Debatte über „strategische Autonomie“ in der EU
Emmanuel Macron hat mit umstrittenen Thesen zur „strategischen Autonomie“ eine Debatte ausgelöst: Wie soll die EU mit einem potenziellen Konflikt um Taiwan umgehen, wie positioniert sie sich zwischen den USA und China?
In der Weltpolitik hängt alles mit allem zusammen. Darum reden wir heute über Emmanuel Macron und die Zukunft der EU, fangen aber ganz woanders an: nämlich in Kalifornien.
Dort empfing Kevin McCarthy, der ranghöchste Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses, Tsai Ing-Wen, die Präsidentin von Taiwan. Taiwan, das ist für China „Chinesisch-Taipei“, eine Insel, die eindeutig Teil des eigenen Staatsterritoriums sei. Im eigenen Selbstverständnis ist Taiwan selbstständig – man spricht Chinesisch, hat mit dem Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell in Festland-China allerdings nichts am Hut. Für China ist der Besuch von Tsai Ing-Wen ein diplomatischer Affront, es eskaliert mit einer militärischen Übung rund um die Insel.
In diesem Kontext äußert sich Emmanuel Macron zur Außenpolitik. Der französische Präsident, der schon lange für die „strategische Autonomie“ Europas wirbt, spricht im Interview mit „Politico“ über das Risiko, das er im Konflikt zwischen China und Taiwan für Europa sieht:
„Die Frage, die sich die Europäer stellen müssen: Ist es in unserem Interesse, die Taiwan-Krise zu beschleunigen? Nein. Das Schlimmste wäre, zu glauben, dass wir Europäer bei diesem Thema zu Mitläufern werden und uns an der US-Agenda und einer chinesischen Überreaktion orientieren müssten.“
Emmanuel Macron spricht dabei ein populäres Thema an: Was die einen als „gute Beziehungen“ zu den USA sehen, ist für die anderen eine Abhängigkeit. Dazu kommt, dass man sich nicht sicher sein kann, ob der nächste US-Präsident nicht doch wieder Donald Trump heißt – und der sieht Russland bekanntlich nicht als Feind, er gilt auch nicht als großer Freund der NATO. Und gerade in der Pandemie wurde auch deutlich, dass die Abhängigkeit von anderen durch komplexe, globale Lieferketten auch Nachteile hat. Viele Staaten bemühen sich, kritische Infrastruktur und die Produktion von Chips und Halbleitern wieder ins eigene Land zu holen, was auch zu einem neuen Wettbewerb zwischen den USA und der EU führt.
Europa: Die dritte Supermacht?
Was bedeutet dieser Vorstoß von Macron? Vor allem steckt dahinter der Grundgedanke, dass man sich von dem Gedanken lösen möge, die EU und die USA verfolgten immer die gleichen Interessen. Zwar hätte man viel gemeinsam – aber alleine die wirtschaftliche Verflechtung sorge dafür, dass die Vereinigten Staaten Europa mit in eine Krise ziehen könnten, die es selbst nicht verschuldet habe. Im Kontext der Aussage spielt Macron damit auf Taiwan an. Einfach ausgedrückt: Wenn der Konflikt dort eskaliere, müsse die Europäische Union zuerst auf sich selbst schauen.
„Wenn sich die Spannungen zwischen den beiden Supermächten verschärfen, werden wir weder die Zeit noch die Mittel haben, unsere strategische Autonomie zu finanzieren, und wir werden zu Vasallen.“
Emmanuel Macron
Charles Michel, der Vorsitzende des Europäischen Rates, gibt Macron insofern recht, als auch er den Punkt bestärkt, dass man Washington nicht „blind folgen“ dürfe. Aber Macron und Michel sind nicht die Einzigen, die für die EU sprechen. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz etwa fand zu Taiwan deutlichere Worte und sprach sich bei einem Besuch in China dafür aus, dass Konflikte nur friedlich ausgetragen werden dürften. Eine diplomatische Formulierung, aber sie transportiert die Botschaft, dass Europa bei einem etwaigen Angriff auf die Insel nicht neutral bleiben und zusehen würde.
Aber auch Deutschlands Kurs ist nicht ganz unmissverständlich: Direkt nach Macrons Vorstoß flog Außenministerin Annalena Baerbock nach China, um einerseits klarzustellen, dass ein Konflikt um Taiwan ein „Worst-Case-Szenario“ für Deutschland, die EU, aber auch die Weltwirtschaft wäre. Immerhin würden 50 Prozent des globalen Handels durch die Taiwan-Straße gehen. Gleichzeitig stärkte sie aber Macron den Rücken und betonte, seine Aussagen zur China-Politik wären auch der Kurs der EU.
Geht es nach Emmanuel Macron, wird die EU zu einer dritten Supermacht mit „strategischer Autonomie“, die weder von den USA noch von China abhängig ist und ihre eigenen Interessen verfolgt. Was diese Autonomie genau bedeutet, ist zwar noch unscharf definiert, aber Macron versteht sich als Antriebsgeber der Union und schlägt eine grobe Richtung vor. Diese mag vielen EU-Bürger:innen sympathisch sein – realistisch gibt es aber einige Kritikpunkte, die man vorher ausräumen müsste.
Oder doch lieber Teil eines Blocks?
Um eine Supermacht zu werden, müsste man auch in der Lage sein, gemeinsame Entscheidungen schnell und effizient zu treffen. Wie lang das dauern kann, sieht man auch am Krieg in der Ukraine: Die EU-Staaten liefern unterschiedlich viel – Staaten, die an Russland angrenzen oder die Herrschaft der Sowjetunion noch von früher kennen, liefern in Relation zu ihren Mitteln wesentlich mehr als die westeuropäischen Staaten mit Supermacht-Ambitionen.
Diese Entscheidungen dauern nicht nur lang und liefern unterschiedliche Ergebnisse. Sie hätten auch kaum ausgereicht, um die Ukraine im Krieg gegen Russland in die Position zu bringen, in der sie jetzt ist. Die Hilfszahlungen in die Ukraine kommen zum überwiegenden Teil aus den USA, aber auch das Vereinigte Königreich schickt besonders viel.
Aber auch, wenn man annimmt, dass das nicht so wäre, sollte man sich die Frage stellen, ob man überhaupt „zwischen“ den USA und China sein will. Denn vieles spricht auch für eine verstärkte Zusammenarbeit mit den USA: Durch „Friendshoring“, also das Handeln mit Staaten, die ähnliche Wirtschafts- und Wertesysteme vertreten, sichert man sich etwa vor genau dem Szenario ab, das Österreich seit dem Ukraine-Krieg Probleme macht: Autoritäre können demokratischen Staaten jederzeit den Gashahn oder andere Lieferketten abdrehen. Wer sich zu Prinzipien wie freiem Handel, Vertragsfreiheit und liberalen Prinzipien bekennt, wird ein guter Partner gleichgesinnter Staaten sein.
Wie würde eine Supermacht EU aussehen, die sich als Block „zwischen“ den USA und China versteht? Würde es mit allen handeln, ganz gleich welches Wertesystem, um von niemandem abhängig zu sein? Oder macht sie doch noch einen Unterschied zwischen liberalen und autoritären Partnern?
Sind die außenpolitischen Ambitionen scheinheilig?
Und eine mindestens genauso wichtige Frage: Wäre sie im Gegenzug auch bereit, ihre eigenen Konflikte ohne fremde Hilfe zu führen? Das wäre für viele Grundvoraussetzung – denn die transatlantische Partnerschaft mit den USA in Wirtschaftsfragen aufzukündigen, aber nach wie vor auf ihre militärische Hilfe zu zählen, stößt vielen sauer auf. US-Senator Marco Rubio reagierte in einem Video z.B. folgendermaßen auf die Vorschläge von Macron:
„Ihre Position ist nun, dass sie sich nicht für eine Seite zwischen den USA und China in der Taiwan-Frage entscheiden werden, vielleicht sollten wir uns auch nicht für eine Seite entscheiden. Vielleicht sollten wir grundsätzlich sagen, dass wir uns auf Taiwan und die Bedrohung durch China konzentrieren und ihr euch um die Ukraine kümmert.“
Marco Rubio
Für die USA ist China der wesentlichste strategische Gegner, Asien der wichtigste geopolitische Schauplatz. Und nicht nur für sie sind die Parallelen zwischen der Ukraine und Taiwan offensichtlich: Beide sind freie, demokratische Staaten, die von einer überlegenen Militärmacht als „abtrünnige Provinz“ gesehen werden, so bezeichnet zumindest China Taiwan. In seiner Rede, die den Ukraine-Krieg begann, sprach auch Wladimir Putin von der Ukraine als Teil Russlands, er sieht in ihrer Selbstständigkeit einen historischen Fehler. Würde die EU an der eigenen Grenze auf Solidarität bestehen, auf der anderen Seite der Welt aber „nicht zuständig“ sein, wäre das für viele ein Eingeständnis, dass sie kein verlässlicher Teil des Westens ist.
Ein weiterer Vorwurf kommt aus vielen Staaten, die nicht Teil des „Westens“ sind. Alleine im ersten Jahr des Ukraine-Krieges wurden Hilfen aller Art im Wert von 170 Milliarden US-Dollar an die Ukraine geschickt oder zugesagt – das sind 90 Prozent der gesamten Hilfszahlungen, die durch den OECD-Ausschuss für Entwicklungshilfe gegangen sind. Indiens Außenminister kommentiert den außenpolitischen Kurs der EU dementsprechend:
„Europa muss aus der Denkweise herauswachsen, dass die Probleme Europas die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas.“
Subrahmanyam Jaishankar, Außenminister von Indien
Dieser Eindruck ist in vielen Regierungen vorherrschend, die sich vom Westen nicht gesehen fühlen. Das ist auch der Grund, warum Macrons Vorschläge so polarisieren: Der Vorstoß, sich „ab jetzt“ stärker an den eigenen Interessen zu orientieren legt nahe, dass das bisher nicht so passiert wäre. Aber in vielen Bereichen der Weltpolitik ist Europa schon jetzt kaum aktiv, obwohl es um Konflikte geht, die auch Europa betreffen – man denke z.B. an Mali.
Der weite Weg zur gemeinsamen Außenpolitik
Wie man Macrons Vision der strategischen Autonomie auch sehen mag: Momentan bedeutet sie noch einen langen Weg für die EU. Um eine echte Supermacht zu werden, bräuchte es wohl nicht nur deutliche militärische Aufrüstung, sondern auch bessere, effizientere und nicht zuletzt geeintere Zusammenarbeit. Alleine die Tatsache, dass man sich über den eigenen Kurs derart uneinig ist, zeigt, dass eine selbstbewusste europäische Außenpolitik noch in den Kinderschuhen steckt.
Aber die Diskussion sollte jedenfalls geführt werden. Es geht nämlich nicht nur darum, wie sich die EU im Fall eines Angriffs auf Taiwan verhalten würde, sondern darum, in welcher Weltordnung Europa leben möchte – und welchen Platz es in dieser einnimmt. Wir können davon ausgehen, dass uns diese außenpolitische Debatte noch länger begleiten wird.