina den Kosovo nicht als unabhängigen Staat anerkannt, was auch innerhalb der Balkanregion kritisch betrachtet wird.
Putin nutzt dieses System in Bosnien und Herzegowina aus: Insbesondere Milorad Dodik, einer der Präsidenten von Bosnien und Herzegowina, ist einer der engsten Verbündeten des Kremls in der Region. Kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine solidarisierte sich Dodik mit Putin und hält den Krieg für gerechtfertigt. Er fordert, dass der Gesamtstaat Bosnien eine neutrale Rolle einnehmen müsse. Im Gegenzug hilft Russland den Gesamtstaat zu destabilisieren und provoziert dadurch einen erneuten bewaffneten Konflikt.
In der Republika Srpska herrschen lange Separationswünsche vom Bundesstaat, natürlich mit russischer Unterstützung. Doch Destabilisierungsprozesse kommen nicht nur aus Russland, sondern auch aus Österreich. Der ehemalige Vizekanzler Heinz-Christian Strache stellte mehr als einmal den Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina infrage und reihte sich als weiterer Brandstifter im Balkan-Raum ein.
Durch das politische System tut sich das Land nicht nur auf europäischer, sondern auch auf internationaler Ebene schwer. Bosnien und Herzegowina ist seit 2010 NATO-Beitrittskandidat. Viele Bosnier, insbesondere Bosniaken, sehen in der NATO einen Garant für die Sicherheit, da durch die militärische Intervention der NATO im Jahr 1995 die bosnischen Serben an den Verhandlungstisch gezwungen wurden – was später eben zum Dayton-Abkommen führte. Dennoch ist der Beitritt in die NATO unrealistisch, weil die bosnischen Serben den Prozess verhindern.
Liberale Hoffnungsträger in Bosnien und Herzegowina
Bosnien und Herzegowina leidet nicht nur unter seinem komplexen politischen System, sondern auch unter äußeren Einflüssen, z.B. durch Russland. Viele Menschen verlassen das Land in Richtung Westen, alleine in Österreich gibt es über 80.000 bosnische Staatsbürger. Es wird zwar nicht mehr geschossen – aber der jetzige Zustand des Landes kann nur schwer als Frieden bezeichnet werden.
Eine politische Bewegung will diesen Trend stoppen: Die Naša Stranka („Unsere Partei“) ist eine liberale Bewegung, die sich als probosnisch definiert. Auf Europa-Ebene ist sie Teil der europäischen Fraktion der Liberalen und Demokraten. Bei den kantonalen Wahlen im Jahr 2018 konnte die Naša Stranka 13,02 Prozent erreichen. Dieses Resultat ermöglichte ihr als Senior-Partner, eine sozial-liberale Koalition zu bilden. Das ist sehr ungewöhnlich für Bosnien, da in dieser Regierung keine nationalistischen Parteien vertreten sind. Im Hinblick auf die Parlamentswahlen auf gesamtstaatlicher Ebene im Herbst könnte das einen politischen Erdrutsch in Bosnien und Herzegowina auslösen – zum Nachteil der Nationalisten.
Trotzdem gibt es nur wenig Anlass für zu großen Optimismus, denn durch das politische System kann die Politik nur schwer Reformen umsetzen. Es gibt schlicht zu viele Veto-Möglichkeiten. Die Macht der Nationalisten mag also bröckeln. Aber solange das Abkommen von Dayton den politischen Ton angibt, wird es ohne Verfassungsänderungen extrem schwierig, etwas zu verändern. Bis dahin bleibt Bosnien und Herzegowina ein Staat, der kaum optimistische Zukunftsperspektiven zulässt.