Brüsseler Daumenschrauben: Das EU-Defizitverfahren und seine Folgen
Der Tag der Entscheidung rückt näher: Am 21. Jänner treffen sich die EU-Finanzminister in Brüssel. Auf der Tagesordnung des Rats für Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN) steht die Entscheidung des Rats, ob über Österreich ein Defizit-Verfahren eröffnet wird. Das bedeutet, dass die Koalitionsverhandler:innen bereits in den kommenden Tagen ein ausverhandeltes Sparpaket an Brüssel übermitteln müssen. FPÖ und ÖVP wollen ein EU-Defizitverfahren abwenden und – wie bereits SPÖ, ÖVP und NEOS – das Budget über einen siebenjährigen Zeitraum hinweg sanieren. Für 2025 kündigten FPÖ und ÖVP bereits Einsparungen in Höhe von 6,3 Milliarden Euro an.
Österreichs miserable Budgetzahlen für 2024 und 2025 riefen Ende vergangenen Jahres die Europäische Kommission (EK) auf den Plan. Diese empfahl daraufhin die Einleitung eines Verfahrens wegen übermäßigem Defizit (ÜD). In acht weiteren EU-Mitgliedstaaten laufen bereits Defizitverfahren: Belgien, Frankreich, Italien, Ungarn, Malta, Polen, Slowakei und Bulgarien. Finnlands Regierung, über der wie in Österreich zuletzt das Damoklesschwert eines ÜD-Verfahrens schwebte, konnte das Verfahren mit soliden Budgetdaten vorerst noch abwenden. Auch Österreich hat derzeit noch die Möglichkeit, vor einer Entscheidung des Rats am 21. Jänner ein glaubwürdiges und detailliertes Konsolidierungspaket für 2025 vorzulegen, um einem drohenden Verfahren zu entgehen.
Wann kommt es zu einem EU-Verfahren wegen übermäßigem Defizit?
Die EU-Mitgliedstaaten verpflichten sich im Rahmen der EU-Verträge zu einer soliden Haushaltsführung und einer Koordinierung ihrer Haushaltspolitik. Infolge der COVID-Krise wurden die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts reformiert. Im seit Mai 2024 geltenden neuen EU-Fiskalregelwerk bleiben zentrale Elemente des bisherigen Stabilitäts- und Wachstumspakts erhalten, insbesondere die 3-Prozent-Grenze für das gesamtstaatliche öffentliche Defizit und die 60-Prozent-Grenze für die öffentliche Schuldenquote.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt umfasst einen präventiven und einen korrektiven Arm. Während der präventive Arm sicherstellen soll, dass Mitgliedstaaten die Defizit- und Schuldengrenzwerte einhalten, greift der korrektive Arm (ein Defizit-Verfahren) dann, wenn diese Kriterien nicht erfüllt werden.
Die Vorgaben rund um das Schuldenquoten-Kriterium stellen auf die sogenannte Schuldentragfähigkeit ab, also die Fähigkeit eines Staates, die Schuldenquote innerhalb eines gewissen Zeitraums verlässlich in Richtung 60 Prozent abzusenken. Österreich hat mit Stand Dezember 2024 eine Schuldenquote von 80,1 Prozent des BIP, die ohne Gegensteuern in den kommenden Jahren weiter auf 86,6 Prozent (2029) steigen wird.
Österreich darf daher zur Sicherung der Schuldentragfähigkeit sein Ausgabenwachstum (gemessen an den sogenannten Nettoprimärausgaben) nur um einen gewissen Wert ansteigen lassen. Hier wurde Österreich von der EK für einen Zeitraum von vier bis sieben Jahren („Anpassungszeitraum“) ein Referenzpfad vorgegeben. Hält sich der Mitgliedstaat an die Vorgaben des EK-Referenzpfads, erzielt er am Ende des Anpassungszeitraums einen Budgetsaldo, der die Schuldentragfähigkeit für die Jahre nach dem Anpassungszeitraum sicherstellt.
Was genau passiert bei einem Verfahren wegen übermäßigem Defizit (defizit-basiertes Verfahren)?
Das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit ist Schritt für Schritt in Artikel 126 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beschrieben. Beschließt der ECOFIN-Rat die Eröffnung eines Defizitverfahrens, muss die Kommission dem Rat Vorschläge für Empfehlungen an den betreffenden Mitgliedstaaten vorlegen, die der Rat per Beschluss annehmen muss. Diese Empfehlungen richten sich an die betroffene Regierung und werden grundsätzlich nicht veröffentlicht. Sie enthalten Fristen, innerhalb derer wirksame Maßnahmen gesetzt werden müssen, sowie einen Korrekturpfad, mit dem das Defizit unter den Referenzwert gesenkt werden muss. Die EK überprüft die gesetzten Maßnahmen, zum Beispiel auch in regelmäßigen Vor-Ort-Treffen der EK beim Mitgliedstaat. Ignoriert der betroffene Mitgliedstaat die Empfehlungen des Rats und setzt keine geeigneten Maßnahmen, kann der Rat seine Empfehlungen öffentlich machen. Bei einem hartnäckigen Verfehlen der EK-Vorgaben drohen dem Mitgliedsstaat gemäß Artikel 126 Absatz 11 AEUV Strafzahlungen, die Pflicht zur Hinterlegung einer unverzinslichen Einlage bei der EU, weitere Veröffentlichungspflichten und eine ungünstigere Darlehenspolitik durch die Europäische Investitionsbank. Kann der Mitgliedstaat sein Defizit auf unter 3 Prozent reduzieren, wird auch das Verfahren wegen übermäßigem Defizit eingestellt.
Warum empfiehlt die Kommission aktuell ein Defizit-Verfahren für Österreich?
Österreich verstößt derzeit gegen das in den EU-Verträgen vorgesehene 3-Prozent-Defizit-Kriterium: Die für die Empfehlung der Europäischen Kommission relevante EK-Herbst-Konjunkturprognose geht für Österreich von einem gesamtstaatlichen Maastricht-Defizit von 3,6 Prozent des BIP für 2024 und 3,7 Prozent des BIP für 2025 aus. Da Österreich damit die 3-Prozent-Defizit-Grenze nicht nur ausnahmsweise, vorübergehend und geringfügig überschreitet, muss die EK dem Europäischen Rat die Einleitung eines Defizit-Verfahrens empfehlen. Die Dezember-Prognose des Österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) ist sogar noch pessimistischer und rechnet – ohne Gegensteuern – für 2025 sogar mit einem gesamtstaatlichen Defizit von 4,2 Prozent des BIP für 2025.
Wieviel muss Österreich tatsächlich sparen – und wie lang?
Will Österreich ein EU-Defizitverfahren vermeiden, muss in der kommenden Legislaturperiode sehr stark konsolidiert werden. In diesem Fall müssen die Vorgaben des präventiven Arms der Stabilitätspakts erfüllt werden. In diesem Szenario muss Österreich zwischen 18,1 Milliarden Euro (7-jähriger Konsolidierungszeitraum bis 2031) und 24,1 Milliarden Euro (4-jähriger Konsolidierungszeitraum bis 2028) einsparen. Bei einem 7-jährigen Anpassungszeitraum würde der Konsolidierungsbedarf nicht nur über einen längeren Zeitraum gestreckt werden, sondern würde auch insgesamt niedriger ausfallen. Damit Mitgliedstaaten einen längeren Anpassungszeitraum in Anspruch nehmen können, müssen sie jedoch ein resilienz- und wachstumsförderndes Reform- und Investitionspaket vorlegen und umsetzen. Ob Österreich tatsächlich einen 7-jährigen Konsolidierungszeitraum in Anspruch nehmen darf, entscheidet letztlich der Rat.
Bei einem Verfahren wegen übermäßigem Defizit muss Österreich ebenfalls konsolidieren, um sein Defizit wieder unter die Grenze von 3 Prozent des BIP zu bringen. Der Konsolidierungsbedarf in diesem Fall: Kumulativ 14,8 Milliarden Euro im Falle eines 4-jährigen Konsolidierungszeitraums, beziehungsweise 18,4 Milliarden Euro im Rahmen eines 7-jährigen Konsolidierungszeitraums. Die unterschiedlichen Einsparvolumina mit und ohne ÜD-Verfahren ergeben sich aus dem neuen komplexen Fiskalregelwerk und der aktuellen österreichischen Datenlage.
Wie könnte ein Konsolidierungsplan ausschauen?
Der Fiskalrat empfahl in seinem Bericht über die Einhaltung der Fiskalregeln bereits im Juni des vergangenen Jahres die Erarbeitung eines ausgaben- und einnahmenseitigen Konsolidierungsplans. Er verwies dort auf die Ergebnisse empirischer Studien, dass ausgabenseitige Konsolidierungsmaßnahmen budgetär nachhaltiger wirken. Oder anders: Ausgaben zu streichen führt zu einer dauerhafteren budgetären Entlastung als bestehende Steuern zu erhöhen oder neue Steuern einzuführen. Für ein Sparen bei den staatlichen Ausgaben spricht zudem, dass Österreich bereits eine – auch im internationalen Vergleich – sehr hohe Abgabenquote hat, die durch einnahmenseitige Konsolidierungsmaßnahmen weiter in die Höhe getrieben würde.
Gegensteuern bei staatlichen Ausgaben notwendig
Die Staatsausgaben sind über die letzten Jahre stark gestiegen und haben somit wesentlich zur derzeitigen Budgetmisere beigetragen. Ohne Gegensteuern steigt die Staatsausgabenquote von durchschnittlich 51,1 Prozent für die Jahre 2010–19 bis 2026 auf 55 Prozent des BIP – bei gleichzeitig stagnierender Staatseinnahmenquote (50,8 %).
Verantwortlich für den Ausgabenanstieg sind unter anderem die höheren Ausgaben im Förderwesen, in das gesamtstaatlich in den Jahren 2023 und 2024 im Schnitt 6,5 Prozent des BIPs fließen. In den Jahren 2008–2019 waren es im Schnitt nur 5,4 Prozent. Dieser eine BIP-Prozentpunkt mehr bedeutet rund 5 Milliarden Euro zusätzlich staatliche Ausgaben pro Jahr. Aber auch die automatische Valorisierung von Sozialausgaben und die Steigerungen bei den Pensionsausgaben – zurückzuführen auf die höhere Anzahl von Pensionierungen, Einmalzahlungen und starke Eingriffe ins Pensionsrecht („Pensionszuckerln“) – trugen neben zusätzlichen Ausgaben bei Finanzausgleich, Sicherheit und Landesverteidigung zum Ausgabenanstieg der letzten Regierungsperiode bei.
Hier sollten daher auch Konsolidierungsmaßnahmen ansetzen: Durch Anpassung, beziehungsweise Streichung von Förderungen (unter anderem Klimabonus und Bildungskarenz), eine gebietskörperschaftsübergreifende strukturelle Neuaufstellung des Förderwesens (Stichwort Doppel-/Mehrfachförderungen), durch eine Anpassung der Pensionen unterhalb der Inflationsrate über die kommenden Jahre (um die Anpassungen über der Inflationsrate der Jahre seit 2017 zu korrigieren) und einen Rückbau der in den letzten Jahren vorgenommenen Eingriffe ins Pensionsrecht.
Kurzfristig wird man nicht ohne einnahmenseitige Maßnahmen auskommen, weil Ausgabenkürzungen oft einen langwierigeren gesetzlichen Vorlauf haben, beziehungsweise strukturelle Reformen verlangen. Hier könnte man beispielsweise über Anpassungen bei der Grundsteuer (eine Erhöhung der Hebesätze der Gemeinden ließe sich rasch umsetzen) eine etwaige Finanzierungslücke füllen. Auch die Abschaffung der zahlreichen Steuerbegünstigungen mit negativen Umwelt- und Klimafolgen (darunter Dieselprivileg, Dienstwagenprivileg, Pendlerpauschale) könnten einnahmenseitig einbringen und wäre zudem gesetzlich rasch umzusetzen.
Reformen für mittelfristig und langfristig wirkende Einsparungen
Um das Budget auch mittelfristig zu sanieren und wieder finanzielle Spielräume für Entlastung, Investitionen und zukünftige Herausforderungen zu schaffen, braucht es aber Reformen – insbesondere bei den großen Ausgabenblöcken wie Pensionen, Gesundheit, Föderalismus und Finanzausgleich. Hier würden Reformen auch langfristig stabilisierend auf die Entwicklung der öffentlichen Ausgaben wirken und somit den steigenden finanziellen Druck durch die Bevölkerungsalterung abdämpfen. So sollte beispielsweise bereits jetzt die Anpassung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters an die tatsächliche Lebenserwartung eingeleitet werden – auch wenn sich das finanziell erst langfristig niederschlägt.