Das versteckte liberale Italien

Italien, das Land großer historischer Umbrüche, der Ursprung der Renaissance und des Faschismus, jedenfalls aber politischer Instabilität, wird selten mit liberaler Politik assoziiert. Dabei ist die Idee des Liberalismus in Italien keineswegs eine fremde – sie ist nur gut versteckt. Wer Italien rein durch eine staatskritische Politikbrille betrachtet, sieht vor allem ein Land, das von Bürokratismus, Klientelismus und einem Hang zur charismatischen Führung geprägt ist. Doch ist das wirklich die ganze Wahrheit?
Die Genese liberaler Parteien in Italien
Die Definition von Liberalismus ist nicht unbedingt universell. Während der Begriff meist marktwirtschaftliche Deregulierung beschreibt und mit einem wertebasierten Individualismus verbunden ist, war Liberalismus in Italien historisch oft mit konservativen oder wirtschaftsnahen Eliten verknüpft. Der Partito Liberale Italiano (PLI), einst eine wesentliche politische Kraft im Land, war weniger eine Bewegung der gesellschaftlichen Öffnung als vielmehr eine Partei, die sich für wirtschaftlichen Fortschritt und staatliche Zurückhaltung einsetzte. Nach dem Kalten Krieg verschwand der PLI, und seither gibt es keine durchgehend starke, also mit einem großen Vertrauen der Wahlbevölkerung ausgestattete, liberale Partei.
Zwar gibt es heute noch einige liberale Parteien, die allerdings zersplittert sind und um politische Sichtbarkeit kämpfen. Ein Beispiel dafür ist die Allianz Azione – Italia Viva: ein gemeinsames Bündnis bei der Parlamentswahl 2022 von dem bekannten Manager Carlo Calenda sowie dem ehemaligen Ministerpräsidenten Matteo Renzi. Mit knapp 8 Prozent blieb ein großer Erfolg bei den Wahlen aber aus. Die Partei versucht, wirtschaftsliberale und proeuropäische Positionen zu verbinden und sieht sich als moderne Alternative zur politischen Polarisierung zwischen rechten Nationalkonservativen wie der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und linkspopulistischen Strömungen innerhalb der Demokratischen Partei (PD).
Ein anderes Beispiel sind die Radicali Italiani, eine Partei, die sich für Bürgerrechte, Säkularismus, eine weitreichende Reform des italienischen Justizsystems und andere dem gesellschaftspolitischen Liberalismus entsprechende Themen einsetzt. Ihre Wurzeln reichen bis in die 1950er Jahre zurück, als sie mit charismatischen Figuren wie Marco Pannella für gesellschaftlichen Fortschritt kämpfte. Doch trotz ihrer visionären Agenda blieb die 2001 neu gegründete Partei stets eine politische Randerscheinung und mündete 2017 schlussendlich in die proeuropäische Partei Più Europa.
Bella Illiberalia?
Die geringe Sichtbarkeit des Liberalismus in Italien hat mehrere Ursachen: Es mangelt nicht an liberalen Ideen, sondern an deren Durchsetzung. Die wenigen existierenden liberalen Parteien sind zerstritten oder haben keine breiten Wählerschichten hinter sich. Zudem wird Italien seit den 1990er Jahren von populistischen Figuren wie Silvio Berlusconi, Beppe Grillo oder Matteo Salvini politisch geprägt. Sie setzen auf polarisierende Rhetorik und einfache Lösungen, die wenig Raum für differenzierte liberale Politik im politischen Diskus lassen.
Darüber hinaus ist der italienische Staat bekannt für seine komplexen Verwaltungsstrukturen: Reformen dauern oft Jahrzehnte oder scheitern an der Beharrungskraft der Bürokratie. Das zeigt auch das World Competitiveness Ranking, in welchem Italien in der Kategorie „Government Efficiency“ auf dem 57. Platz von 67 rangiert. Dies führt allerdings auch dazu, dass in der Bevölkerung eine staatszentrierte Sichtweise kulturell dominiert. Das Misstrauen gegenüber wirtschaftlicher Deregulierung und Marktöffnung ist tief verankert. So gilt privatisierungsfreundliche Politik oft als Angriff auf das soziale Gefüge.
Italien ist aber kein grundlegend illiberales Land, sondern ein Land, in dem liberale Politik oft im Schatten anderer politischer Strömungen steht. Die italienische Gesellschaft hat eine lange Tradition des individuellen Unternehmertums, Eigeninitiative und einer starken Bürgerrechtsbewegung. Die Radicali Italiani haben etwa mit ihren Kampagnen für Abtreibungsrechte, Scheidungsgesetze und die Entkriminalisierung von Homosexualität maßgeblich zur gesellschaftlichen Modernisierung beigetragen. Und auch die Regierung der sogenannten nationalen Einheit unter der Führung von Mario Draghi setzten einige liberale Großprojekte im Steuerwesen und auf dem Arbeitsmarkt um.
Gut versteckt, aber nicht unauffindbar
Auf den ersten Blick hat Italien wenig mit Liberalismus am Hut. Doch wer genauer hinsieht, erkennt in der Zivilgesellschaft, in einzelnen Reformbewegungen und sogar in manchen Wirtschaftspolitiken liberale Impulse, wie dies zuletzt auch Enrico Letta in seinem Bericht für den Europäischen Rat erkennen ließ. Sein Bericht zeigt, dass liberales Denken durchaus seinen Platz im stiefelförmigen Land hat, aber oft in internationalen Kontexten besser aufgenommen wird als in der italienischen Innenpolitik.
Die Frage ist also weniger, ob Italien liberal ist, sondern warum es seine liberalen Ideen nicht erfolgreicher in politische Teilhabe umsetzen kann. Die strukturellen Hürden, das staatsgläubige Denken und die politische Kultur erschweren liberale Reformen erheblich. Eines ist aber jedenfalls gewiss: Ein liberales Italien existiert – es muss nur noch sichtbarer werden.