Das „System Pilnacek“ und seine Folgen – Teil 2
Die vom Justizministerium eingesetzte Untersuchungskommission zur Causa Pilnacek hat am 15. Juli 2024 ihre Ergebnisse präsentiert. Es ging um Zweiklassenjustiz, grassierende Korruption und Postenschacher. Die bisherige Berichterstattung vermittelt aber nur einen schwachen Eindruck vom Ernst der Lage. Wie schlimm steht es wirklich um den Rechtsstaat? Um das herauszufinden, hat Georg-Maximilian Lundström-Halbgebauer den ganzen 232 Seiten langen Untersuchungsbericht ausgewertet und das Wichtigste zusammengefasst.
Hat die ÖVP versucht, politischen Einfluss auf die Justiz zu nehmen? Dieser Verdacht kam auf, nachdem eine heimlich aufgezeichnete Tonaufnahme auftauchte, auf der der langjährige Justizbeamte und Sektionschef Christian Pilnacek bei einem Treffen mit Bekannten gesagt hatte, die ÖVP habe wiederholt von ihm verlangt, Ermittlungen einzustellen und Hausdurchsuchungen abzudrehen.
Justizministerin Alma Zadic (Grüne) nahm das zum Anlass, eine Untersuchungskommission einzusetzen, die beurteilen sollte, ob es politisch motivierte Einflussnahme auf staatsanwaltschaftliche Vorgänge gegeben hat.
Teil 1 über das „System Pilnacek“ und seine Folgen thematisierte bereits eine Zweiklassenjustiz für die Elite, behinderte Ermittlungen und verschleppte Verfahren. Doch das war noch nicht alles.
Postenkorruption und Seilschaften
In österreichischen Ministerien werden Stellen leider nicht immer nach dem Prinzip der Bestenauslese vergeben. So hat die Kommission deutliche Anhaltspunkte für gezielte Beeinflussungen bei der Stellenbesetzung gefunden. Ebenso wurde über Fälle berichtet, in denen durch die Ressortspitze mit dem Ziel interveniert wurde, bestimmte Personen aus ihrer damaligen Funktion zu entfernen oder sie an einer Bewerbung für eine bestimmte Position zu hindern. Konkrete Beispiele sind:
- Die Besetzung der Oberstaatsanwaltschaft Wien mit einer Person, die von der Personalkommission nicht als am besten geeignet gesehen wurde (Pilnacek-Bericht S. 194).
- Die rechtswidrige Degradierung eines Abteilungsleiters (S. 195), der, obwohl er am besten geeignet war, eine Stelle als Abteilungsleiter aus sachfremden Gründen nicht erhalten hat.
- Der Versuch Pilnaceks, seiner Frau den Posten der Präsidentin des Oberlandesgerichts Graz zu verschaffen, indem er beim damaligen steirischen Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer intervenierte (S. 196).
Wesentlich ist hier der Zusammenhang von Ämterpatronage mit anderen Erscheinungsformen von Korruption. Die Kommission drückte es präzise aus (S. 191):
„Wer seiner Parteinähe den privilegierten Zugang zu einem öffentlichen Amt verdankt, wird unter Umständen dazu neigen, sich auch bei von ihm zu treffenden Entscheidungen von parteipolitischer Opportunität leiten zu lassen.“
In diesem Sinne könnte man Postenkorruption auch als Anbahnungshandlung für spätere Gegenleistungen in Form von anderen korrupten Handlungen verstehen. Die Kommission berichtet in diesem Zusammenhang von der Bildung von Seilschaften, der grassierenden Neigung, die eigene Gruppe zu begünstigen, und der Erwartung, gegenseitige Loyalität über geltendes Recht zu stellen. Die Folge ist eine Dreiklassenjustiz: Eine für die Elite (siehe „Das System Pilnacek und seine Folgen – Teil 1“), eine für die eigene Seilschaft und eine für das gemeine Volk.
Geheimnisverrat
In mehreren Fällen wurden Amtsgeheimnisse an Freunde und Freunderl weitergegeben (S. 184). Zum Beispiel hat Pilnacek 2018 dem im Vorjahr aus dem Amt geschiedenen Ex-Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) über den Ausgang eines Verfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) informiert, von dem Brandstetter zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen hätte dürfen (S. 184). Im Urteil des BVwG ging es um Postenkorruption: Im Zuge einer Organisationsreform im Ministerium wurde 2015 die Leitung einer Personalabteilung neu ausgeschrieben. Der von der Personalkommission bestgereihte Bewerber stand Brandstetter aber aus persönlichen Gründen nicht zu Gesicht. Der Jurist solle Nicht-Akademiker:innen geringschätzig behandelt haben. Im Gegensatz zu acht anderen Personalentscheidungen wurde in diesem Fall ein Hearing anberaumt. Dort sah sich der Bewerber dem Justizminister persönlich sowie einem Chauffeur und zwei weiteren Nicht-Akademikern gegenüber. Das ist höchst unüblich und war vielleicht als Rache für die angebliche Geringschätzung von Nicht-Akademiker:innen gedacht. Der Bewerber wurde abgelehnt und musste sich stattdessen mit einer Referenten-Stelle begnügen. Eine schwere Degradierung: Der Betroffene legte Beschwerde vor dem BVwG ein. Das Gericht gab ihm recht und stellte fest, das Hearing habe als „Feigenblatt“ für die aus sachfremden Gründen getroffene Entscheidung des damaligen Justizministers gedient.
Eine willkürliche Personalentscheidung. Ein Justizminister, der sich über die Personalkommission hinwegsetzt. Das klingt alles sehr nach Amtsmissbrauch. Und im Justizministerium stellte sich die sehr ernste Frage, ob man den Ex-Minister anzeigen müsse. Zuständig war Pilnacek. Der traf sich persönlich mit Brandstetter, entschied sich danach gegen eine Anzeige und leitete stattdessen eine interne Revision gegen die Entscheidung des BVwG ein, die im Wesentlichen zurückgewiesen wurde. Ganz „daschlogn“ konnte Pilnacek die Sache damit aber nicht: Seit Jahren ermittelt die Staatsanwaltschaft Innsbruck gegen Brandstetter wegen Amtsmissbrauchs, Falschaussage und Geheimnisverrats. Eine Anklage steht unmittelbar bevor, muss aber noch vom Justizministerium freigegeben werden. Die WKStA prüft derzeit auch einen Verdacht auf Bestechung.
Ein weiteres Beispiel, dass man es in der eigenen Partie mit der Amtsverschwiegenheit nicht ganz so eng sah: Johann Fuchs, der Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Wien (auch gegen ihn laufen Ermittlungen), schickte Pilnacek im Dezember 2020 und Februar 2021 Dokumente zu ausgesuchten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen (obwohl Pilnacek dafür fachlich seit Herbst 2020 nicht mehr zuständig war). Hierbei geht es unter anderem auch um Passagen aus Verschlussakten (S. 186). Und ein „Maulwurf“ bei der WKStA schickte Interna und Aktenteile per WhatsApp an Pilnacek und informierte ihn über das dortige Geschehen. In all diesen Fällen hält die Kommission es für „sehr wahrscheinlich, dass sachfremde Motive wie politische oder persönliche Nahebeziehungen […] eine Rolle gespielt haben“ (S. 187). Ebenso hat die Kommission Anhaltspunkte dafür gefunden, dass Pilnacek in laufenden Verfahren für Außenstehende beratend tätig geworden sein könnte. Dafür spricht etwa auch sein Kontakt zum damaligen Kabinettschef im Finanzministerium Clemens-Wolfgang Niedrist nach der Hausdurchsuchung bei Ex-Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) 2021.
Dreiklassenjustiz
Wie bereits dargelegt, gab es innerhalb der Justiz Seilschaften mit teils übertriebener gegenseitiger Loyalität. Das ging so weit, dass die Entscheidung, ob gegen Kolleg:innen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird „teilweise von sachfremden Einflüssen getragen“ war (S. 99). Was bedeutet das? Am Anfang eines Strafverfahrens steht die Anzeige, also die Meldung einer anscheinend strafbaren Handlung an die Behörde. Danach wird geprüft, ob ein Anfangsverdacht vorliegt, ob also aufgrund bestimmter Anhaltspunkte angenommen werden kann, dass eine Straftat begangen worden ist. Die Anhaltspunkte müssen konkret nachprüfbar oder widerlegbar sein. Nur, wenn die Staatsanwaltschaft einen Anfangsverdacht feststellt, beginnen die Ermittlungen, und erst dann gibt es eine:n Verdächtige:n: Ohne Anfangsverdacht kein Ermittlungsverfahren. Ein angebliches Opfer kann dagegen (derzeit noch) nichts tun.
Im Zusammenhang mit dem Eurofighter-Verfahren hat Pilnacek per Weisung verfügt, dass aus Geheimhaltungsgründen Akten aus dem Ermittlungsakt ausgeschieden und dem Bundesministerium für Landesverteidigung (BMLV) zurückgegeben werden sollen. Grundlage war eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien – rechtlich also völlig in Ordnung. Doch der damalige Nationalratsabgeordnete Peter Pilz (Liste Jetzt) sah in Pilnaceks Weisung eine willkürliche Gefährdung des Eurofighter-Verfahrens. Es folgte eine parlamentarische Anfrage, die für großes mediales Aufsehen sorgte. Um sein Vorgehen zu verteidigen, leitete Pilnacek am 21.12.2018 um 15:02 die fragliche Weisung und das zugrundeliegende Gerichtsurteil an einen ORF-Redakteur weiter. Doch auch davon erfuhr Pilz und zeigte Pilnacek bei der Staatanwaltschaft Eisenstadt wegen Verdachts auf Verletzung des Amtsgeheimnisses an. Der Leiter der Staatsanwaltschaft Eisenstadt informierte den Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Wien, den engen Pilnacek-Vertrauten Johann Fuchs. Dieser behauptete, der ORF-Journalist habe ihn am 21.12.2018 kurz vor 12 Uhr angerufen und hätte den Inhalt der Weisung zu diesem Zeitpunkt bereits gekannt. Überzeugt, dass es keinen Anfangsverdacht gab, begann die Staatsanwaltschaft daher keine Ermittlungen.
Doch bald wurden zwei wichtige Tatsachen bekannt: Erstens gab der ORF-Journalist später an, zum Zeitpunkt seines Telefonats mit Fuchs den Inhalt der Weisung noch nicht gekannt zu haben. Zweitens wurden Chatnachrichten bekannt, die beweisen, dass Fuchs unberechtigterweise Pilnacek über die gegen ihn eingebrachte Anzeige informierte und ihm mutmaßlich auch einen „Aktenteil eines […] als Verschlusssache geführten Aktes“ zukommen habe lassen (S. 175). Die Kommission schloss daraus, dass das Verfahren nicht auf rechtsstaatlich gebotene, objektive Weise abgelaufen sei (S. 179). Auf Grundlage der neuen Informationen brachte Pilz erneut Strafanzeige gegen Pilnacek und nun auch gegen Fuchs ein. Aus dem beschriebenen Chat geht auch Pilnaceks völliger Mangel an Unrechtsbewusstsein hervor. Er schrieb, offenbar entrüstet:
„[I]ch werde des Amtsmissbrauchs geziehen, setze mich mit sachlicher Information zur Wehr und jetzt wird das noch geprüft und nicht sofort nach § 35c StAG vorgegangen???“
Es gab einmal eine Zeit, da war es ganz normal, dass für die Elite eigene Regeln gelten, Beschuldigte sich mit der Leiterin einer Ermittlungsbehörde treffen, worauf Verfahren dann eingestellt werden, und dass Posten nach Willkür und politischem Kalkül vergeben werden. Wir reden leider nicht vom 18. Jahrhundert, sondern vom Österreich der Gegenwart. Man wundert sich noch immer, was alles möglich ist.
Reformvorschläge
In ihrem Bericht gibt die Kommission einige Empfehlungen ab, wie die Unabhängigkeit der Justiz in Österreich gestärkt werden könnte. Die Reformen und Maßnahmen konzentrieren sich auf drei Bereiche: Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Führung sowie die Organisation der österreichischen Justiz.
Die Forderungen im Bereich Rechtsstaatlichkeit beziehen sich zu einem guten Teil auf legistische Maßnahmen. So sollen klare und eindeutige Rechtsgrundlagen für das gesamte staatsanwaltschaftliche Verfahren geschaffen werden. Derzeit herrsche Unklarheit darüber, ob die Strafprozessordnung (StPO) auf das Justizministerium selbst anwendbar sei. Daher solle entweder ein ausdrücklicher Verweis auf die StPO oder eine eigenständige Regelung geschaffen werden. Laut Kommission ist die Zweiklassenjustiz teilweise in der österreichischen Rechtsordnung angelegt. Die aktuelle Rechtslage ermögliche eine Ungleichbehandlung und solle daher reformiert oder die betreffenden Paragrafen gestrichen werden.
Die Stärkung von Transparenz und Führung in der Justiz wird als entscheidend angesehen, um das Vertrauen in die Institutionen zu sichern. Es wird empfohlen, alle Kontakte von Staatsanwält:innen mit anderen Verfahrensbeteiligten oder Außenstehenden klar und detailliert zu dokumentieren. Das betrifft insbesondere die Kommunikation zwischen den Dienststellen der Staatsanwaltschaften und dem Justizministerium. Zudem wird vorgeschlagen, Weisungen explizit zu dokumentieren. Eine besondere Betonung wird auf die Schaffung einer modernen Führungskultur gelegt, in der Fehlerkultur und Dienstgeber:innenfürsorge eine wichtige Rolle spielen. Diese Kultur soll konstruktive Fehlerbewältigung fördern und vorauseilenden Gehorsam in Zukunft verhindern. Schließlich empfiehlt die Kommission auch die Einführung klarer Regeln und Mechanismen zur Vermeidung von (auch nur anscheinenden) Befangenheiten, insbesondere wenn hochrangige Beamte involviert sind.
Um die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken, schlägt die Kommission zudem eine Reihe von organisatorischen Maßnahmen vor. Die Weisungsspitze, die derzeit bei einem Organ der Exekutive liegt, solle zu einer unabhängigen Bundesstaatsanwaltschaft verlagert werden, nach dem Vorbild der Europäischen Staatsanwaltschaft. Die Trennung der Sektion IV für Strafrecht und der Sektion V für Einzelstrafsachen im Justizministerium solle auf jeden Fall beibehalten werden. Die WKStA solle gestärkt werden. Eine angemessene institutionelle Fach- und Dienstaufsicht sei nötig, dies solle aber nicht mehr von der als Nadelöhr empfundenen Oberstaatsanwaltschaft Wien ausgeübt werden. Besonderes Augenmerk wird auch auf die Ressourcenausstattung gelegt. Um die Justiz effizienter zu gestalten, sollen genügend qualifizierte und motivierte Mitarbeiter:innen an den richtigen Stellen eingesetzt werden, insbesondere in Großverfahren, aber auch im Bereich Fach- und Dienstaufsicht.
Die Aufgabenstellung für eine nächste Bundesregierung ist also bereits klar im Kommissionsbericht enthalten. Es kann nicht weitergehen wie bisher. Bleibt also nur die Frage: Wer traut sich?