Der ewige Freiheitskampf: Frauen*rechte unter Beschuss
Eine Entscheidung des US Supreme Court bringt die Grundfesten feministischer Errungenschaften ins Wanken. Das Recht auf Abtreibung in den Vereinigten Staaten steht vor dem Aus. Es stellt sich die Frage: Wie gefestigt sind die Rechte der Frau* im Jahr 2022?
Im Jahr 1973 entschied der Oberste Gerichtshof der USA, der US Supreme Court, im höchst umstrittenen und polarisierenden Prozess Roe v. Wade: Die Verfassung der Vereinigten Staaten umfasst das Recht auf Abtreibung.
Am 24. Juni dieses Jahres, knapp 50 Jahre später, hob das Gericht – mittlerweile bestehend aus einer Mehrheit konservativer Richter*innen – seine Entscheidung auf. Die Folgen für die Freiheit der Frau* in den Vereinigten Staaten sind schwerwiegend. Das lang ersehnte und hart erkämpfte US-weite Recht auf Schwangerschaftsabbruch ist Geschichte. Die Regelung von Abtreibungen liegt wieder in den Händen der einzelnen Bundesstaaten und wird entgegen jahrzehntelangen feministischen Anstrengungen gesellschaftlich neu verhandelt. In zwölf US-Bundesstaaten gilt mittlerweile ein Abtreibungsverbot, in zwei weiteren wurde das Recht auf Abtreibung erheblich eingeschränkt.
Brodelnde USA
Ein Rückschritt für die Rechte der Frau* am eigenen Körper offenbart sich als Symptom einer geschwächten Demokratie. In der US-Zivilgesellschaft brodelt es – und das schon lange. Mit Beginn der Obama-Regentschaft vor über 13 Jahren gewann die Tea Party, eine libertäre, rechtspopulistische und Obama-kritische Protestbewegung an Einfluss. Befeuert durch das verstärkte Aufkommen von Social Media legte sie mit ihrem starken Fokus auf kulturelle Themen und Identitätsfragen den Grundstein für die sogenannte „Rote Welle“, mit der ab 2010 zahlreiche republikanische Abgeordnete in Parlamente und Rathäuser einzogen. Eine Entwicklung, die schließlich in der Präsidentschaft Trumps und dem Sturm auf das Kapitol 2021 gipfelte.
Parallel dazu erreichten die Spaltung der US-Gesellschaft und die starke Polarisierung vor allem bei Themen, die das Selbstbestimmungsrecht marginalisierter Gruppen und Frauen* betreffen, einen neuen Höhepunkt. Das gibt der zunehmend extremer werdenden amerikanischen „Pro Life“-Bewegung in ihrem Engagement gegen Abtreibungen Rückenwind. Dem entgegen steht eine gespaltene feministische Bewegung in vermeintlicher Schockstarre. Denn wie schon oft in ihrer Geschichte ist diese aktuell mehr mit sich selbst als mit dem Kampf gegen Diskriminierung beschäftigt. Sie sinniert lieber darüber, ob ein Abtreibungsrecht für Frauen, Frauen mit Sternchen oder menstruierende Personen gefordert werden soll, als sich zusammenzuschließen und klare Ansagen zur Beibehaltung der hart erkämpften und stets umstrittenen sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmungsrechte zu machen. Vor diesem Hintergrund wird das Gemenge um grundlegende Freiheiten der Frau* von Neuem entfacht – und das nicht nur in den USA.
Widersprüchliches Europa
Ähnliche Tendenzen sind auch in Europa zu erkennen. Ultrakonservative und Rechtsextreme, die mit einer konservativ-populistischen Identitätspolitik ihren eigenen Machterhalt sichern wollen, sind auf dem Vormarsch. Kollateralschäden sind dabei immer häufiger die Rechte marginalisierter Gruppen und damit auch die Rechte der Frau*. In Ungarn haben sich Viktor Orbán und seine Anhänger im Jahr 2020 gegen einen „Gender-Wahn“ und damit gegen die Ratifizierung der „Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“ ausgesprochen; ein Jahr darauf wurde ebendort ein Gesetz erlassen, das Menschen stigmatisiert, die von der heterosexuellen Norm abweichen. In Polen entschied 2020 ein von der polnischen Regierung diskreditierter und entmachteter Verfassungsgerichtshof, dass eine Abtreibung selbst bei schweren und irreversiblen fötalen Schäden oder einer unheilbaren Krankheit, die das Leben des Fötus bedroht, verfassungswidrig ist.
Repräsentativ für Europa bzw. die Europäische Union als Gesamtes sind diese Entwicklungen jedoch (noch) nicht. Erstens besteht ein gesamteuropäischer Konsens zur Stärkung der (Selbstbestimmungs-)Rechte der Frau*. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten haben alle EU-Staaten die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ratifiziert, dessen Kontrollinstanz mittlerweile mehrfach festgehalten hat, dass restriktive Abtreibungsrechte einen Bruch der Menschenrechte der Frau* darstellen. Zudem nahm das EU-Parlament in Reaktion auf die besagte Entscheidung des US Supreme Court im Juli dieses Jahres eine Resolution an, die den Schutz von Abtreibungsrechten innerhalb der EU und die Aufnahme des Rechts auf Schwangerschaftsabbrüche in die Grundrechtecharta vorantreiben soll.
Zweitens bestehen nach wie vor große regionale Unterschiede zwischen europäischen Nationalstaaten, die Grund zur Hoffnung geben. Am selben Tag, an dem der Supreme Court in den Vereinigten Staaten den Weg für Abtreibungsverbote ebnete, folgte beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland einem anderen Extrem: Ein Selbstbestimmungsgesetz wurde vorgestellt, das es allen Menschen ermöglicht, ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister durch eine einfache Erklärung beim Standesamt ändern zu lassen. Die damit ausgelöste europaweite Debatte und Polarisierung selbst innerhalb der feministischen Community rund um die Frage „Wie viele Geschlechter gibt es?“ wirft die Frage auf, ob Deutschland mit diesem mutigen und im Sinne der Rechte marginalisierter Gruppen und Frauen* sicher sinnvollen Schritt nicht seiner Zeit voraus war. Auf jeden Fall machte der Vorstoß eines deutlich: Die gesellschaftlichen Verhandlungen über die Rechte und Freiheiten marginalisierter Gruppen und damit auch der Frau* sind zu unterschiedlichem Ausmaß auch in Europa noch nicht abgeschlossen.
Unschlüssiges Österreich
Dasselbe gilt für Österreich, das sich wie so oft zu keiner klaren Positionierung in einer gesellschaftlichen Grundsatzfrage durchringen kann. Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Österreich ist nach wie vor ein rechtlicher Kompromiss, der sich schnell sowohl in die eine als auch in die andere Richtung entwickeln könnte. Abtreibungen sind in Österreich nach wie vor illegal, bei einem Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate aber seit 1975 – nach fast 100 Jahren feministischem Aktionismus – nicht mehr strafbar (Fristenregelung). Möglichkeiten, eine Abtreibung innerhalb dieser Frist tatsächlich durchzuführen, gibt es jedoch kaum. Viel zu wenige Klinken und Ärzt*innen bieten diese Gesundheitsdienstleistung an, und die österreichischen Krankenkassen übernehmen ganz entgegen dem oftmals zitierten politischen Anspruch der gesellschaftlichen Gerechtigkeit keinen Cent der Kosten.
Trotzdem nimmt sich keine Parlamentspartei dieses brisanten Themas wirklich an – sei es aus politischem Kalkül, aus mangelnder Priorisierung oder aus Angst vor einem Rückschlag im Kampf für die Rechte der Frau*. Während das Recht auf Abtreibung europaweit und auf EU-Ebene intensiv debattiert wurde, war das Höchste der Gefühle, das die österreichische Politik zustande brachte, ein Antrag von SPÖ und NEOS zur Schließung von Versorgungslücken in Sachen Abtreibung im Vorarlberger Landtag und ein Antrag von SPÖ, NEOS und Grünen zur Beibehaltung der sogenannten Fristenregelung im Wiener Gemeinderat. Ersterer steht noch in Verhandlung, bei Letzterem stimmten sowohl FPÖ als auch die Kanzlerpartei ÖVP dagegen, was deutlich macht: Das letzte Wort rund um die aktuelle Rechtslage ist auch in Österreich noch nicht gesprochen. Man kann sich demnach als Frau* seiner Rechte auch im Jahr 2022 nicht zu sicher sein. Das Gute jedoch ist: Die Verhandlungen, der Freiheitskampf beginnen nicht von Neuem. Hinter uns liegen Jahrhunderte des feministischen Aktionismus, dessen Verhandlungsmethoden sich Frauen* bedienen können. Sie müssen es nur tun – und am besten geeint.
HELENA GABRIEL-OIWOH ist Frauenrechtsaktivistin. Women Empowerment ist ihr ein Herzensanliegen. Um dieses voranzutreiben, war sie beim Schweizer Magazin „Women in Business“ tätig. Sie koordinierte die „Orange the World“ Kampagne bei UN Women Austria mit. Später wurde sie bei ACUNS Vienna zur Herausgeberin des Ressourcenbuchs FEMICIDE. 2019 gründete sie UNSA Vienna, um eine lösungsorientierte Auseinandersetzung mit den SDGs und insbesondere der Problematik Gewalt gegen Frauen zu schaffen. Seit 2020 engagiert sie sich als Inhaltliche Leitung bei unsichtbar, einer intermedialen, interdisziplinären Initiative gegen sexualisierte Gewalt. Bei NEOS ist Gabriel-Oiwoh für Interne Kommunikation zuständig.