Der lange Kampf der Primärversorgungszentren
Hype oder Allheilmittel? Die Primärversorgungszentren werden seit Jahren als Lösungsansatz für den Mangel an Kassenärzten propagiert, den endlich anlaufenden Ausbau heften die Grünen sich als Erfolg der Regierungsperiode ans Revers. Für viele ist aber nach wie vor unklar: Was genau ist das eigentlich und wie soll es die Gesundheitsversorgung verbessern? Und warum sollte das nach Jahren der Verzögerung jetzt wirklich passieren?
Im Gesundheitssystem gibt es verschiedene Stufen der Versorgung: Klassisch wird zwischen niedergelassener Versorgung (also Arztpraxen) und stationärer Versorgung (also Krankenhäusern) unterschieden. Natürlich kann man auch direkt nach einer Behandlung, wie etwa dem Anlegen eines Gipses, aus dem Krankenhaus entlassen werden, was eine ambulante Behandlung wäre. Grundsätzlich sollten aber die Praxen von Allgemeinmediziner:innen die erste Anlaufstelle bei Gesundheitsproblemen sein und damit diese sogenannte Primärversorgung übernehmen.
Durch die zunehmenden Arztbesuche und einige freie Kassenstellen für Allgemeinmedizin ist aber ein Mangel an Allgemeinmediziner:innen entstanden, der schon lange absehbar war. Das liegt unter anderem an der mangelnden Attraktivität der Allgemeinmedizin: Die Kassenverträge haben von allen Fachrichtungen den schlechtesten Ruf, die Ausbildung war lange ein Auffangbecken für Mediziner:innen, die nicht in eine Fachausbildung gehen wollten oder konnten. Zusätzlich variiert der Arbeitsalltag zwischen einer Vielfalt von medizinischen Fragen und einer gewissen Sozialbetreuung für multipel kranke und einsame Personen. Kurzum: Allgemeinmedizin muss man machen wollen.
Primärversorgung? Ist nachrangig
In vielen anderen Ländern liegen diese Aufgaben aber nicht nur bei Allgemeinmediziner:innen, sondern werden zwischen verschiedenen Gesundheitsberufen aufgeteilt. Verbandswechsel? Kann eine Pflegefachkraft selbstständig machen. Überprüfen, ob die Medikamente sich vertragen oder vielleicht der Grund für Schwindel sind? Wird gerne in der Apotheke erledigt. Der Beckenschiefstand auf dem Röntgen verlangt Einlagen? Ihr:e Physiotherapeut:in schreibt gerne die Überweisung, um diese zu bekommen.
In Österreich gibt es all das aber nicht. Wer von der Hausärztin zum Physiotherapeuten geschickt wird, muss sich selbst einen suchen. Wer einen Verbandswechsel braucht, muss entweder zur Chirurgin zurück oder überhaupt ins Krankenhaus. Das sind aber alles Lösungen, die sehr teuer sind und viele Ärzt:innen und ärztliche Anweisungen brauchen. Verbessert werden sollte dies eben mit Primärversorgungszentren (PVZ) und zwar gut 40 Jahre, nachdem das Konzept auf internationalen Konferenzen erstmals aufkam. Weil gut Ding Weile braucht, wurde 2010 erstmals die gesetzliche Basis geschaffen, 2014 wurde in der Zielsteuerung Gesundheit das Konzept der Primärversorgung beschlossen, und 2016 eröffnete schließlich Österreichs erstes Primärversorgungszentrum.
Eine einzelne Allgemeinmedizinerin mit Kassenvertrag hat eine Ordination und vorgeschriebene Öffnungszeiten und muss im Idealfall möglichst viele Patient:innen möglichst genau ansehen, zu Diagnosen kommen und die richtige Therapie verschreiben. Die Ärzt:innenausbildung beinhaltet aber keine wirtschaftlichen Kompetenzen, und besagte Allgemeinmediziner:innen sind oft auf sich alleine gestellt. Gerne wird zur Absicherung auch an Fachärzt:innen, Labors oder Diagnoseinstitute überwiesen. Im Idealfall arbeiten verschiedene Gesundheitsberufe zusammen, sodass Ordinationsassistent:innen oder Pflegekräfte gleich Blutdruck messen, Medikationslisten abgleichen oder statt des Allgemeinmediziners gleich auf eine Fachärztin verweisen. In Primärversorgungszentren gibt es vieles davon unter einem Dach – das soll die Zusammenarbeit erleichtern, eine zweite oder dritte Ärztin in einem Anstellungsverhältnis zur Verfügung stellen und so im Arbeitsalltag generell entlasten.
Schleppender Start
Lange ging es hier aber nur im Schneckentempo voran, was auch daran liegt, dass das Primärversorgungsgesetz erst 2018 beschlossen wurde – obwohl schon 2016 mindestens 80.000 Personen über Primärversorgungszentren versorgt werden sollten. Wie zu erwarten, verlief der Ausbau also schleppend. Hauptgrund dafür, soweit sich das eruieren lässt: die Ärztekammer. 2016 wurde mittels einer Umfrage Stimmung gegen das geplante Gesetz gemacht, als Argument wurde unter anderem angeführt, dass die Bevölkerung (wenig überraschend) gar nicht wusste, was ein PVZ ist. De facto geht es aber um die Konkurrenz zwischen den „regulären“ Kassenverträgen und den Primärversorgungszentren, und so wurde in besagtem Primärversorgungsgesetz vereinbart, dass Versicherungsträger:innen und Ärztekammer Anträge zur Eröffnung eines PVZ gemeinsam genehmigen müssen und diese nur von Ärzt:innen gegründet werden dürfen.
Nachdem aber die Zusammenarbeit verschiedener Gesundheitsberufe das Ziel ist und viele Ärzt:innen nicht selbst die wirtschaftliche Verantwortung übernehmen wollen, erschwerte diese Regelung den Ausbau. So dauerte die Genehmigung von neuen PVZ oftmals sehr lang. Wenn beispielsweise Physiotherapeut:innen die Hauptverantwortung übernehmen wollten, konnte das Zentrum einfach nicht gegründet werden.
So gesehen war es nicht überraschend, dass der Ausbau von Primärversorgungszentren derart langsam voranschritt. In den Budgetplänen wurden in Folge auch immer wieder die Zielzahl an PVZ unterschritten. Bis Wolfgang Mückstein Gesundheitsminister wurde.
Katalysator Pandemie
Mückstein war 2015 an der Gründung des ersten PVZ beteiligt und in der Wiener Ärztekammer für diese zuständig. Ein Job, der wenig befriedigend klingt, wenn man sich vor Augen führt, dass es bis 2019 dauerte, bis Ärztekammer und Versicherungen sich auf einen Vertrag geeinigt haben, wie die Leistungen in PVZ bezahlt werden. Doch auch dann ging durch besagte Vetomöglichkeit bei der Ausschreibung weiterhin viel Zeit verloren. 2020 sollte es 20 PVZ geben, 16 gab es damals. Auch weil die Gebäudesuche und Organisation offenbar teilweise schwierig war und sich die Suche nach dem vorgeschriebenen Team quer über verschiedene Gesundheitsberufe alles andere als einfach gestaltete.
Dank der Pandemie änderte sich aber der Blick auf Gesundheitspolitik. In der EU war Gesundheit bisher klar als nationale Angelegenheit definiert. COVID hat allerdings vor Augen geführt, wie unterschiedlich die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten waren, und in Folge wurden im Aufbau- und Resilienzfonds eigene Mittel zur Verfügung gestellt, um innovativere Versorgungskonzepte voranzutreiben. Eines dieser eingereichten Projekte aus Österreich waren die Primärversorgungszentren, für die so ein eigener Startbonus eingerichtet werden konnte und über eine eigene Website nunmehr Hilfe bei der Beantragung und Gründung angeboten wurde. Inwiefern Mückstein selbst für die Anträge zuständig war, ist unklar, da er zum Zeitpunkt der Einreichung bei der Kommission erst wenige Monate Minister war. Nachdem er für die Grünen aber auch das Gesundheitskapitel verhandelt hatte, ist eine gewisse Beteiligung nicht auszuschließen.
Die Illusion der eierlegenden Wollmilchsau
Funktioniert haben dürfte es jedenfalls. Dank der Förderungen und wohl intensiven Verhandlungen wurde das Veto der Ärztekammer reduziert – in Zukunft können (unter bestimmten Bedingungen) auch andere Gesundheitsberufe zur Geschäftsführung gehören und mit Sommer 2024 gab es rund 70 PVZ in Österreich.
Die eierlegende Wollmilchsau der Gesundheitsversorgung werden PVZ aber trotzdem nicht werden. Natürlich ist es praktisch, längere Öffnungszeiten zu haben, von der Ärztin zum Physiotherapeuten nicht Gebäude wechseln zu müssen oder gleich vor Ort Blutabnahme und Wundversorgung erledigen zu können. Aber den Landarztmangel, wie es so schön heißt, werden PVZ nicht lösen können. Immerhin müssen die vorgeschriebenen Öffnungszeiten auch durch ein gewisses Patient:innenaufkommen gerechtfertigt werden, und nicht überall wird sich die Vielzahl von verschiedenen Gesundheitsberufen (Ergotherapeut:innen, Ernährungsberater:innen oder eben Pflegekräften) auch finden. Aber zumindest in Ballungszentren ermöglichen PVZ, dass mehr Personen angestellt sind und nicht selbstständig arbeiten müssen. Außerdem werden einige Leistungen, die bei Einzeltherapeut:innen nicht bezahlt werden, von den Versicherungsträger:innen in PVZ auch bezahlt.
Trotzdem könnte man etwas flexibler mit dem System umgehen. So gibt es beispielsweise PVZ, in deren Zentrum die Allgemeinmedizin steht oder auch solche mit einem Schwerpunkt auf Kinder- und Jugendheilkunde. Nach wie vor sind diese Einschränkungen aber zu groß. Andere Fachärzt:innen oder Psycho- sowie Physiotherapie, Pflegekräfte und andere medizinische Berufe können nur als Erweiterung zum Kernteam gehören. Beispiele, wenn eben ein Physiotherapeut und eine Ärztin ein PVZ gründen wollen oder ein PVZ seinen Schwerpunkt auf Frauengesundheit legen will, wie es die ÖGK etwa fordert, sind mit dem derzeitigen Gesetz nicht möglich. Dementsprechend muss internationalen Vorbildern nach wie vor gefolgt werden und der Fokus auf Ärzt:innen im System reduziert werden. Denn nur so können die PVZ auch wirklich in der Breite ausgerollt werden und die Versorgung zu Randzeiten auch außerhalb von Krankenhäusern mit kurzen Wegen erfolgen. Mit dem praktischen Nebeneffekt, dass Patient:innen mit einer fixen Anlaufstelle für ihre Gesundheitsversorgung internationalen Ergebnissen zufolge einen besseren Gesundheitszustand und eine höhere Gesundheitskompetenz vorweisen können.