Clean Industrial Deal: Innovation und Nachhaltigkeit für Europa

Die geopolitische Lage ist angespannt. Europa muss sich fragen, wie es in dieser harten neuen Welt bestehen kann, während die USA eine protektionistische Außenhandelspolitik verfolgen, Russland seine koloniale Vergangenheit wiederherstellen will und China durch seinen aggressiv expansiven Außenhandel noch mehr weltweiten Einfluss zu gewinnen versucht. Es bleibt nur wenig Zeit für Antworten. Der Clean Industrial Deal ist eine davon.
Wie ernst die Lage für die EU ist, das zeigte sich auch in dem viel beachteten Bericht über die europäische Wettbewerbsfähigkeit aus der Feder des ehemaligen EZB-Chefs Mario Draghi. Auf diesem aufbauend veröffentlichte die Kommission am 29. Jänner 2025 ihren Wettbewerbsfähigkeits-Kompass. Er enthielt drei aus dem Draghi-Bericht abgeleitete Hauptziele: Die Innovationslücke zu schließen, Europa zu dekarbonisieren und die Sicherheit zu erhöhen. Von dieser Basis ausgehend veröffentlichte die Kommission am 26. Februar 2025 unter dem Titel „Clean Industrial Deal“ eine Gesamtstrategie, um die europäische Wirtschaft und Industrie zu stärken.
Die Prämisse des Clean Industrial Deal ist, dass es keine widerstandsfähige Wirtschaft ohne eine robuste Industrie geben könne. Sie sei die Grundlage für Innovation und Fortschritt, und der Garant dafür, dass sich Europa sein Lebensmodell weiterhin leisten kann.
Aktuell muss Europa (mindestens) drei Herausforderungen gleichzeitig bewältigen: Es muss mit dem menschengemachten Klimawandel und seinen Folgen umgehen, seine Wettbewerbsfähigkeit erhalten und seine Resilienz steigern. Das ist allerdings nur ein Teil von Dani Rodriks neuem politischem Trilemma. Der Ökonom behauptet, es sei unmöglich, gleichzeitig den Klimawandel zu bekämpfen, die Mittelschicht in fortgeschrittenen Volkswirtschaften zu stärken und die globale Armut zu reduzieren. Dass Entwicklungshilfe im Clean Industrial Deal nicht einmal thematisiert wird, zeigt, was der Kommission am wichtigsten ist. Die Soft Power der EU wurde aber nicht vergessen. Im Gegenteil thematisiert die Kommission explizit die Wichtigkeit der Beziehungen Europas mit seinen Nachbar:innen, die wesentlich für die Energiewende und Europas strategische Autonomie sind.
Der Clean Industrial Deal fokussiert auf energieintensive Industrie und auf den Clean-Tech-Sektor. Die vorgeschlagenen Lösungen sind umfassend, und sie betreffen die gesamte Wertschöpfungskette. Der Deal identifiziert sechs treibende Kräfte: leistbare Energie, Vorreiter-Märkte, Finanzierung, Kreislaufwirtschaft und Zugang zu Rohstoffen, globale Märkte und internationale Partnerschaften sowie Skills (Fähigkeiten & Kompetenzen). Zusätzlich werden Maßnahmen identifiziert, die in all diesen Bereichen Wirkung entfalten. Hier geht es vor allem um Bürokratieabbau, den Ausbau des EU-Binnenmarkts, Digitalisierung, Innovation, das Schaffen von hochwertigen Jobs sowie eine bessere politische Koordinierung innerhalb der EU und zwischen den Mitgliedstaaten.
1. Leistbare Energie
Damit die Industrie kostengünstig produzieren kann, braucht sie Zugang zu billiger Energie. Die EU ist zu abhängig von importierten fossilen Energieträgern. Hohe und volatile Energiepreise gefährden Europas Wettbewerbsfähigkeit und Energie wird in seinem hybriden Krieg gegen Europa von Russland gezielt als Waffe eingesetzt. Um günstigere und klimafreundlichere Energiequellen nutzen zu können, braucht es auch eine besser verbundene, effizientere und intelligentere Netzinfrastruktur, die sich die Digitalisierung (Stichwort KI) und das Internet der Dinge zu Nutze macht. Das Ziel ist ein integrierter EU-Binnenmarkt für Energie. Energiekosten sollen durch lokal produzierte saubere Energie gesenkt werden, und Energie soll effizienter genutzt werden. Wie genau die Kommission das erreichen will, steht im Aktionsplan für leistbare Energie.
2. Vorreiter-Märkte
Die Kommission will die Rahmenbedingungen setzen, um Vorreiter-Märkte, sogenannte Lead Markets, für saubere Energie und Technologie zu schaffen. In der Theorie werden im Lead Market bevorzugte Varianten einer Technologie global dominant. Daher könnten solche Märkte die Wettbewerbsfähigkeit der EU wesentlich erhöhen.
So will die Kommission einen Markt für gespeicherte Treibhausgase schaffen. Bei öffentlichen und privaten Ausschreibungen sollen künftig Kriterien für Nachhaltigkeit, Widerstandsfähigkeit und „Made in Europe“ eingeführt und so die Nachfrage nach sauberen Technologien erhöht werden. Auch eine freiwillige Produktkennzeichnung für die CO2-Intensität von Industrieprodukten soll eingeführt werden. Betriebe sollen dafür Anreize erhalten. Zugleich erleichtert die Kennzeichnung bewussten Konsum, weil Verbraucher:innen leicht den CO2-Fußabdruck von Produkten herausfinden können sollen.
Die öffentliche Beschaffung ist ein wesentlicher Hebel, um sauberen und klimafreundlichen Technologien zum Durchbruch zu verhelfen, da es hier um Volumina in Milliardenhöhe geht. Die Beschaffung soll daher mit den langfristigen strategischen Zielen der Kommission in Einklang gebracht werden. Um das zu erreichen, werden EU-Normen zu öffentlicher Beschaffung zeitnah harmonisiert, um ihre Anwendung zu vereinfachen.
Die Kommission will die Verwendung von erneuerbarem und blauem Wasserstoff vorantreiben. 2025 sollen daher Förderungen in der Gesamthöhe von bis zu einer Milliarde Euro ausgeschüttet werden. Das soll das Produktionsvolumen ankurbeln. Gleichzeitig soll der Wasserstoffmarkt gestärkt werden, indem der Informationsaustausch zwischen Anbieter:innen und Käufer:innen verbessert wird, wodurch sie leichter zusammenfinden sollen.
3. Finanzierung
Für die Umstellung auf saubere Energie braucht es massive Investitionen. Daher ist es notwendig, nicht nur öffentliches, sondern auch privates Kapital zu mobilisieren. Der Clean Industrial Deal soll über 100 Milliarden Euro mobilisieren, und zwar durch direkte EU-Förderungen, private Investitionen und wirkkräftigere staatliche Subventionen.
Im Hinblick auf öffentliche Mittel hält die Kommission den Innovationsfonds für ein verlässliches Werkzeug. Er soll weiter ausgebaut werden. Auf ihm aufbauend will die Kommission eine Industrial Decarbonisation Bank etablieren, die mit etwa 100 Milliarden Euro ausgestattet sein soll. Sie soll die Möglichkeit bieten, durch Förderungen auf den Markt einzuwirken.
Das bedeutendste Instrument auf Unions-Ebene, um private Investitionen zu mobilisieren, ist das InvestEU-Programm. Die Kommission will es ausbauen, damit es größere Risiken tragen kann. Das soll etwa 50 Milliarden Euro an zusätzlichen Mitteln mobilisieren. Ebenso wird die Kommission gemeinsam mit der Europäischen Investitionsbank (EIB) neue Initiativen starten, die gezielt den vom Clean Deal betroffenen Sektoren helfen sollen.
Ebenso wie Maßnahmen auf EU-Ebene werden nationale Subventionen eine Schlüsselrolle für die Dekarbonisierung und die Umstellung auf Kreislaufwirtschaft spielen. Um nationale Anstrengungen mit der Gesamtstrategie in Einklang zu bringen, wird mit dem Clean Industrial Deal State Aid Framework ein Rahmen mit einer gemeinsamen Planung geschaffen. Zusätzlich sollen neue Important Projects of Common European Interest (IPCEI) mit Fokus auf industrielle Dekarbonisierung und Clean Tech entstehen.
4. Kreislaufwirtschaft und Zugang zu Rohstoffen
Kreislaufwirtschaft steht im Zentrum der Dekarbonisierungsstrategie der Kommission, einerseits weil es sich hier um einen Wachstumsmarkt mit enormem Potenzial handelt, andererseits weil Zirkularität auch eine Möglichkeit ist, unabhängiger zu werden.
Um den Zugang zu kritischen Rostoffen zu sichern, wird die Kommission die Umsetzung der Verordnung über kritische Rohstoffe priorisieren. Ebenso will sie eine Matchmaking-Plattform für Rohstoffe etablieren, die Käufer:innen und Verkäufer:innen zueinander lotst. Durch über eine EU-Plattform koordinierten gemeinsamen Einkauf sollen europäische Unternehmen potenziell günstigere Ankaufspreise erzielen, als sie es einzeln könnten. Das käme insbesondere kleineren und jüngeren Unternehmen zugute, die dadurch besser Chancen hätte, im Wettbewerb zu bestehen.
Durch Ecodesign-Anforderungen will die Kommission dafür sorgen, dass Produkte, die wertvolle und seltene Rohstoffe enthalten, so effizient und so lange wie möglich genutzt werden. Am Ende ihrer Lebensdauer sollen sie nicht auf Deponien landen, sondern recycelt werden. Der freie Warenverkehr für Kreislaufprodukte, Sekundärrohstoffe und Abfall soll gewährleistet, die Qualität von Rezyklaten gesichert und die Nachfrage nach Kreislaufprodukten stimuliert werden.
5. Globale Märkte und internationale Partnerschaften
Der Clean Deal hat eine explizite Freihandels-Komponente, nicht nur, was den Ausbau des Binnenmarkts betrifft, sondern auch hinsichtlich der Handelsbeziehungen mit Drittstaaten. Die Kommission erachtet es als essenziell, dass die EU ihr Netzwerk von Handelsabkommen beibehält und weitere Abkommen abschließt. Freihandelsabkommen sollen durch Clean Trade and Investment Partnerships (CTIPs) ergänzt werden, welche die europäische Außenpolitik und Industriepolitik harmonisieren sollen. Es wird hier darum gehen, strategische Abhängigkeiten besser zu managen, Lieferketten zu diversifizieren und einen besseren Zugang zu Rohstoffen, sauberer Energie und Clean Tech zu gewährleisten. Das erste CTIP soll bereits im März 2025 mit Südafrika abgeschlossen werden.
Die neue Kommission von der Leyen hat mit Dubravka Šuica eine Kommissarin für das Mittelmeer, die auch zuständig für die Umsetzung des Mittelmeerpakts „Pact for the Mediterranean“ ist. Dieser soll eine umfassende und auf Werten basierende Partnerschaft mit den Ländern entlang der Südküste des Mittelmeers bilden, fokussiert auf die Bereiche Investitionen, wirtschaftliche Stabilität, Arbeitsplätze, Energie, Verkehr, Sicherheit und Migration.
Wie sich herausgestellt hat, ist nur eine kleine Menge von Importen in die EU für 99 Prozent der importierten (buchhalterischen) Treibhausgasemissionen verantwortlich. Daher will die Kommission den 2026 in Kraft tretenden Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) wesentlich vereinfachen und so die Bürokratie-Belastung für Unternehmen deutlich reduzieren.
Um sicherzustellen, dass ausländische Direktinvestitionen (FDI) zur langfristigen Wettbewerbsfähigkeit der EU beitragen und weder die Sicherheit noch die öffentliche Ordnung untergraben, soll sichergestellt werden, dass alle 26 EU-Staaten ein Begutachtungsverfahren für Auslandsinvestitionen haben. Die Kriterien für Investitionen, die ein Begutachtungsverfahren erfordern, sollen geschärft werden. Einheitlichere Regeln sollen „Forum Shopping“ verhindern.
Damit sich die EU gegen aggressive und wettbewerbsverzerrende expansive Außenhandelspolitik anderer geopolitischer Akteure verteidigen kann, wird die Kommission bestehende Instrumente weiter ausbauen.
6. Skills
Ein weiterer wichtiger Baustein des Clean Industrial Deal sind Skills und Arbeitsplätze. Denn der Übergang zu einer dekarbonisierten Kreislaufwirtschaft soll sich für alle lohnen und sozial gerecht sein. Zugleich benötigt ein starker Industriestandort die besten Fachkräfte. Daher legt die Kommission mit der Union of Skills eine umfassende Strategie vor, wie höhere Niveaus an grundlegenden und fortgeschrittenen Kompetenzen vermittelt, Menschen die Möglichkeit gegeben wird, regelmäßig ihre Fähigkeiten zu aktualisieren und neue zu erlernen, die Rekrutierung durch Unternehmen in der gesamten EU erleichtert und Spitzenkräfte in Europa angezogen, entwickelt und gehalten werden können. Damit Arbeiter:innen von der Förderung der europäischen Industrie profitieren, soll öffentliche Finanzierung an soziale Kriterien gebunden sein.
Der Clean Industrial Deal soll als Rahmen genutzt werden, um mit der Industrie in den Dialog zu treten, und gemeinsam Übergangspfade für verschiedene Sektoren zu entwickeln. Diese sollen Investitionsentscheidungen erleichtern und damit mehr Kapital für die Energiewende mobilisieren und sie dadurch beschleunigen. Für die Automobilindustrie wurde der Aktionsplan bereits am 5. März 2025 präsentiert. Der Dialogprozess mit der Stahl- und Metallbranche startete ebenfalls Anfang März. Andere Branchen, wie Chemie, Transport und Biotechnologie, werden folgen.
Umsetzung des Clean Deal ist entscheidend
Zusammenfassend ist der Clean Industrial Deal ein hochkomplexer Plan, der eine Vielzahl an Gesetzesinitiativen, zu errichtenden Institutionen und Förderungen beinhaltet. Er ist ein Teilaspekt einer umfassenderen und langfristigen Strategie, um die Sicherheit und den Wohlstand Europas auch in Zukunft sicherzustellen. Während er die Bereiche Dekarbonisierung und Wirtschaftsstandort des EU Competitiveness Compass gut abbildet, braucht es noch eine konkrete Strategie für Innovation und Sicherheit. Der von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 4. März 2025 präsentierte ReArm-Europe-Plan bringt bereits einiges an Dynamik in die Verteidigungsfrage. Die angekündigten 800 Milliarden Euro an Investitionen in die europäische Verteidigung über die nächsten vier Jahre werden aber auch eine wichtige Rolle für den Wirtschafts- und Industriestandort Europa spielen.
So ambitioniert der Clean Deal ist: Die schönsten Pläne sind nutzlos, wenn sie nicht verwirklicht werden. Daher bleibt die effektive Umsetzung entscheidend. Insofern ist es begrüßenswert, dass der Clean Deal bereits einen eigenen Kontrollmechanismus enthält. Die Kommission plant, den Fortschritt des Clean Industrial Deal im Annual Single Market Competitiveness Report zu verfolgen. Ob das ausreicht, um Europa als starken und autonomen geopolitischen Akteur am internationalen Parkett zu verankern, wird sich zeigen.