Das Rettungswesen – ein Notfallpatient
Unklarheiten bei der Finanzierung, Personalmangel und unklare Zuständigkeiten – mit welchen Problemen das Rettungswesen zu kämpfen hat.
144 – die Rettung kommt zu dir. So heißt es schon in Kinderliedern. Und noch im hohen Alter gehen Österreicher:innen davon aus, dass der Staat diese Erwartung erfüllt. Nur: Was, wenn das nicht mehr geht?
Denn die Rettung ist mittlerweile selbst ein Patient geworden. Sie kämpft mit Personalmangel, einer schwierigen Finanzierung und einem Wirrwarr an Zuständigkeiten, der für das österreichische Gesundheitswesen typisch ist. Das hochgelobte System wurde seit Jahren nicht mehr reformiert, wodurch Strukturen automatisch veralten und für Mitarbeiter:innen unattraktiv werden. Sollte diesem Reformstau nicht bald abgeholfen werden, wird das nicht nur für die verbleibenden Mitarbeiter:innen ein Problem, sondern auch für alle Patient:innen spürbar werden.
In Wien sind die Wartezeiten auf einen Rettungswagen wieder angestiegen – ein Zustand, der bei einem Herzinfarkt oder Schlaganfall lebensbedrohlich sein kann. In Innsbruck war vor kurzem von einem Zusammenbruch des Systems die Rede, und auch in Salzburg und Oberösterreich gibt es Personalmangel. Der Ruf nach mehr Mitarbeiter:innen ist leicht, allerdings muss das gesamte System angesehen werden, um zu verstehen, woher dieses Personalproblem kommt. Und dafür gibt es mehrere Gründe. Der Reihe nach.
1. DIE Rettung gibt es nicht
Es beginnt bei der Zuständigkeit. Ja, man ruft überall in Österreich die gleiche Nummer an, doch dahinter steht ein System, in dem die Gemeinden für das Sanitäts- und die Länder für das Rettungswesen zuständig sind. In vielen Bundesländern sind die Notrufstellen zentral organisiert und teilen dann Rettungskräfte ein. Doch im Hintergrund müssen Gemeinden und Bundesländer das System gemeinsam organisieren und am Laufen halten.
Das Sanitätswesen im Aufgabenbereich der Gemeinde geht auf Artikel 118 Bundes-Verfassungsgesetz und in der Ausführung auf das Reichssanitätsgesetz aus dem Jahr 1870 zurück: Hauptaufgabe im Sinne des Rettungswesens ist „die Fürsorge für die Erreichbarkeit der nötigen Hilfe bei Erkrankungen und Entbindungen, sowie für Rettungsmittel bei plötzlichen Lebensgefahren“. Heutzutage bedeutet das die Bereitstellung von Krankentransporten.
Auf Landesebene sind die Gesetze individuell gestaltet. Allgemein obliegt den Ländern aber die Verantwortung für Notarzt-Rettungsdienst und Rettungsdienst bei Großschäden und Katastrophen, doch auch Krankentransporte und die Anwesenheit von Sanitäter:innen bei Veranstaltungen fallen teilweise darunter – mit einigen Abweichungen zwischen den Bundesländern. Grob gesagt kann man aber die Landesebene als die „Notfall-Ebene“ und damit die klassische Erste Hilfe bei Unfällen bezeichnen, für die sowohl Notfallsanitäter:innen als auch Notärzt:innen zur Verfügung gestellt werden müssen.
Diese zwei Ebenen sorgen dafür, dass es unterschiedliche Ausgestaltungen gibt. Oftmals ist es aber so, dass Gemeinden einen Pro-Kopf-Beitrag für den Rettungsdienst zahlen, sich mehrere Gemeinden zusammenschließen und meist per Direktvergabe eine gemeinnützige Hilfsorganisation mit der Bereitstellung des Rettungswesens beauftragen – fast immer das Rote Kreuz, manchmal auch der Arbeiter-Samariter-Bund, die Johanniter-Unfallhilfe oder der Malteser Hospitaldienst. Diese Hilfsorganisation muss in weiterer Folge die zugehörige Versorgung für die jeweilige Region sicherstellen. Bezahlt wird aus Gemeinde- und Landesbeiträgen und den Kostenerstattungen. Diese Vorgehensweise der Direktvergaben und des damit entstandenen Quasi-Monopols sorgt für Diskussionen bezüglich der Rechtmäßigkeit der Vergaben. Notärzt:innen werden – wiederum je nach Bundesland – oft über das Bundesland von Krankenhäusern aus zu Einsätzen geschickt, in manchen Bundesländern sind auch Notärzt:innen bei Einsatzstellen des Roten Kreuzes stationiert.
Österreich hat also ein klein- und vielteiliges System. Die Aufteilung in verschiedene Einsatzstellen und Bundesländerorganisationen beim Roten Kreuz führt aber dazu, dass der Einblick in dieses relativ schwierig ist.
2. Gewissensfalle Ehrenamt
Wer wissen will, wie ein Betrieb, eine Verwaltungseinheit oder Ähnliches funktioniert, stellt meist die gleichen Fragen: Wie viele Mitarbeiter:innen gibt es, was kosten diese, wie viel Geld fließt für alles andere, und welche Zahlen bilden die (wirtschaftliche) Leistung ab? Bei der Rettung gibt es auf die meisten dieser Fragen keine Antwort.
Denn es gibt nicht einen Personalpool für das Rettungswesen. Rettungs- und Notfallsanitäter:innen können sowohl ehrenamtlich als auch hauptberuflich tätig sein, zusätzlich gibt es noch Zivildiener, die ebenfalls als Rettungssanitäter unterwegs sind. Weil das Rote Kreuz aber eben in Bundesländerorganisationen operiert und möglicherweise auch gar nicht zu viel Interesse an Transparenz hat, ist es praktisch unmöglich zu sagen, wie viele Freiwillige wie viele Rettungsdienste absolvieren und wie viele Ehrenamtliche für das Aufrechterhalten des Betriebs nötig wären. Andernfalls wäre es auch möglich, die Anzahl der Mitarbeiter:innen aus den Jahresberichten zusammenzurechnen oder Stunden zu vergleichen, das Rote Kreuz beruft sich aber bei diesen Jahresberichten und in Anfragebeantwortungen aber oft auf die Unmöglichkeit dieser Datenkumulation.
Im Rettungssystem wird oft und gerne darauf verwiesen, wie wichtig Ehrenamt und freiwilliges Engagement sind. Das hat aber mehrere Folgen:
- Ehrenamtliche Mitarbeiter sind klarerweise weitaus billiger als hauptberuflich angestellte Sanitäter, die für eine Vollzeit-Tätigkeit bezahlt werden.
- Ist es anhand der Freiwilligenzahl viel schwieriger abzuschätzen, wie viele Dienste abgedeckt sind und wie viel Personal zusätzlich nötig wäre. Immerhin kann ein:e Freiwillige:r zehn Dienste im Monat fahren oder einen. Die Anzahl der Freiwilligen sagt also überhaupt nichts über die Deckung des Personalbedarfs aus.
- Im Hintergrund stellt sich immer die Qualitätsfrage. Das wird in Österreich zwar nicht gerne gehört und sofort als Frevel gebrandmarkt, doch es macht (meistens) einen Unterschied, ob jemand alle zwei Monate eine Tätigkeit ausübt oder jeden Tag. Es stimmt, das auch hauptberufliche Sanitäter:innen schlecht arbeiten können und Ehrenamtliche mit jahrzehntelanger Erfahrung weitaus kompetenter sein können als neueinsteigende Hauptberufliche – doch wer eine Tätigkeit zu selten ausübt, übt sie mit höherer Wahrscheinlichkeit schlechter aus als jemand, der sie täglich ausführt.
3. Personalmangel auf allen Ebenen
Dass das Rote Kreuz Ehrenamtliche bevorzugt, scheint immer wieder durch. Immerhin zeigen das Aufrufe aus Tirol, Oberösterreich oder auch Niederösterreich. Insgesamt hat sich der Anteil an ehrenamtlich Tätigen im Rettungswesen kaum verändert: 2006 waren es 6 Prozent der Bevölkerung, 2016 waren es 7 Prozent – so der Bericht des Ehrenamts 2020. Die naheliegende Erklärung wäre also, dass ehrenamtlich tätige Sanitäter:innen weniger Dienste als früher machen, dazu gibt es aber kaum Statistiken.
In Hintergrundgesprächen erzählen Sanitäter:innen aus diversen Bundesländern, dass einzelne Stationen einfach gar nicht mehr besetzt werden können und von anderen Dienststellen aus befahren werden. Wenn ein anderes Einsatzfahrzeug näher ist, kann das sogar praktischer sein – doch wenn eine Station gar kein Personal hat, stellt sich die Frage, ob der Versorgungsauftrag damit noch erfüllt wird.
Hilferufe wie aus Innsbruck sind eher selten – immerhin leidet das Vertrauen, wenn Notfallsysteme versagen. Dennoch kommt es jetzt auch in Salzburg und Oberösterreich zu derartigen Berichten, auch wenn diese von Rotem Kreuz und Politik nicht gerne gesehen werden. In der Steiermark dagegen scheiterte es im Sommer 2022 nicht an Sanitäter:innen, sondern an Notärzt:innen, wodurch ein Patient mangels rechtzeitiger Hilfe verstarb.
In Wien gab es vor einigen Jahren einen ähnlichen Notarztmangel, 2017 war nur die Hälfte der Dienststellen besetzt. Durch eine Änderung der Arbeitsverhältnisse für Notärzt:innen wurde dies korrigiert, doch mittlerweile scheinen Sanitäter:innen so durchzufahren, dass sich im Laufe einer Nacht dutzende Einsätze anhäufen und nicht gleich bearbeitet werden können. Ein Problem, das nicht nur mit dem Rettungssystem zusammenhängt – sondern auch mit der Gesundheitskompetenz von Patient:innen. Denn viele Einsätze wirken wie Kleinigkeiten, bei denen man mit genauem Nachdenken wohl selbst merkt, dass die Rettung nicht nötig ist. Rückenschmerzen, Verstopfungen, die Liste der Berichte von Sanitäter:innen ist lang, und fast alle Beispiele klingen frustrierend, wenn man dafür eigens in der Nacht wohin fahren muss und dann möglicherweise auch noch Krankenhauskapazitäten mit diesen Patient:innen belegt.
Gleichzeitig wird die Rettung durch Änderungen im Gesundheitssystem belastet. In Linz beispielsweise wechseln sich die Krankenhäuser teilweise ab, in welchem Haus Magnetresonanztomographien (MRT) oder Computertomographien (CT) durchgeführt werden. Wer am falschen Tag eine Untersuchung braucht, wird mit einem Rettungsauto von einem zum anderen Krankenhaus gebracht – auch das bindet Ressourcen und beschäftigt dringend benötigte Sanitäter:innen. Wiewohl fraglich ist, ob Krankenhäuser sich dafür tatsächlich des Rettungswesens bedienen dürfen.
Da für solche Krankentransporte keine Notfallsausbildung nötig ist, sind in vielen Teams für Krankentransporte auch Zivildiener und füllen die Personallücke. Doch auch die Zivildiener werden weniger und können den Personalmangel nicht ausgleichen. So nimmt die Anzahl der tauglichen Stellungspflichtigen schon alleine aufgrund der sinkenden Zahl an insgesamt Stellungspflichtigen ab, wodurch das Ausweichen auf Zivildiener keine gangbare Lösung des Problems ist.
4. Komplexe Finanzierung
Also müssten mehr Dienste von hauptberuflichen Sanitäter:innen absolviert werden. Das kostet allerdings – womit die nächste unbekannte Kennzahl erreicht wäre. Denn wie viel das Rettungssystem kostet, kann eigentlich niemand sagen. Bezahlt wird es aus mehreren Säulen:
- Die Beitragszahlungen der Gemeinden, die überall unterschiedlich gestaffelt sind.
- Die Zahlungen der Versicherungsträger für Einsatz- und Transportkosten, die trotz der Zusammenlegung der Landeskrankenkassen höchstwahrscheinlich nicht österreichweit vereinheitlicht werden können.
- Die Landeszuschüsse
Zusätzlich gibt es noch die Notarzt-Kosten und „finanzielle Grauzonen“, beispielsweise wenn eine Gemeinde der Einsatzstelle ein neues Rettungsfahrzeug spendiert oder die „nicht anfallenden“ Kosten, die durch ehrenamtliche Arbeit eingespart werden. Alleine der Personalmix aus Zivildienern, Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen sorgt also dafür, dass die Kosten für das Rettungssystem regional extrem unterschiedlich sind, und wie das Verhältnis zwischen Krankentransporten und Notfalleinsätzen ist, verändert die Kostenstruktur noch einmal.
Genau die Geldfrage ist aber einer der häufigsten Gründe für Reformstillstand in Österreich. Wer nicht genau weiß, was wie viel kostet, findet vorhandene Lösungen immer gut, alles andere wäre schließlich teurer. Das sieht man auch in der Personalfrage: Der Bedarf an Ehrenämtern kann nicht mehr im gleichen Ausmaß wie früher gedeckt werden, und wir wissen einfach nicht, ob das an veränderten Einsatzstrukturen oder der veränderten Anzahl an Zivildienern liegt. Die Hilferufe aus dem Rettungsdienst legen nahe, dass es hier offenbar Änderungen braucht.
5. Sani ist nicht gleich Sani
Die Frage ist nur: Wie soll das gehen? Für mehr hauptberufliche Sanitäter:innen braucht es mehr Geld. Zusätzlich gibt es dazu bei den Kategorien noch Unterschiede: Wer die erste Stufe der Ausbildung absolviert hat, hat 100 Stunden Theorie und 160 Stunden Praxis hinter sich und darf sich Rettungssanitäter:in nennen. De facto alle Zivildiener im Rettungswesen arbeiten mit dieser Ausbildung, soweit man weiß, hat auch ein überwiegender Teil der ehrenamtlichen Sanitäter diese Ausbildung.
Notfallsanitäter:innen haben die nächste Ausbildungsstufe – klarerweise gehören dazu mehr Ausbildungsstunden und mehr Kompetenzen. Diese Stufe ist auch notwendig, denn in einigen Landesgesetzen gibt es Vorschriften, wie Teams in Rettungsautos zusammengesetzt sein müssen und dass in Einsatzfahrzeugen eben wegen des erweiterten Kompetenzprofils oft auch Notfallsanitäter:innen mitfahren müssen. Erst dann werden ganz spezifische Kompetenzen wie Infusionen oder Medikamentenabgabe differenziert. Berufssanitäter:innen müssen lediglich das Berufsmodul als zusätzliche Ausbildung absolvieren
Wie viele Menschen diese unterschiedlichen Ausbildungsstufen haben, wie viele hauptberuflich tätig sind und wie viele ihre Ausbildung überhaupt regelmäßig re-zertifizieren, weiß allerdings wiederum niemand. Denn nur die laut § 23 Sanitätergesetz anerkannten Einrichtungen haben theoretisch einen Überblick über die bei ihnen gemeldeten Ehrenamtlichen – eine bundesweite Statistik ist damit ohne dezidierte Forderung des Ministeriums unmöglich. Ein interessanter Nebenaspekt, immerhin obliegt laut dem Reichtssanitätsgesetz der Staatsverwaltung „die Evidenzhaltung des gesamten Sanitätspersonales“.
Hier scheint aber kaum Handlungsbedarf gesehen zu werden. Unter der türkis-blauen Regierung wurden Arbeitsgruppen zur Reform des Rettungswesen einberufen, aber bevor richtig losgelegt wurde, platzte die Regierung. Im Regierungsprogramm der türkis-grünen Regierung ist keine Rede mehr davon. Die Pandemie änderte das, immerhin wurde die Belastung auf Sanitäter:innen dadurch noch höher: mehr Dienste, Covid-Transporte, verspätete Anerkennung von Covid-19 als Berufskrankheit und kein Corona-Bonus. Dazu auch noch Ehrenamtliche, die Sonderdienste fuhren, ehemalige Zivildiener, die sich zum Sonderdienst meldeten und dafür freistellen ließen, und kurzfristige Änderungen des Gesetzes und Sonderkompetenzen, um beispielsweise beim Testen und Impfen einzuspringen.
6. Überfällige Reformen
Echte Reformen im Sanitätsgesetz gab es in den vergangenen zwanzig Jahren allerdings keine. Stattdessen wurde die Belastung mehr, was die Personalsituation noch zusätzlich verschärft.
Und zur Verschärfung hat der Oberste Gerichtshof nun auch noch festgestellt, dass Berufssanitäter:innen keinen Berufsschutz genießen. Zu kurz sei die Ausbildung, selbst nach 30 Jahren Berufstätigkeit gibt es kein Anrecht auf beispielsweise Berufsunfähigkeit, falls der Körper etwa durch das viele Herumtragen von Patienten nicht mehr mitspielt. Sanitäter:innen mit dem höchsten Ausbildungsgrad könnten demnach ebenso Portier werden. Ein Urteil, das in der Branche für große Unzufriedenheit gesorgt hat. Mit diesen Aussichten wird es schließlich auch für Freiwillige nicht attraktiver werden, auf die hauptberufliche Tätigkeit zu wechseln.
Gesundheitsminister Johannes Rauch hat nun angekündigt, im Herbst 2022 wieder mit Runden Tischen zu starten und mit den unterschiedlichen Hilfsorganisationen über den Handlungsbedarf zu diskutieren. Ob eine simple Gesetzesänderung die Probleme lösen kann, ist aber fraglich. Denn solange Zuständigkeit und Finanzierung auf so vielfältige Art zersplittert sind, ist das Rettungswesen weiterhin eine Blackbox im Gesundheitssystem. Und zwar eine weitere, deren Zukunft aufgrund von Zuständigkeitsfragen und Personalproblemen momentan gefährdet sein dürfte.