Die erfundene Patientenmilliarde
Die türkis-blaue-Regierung unter Sebastian Kurz ist zwar seit einiger Zeit Geschichte, doch nicht jede Politik vergeht tatsächlich mit dem Ende der Legislaturperiode. So gibt es auch jetzt noch einige „Kurz-Projekte“, die den Wahlkampf 2024 beeinflussen. Eines davon ist die Patientenmilliarde, die nach wie vor als politische Forderung herumgeistert.
Vorweg: Es geht hier nicht um eine Milliarde, sondern die Geschichte gleicht eher dem Konzept des Films „Wag the dog“. Im Zentrum der Patientenmilliarde steht die damalige „Kassenfusion“, die eines der Prinzipien des Föderalismus untergraben hat. Grundsätzlich gibt es in Österreich das Konzept einer Pflichtversicherung, was bedeutet, dass sich niemand selbst aussuchen kann, wo er oder sie versichert ist oder wie viele und welche Leistungen von dieser Versicherung bezahlt werden. Obwohl in einem bundesweiten Gesetz geregelt war und ist, welcher Anteil des Gehalts an die Versicherung zur Finanzierung dieser Leistungen geht, gab es in jedem Bundesland einen eigenen Versicherungsträger für die Angestellten und Arbeiter:innen – die damaligen Gebietskrankenkassen. Zusätzlich gibt es aufgrund anderer Gesetze auch für Beamt:innen, Selbstständige etc. eigene Versicherungsträger, die wiederum ein anderes Ausmaß an Leistungen abgedeckt haben. Insgesamt waren es 21 Versicherungsträger in ganz Österreich, und alleine am Beispiel der Gebietskrankenkassen zeigten sich die Nachteile des Föderalismus sehr eindeutig. Denn durch die Aufteilung auf Bundesländer und die Tatsache, das Versicherungsbeiträge von Gehältern abgezogen werden, hatten Gebietskrankenkassen in Bundesländern mit weniger Arbeitslosen auch immer mehr Geld zur Verfügung. Das ist einerseits logisch, andererseits wird die Systematik des bundesweiten Ausgleichs in der Bevölkerung so untergraben. Immerhin haben manche Bundesländer beispielsweise eine starke Industrietradition, andere haben dafür mehr Landwirte, und diese waren nicht bei den Gebietskrankenkassen sondern in einer anderen Versicherung. Verbesserungen waren also gewünscht, wobei es für den Gesetzgeber besonders schwierig ist, den Versicherungen etwas vorzuschreiben.
Selbstverwaltung – aber was heißt das?
Versicherungsträger sind sogenannte „selbstverwaltende“ Einheiten, was bedeutet, dass sie in Gesetzen Arbeitsaufträge definiert haben. Wie genau diese umgesetzt werden, ist aber ihnen selbst überlassen. So gibt es beispielsweise einige Leistungen, die zwar in Versicherungsgesetzen stehen, für die aber lange Zeit von den Kassen keine Kosten übernommen worden. Oft, weil sie nicht wirklich gezwungen werden können, sondern die Leistungen eingeklagt werden müssen und manchmal auch, weil es unterschiedliche Interpretationen über die Aufgaben gibt. So steht beispielsweise Prävention schon auch im allgemeinen Versicherungsgesetz, Impfungen wurden aber nie als eine solche Präventionsleistung betrachtet, die von den Kassen bezahlt werden sollte. Ein gewisses Durchgriffsrecht gibt es für den Minister nur im Rahmen der Aufsichtsfunktion. Vereinfacht gesagt, kann aus dem Ministerium heraus nur kontrolliert werden, ob die Versicherungsträger nicht verschwenderisch mit Mitteln umgehen. Aber beispielsweise die Frage, wie viele Angestellte bei den Versicherungen sind, war immer nur schwierig zu steuern.
Gerade in Österreich ist das Bild der überbordenden Bürokratie und übermäßigen Beamtenapparates in gewissen Bereichen aber doch (zumindest teilweise) adäquat, und „Sparen im System“ bedeutet deshalb gerne eine Reduktion der Verwaltung. Zugegebenermaßen hat es neun mehr oder weniger gleiche Gebietskrankenkassen mit einem vollständigen Personalstamm gegeben – durch eine Zusammenlegung sind gewisse Effizienzen erwartet worden.
Falsche Hoffnungen
Schwierig ist bei solchen Debatten der Kontext. Sparen im System kann bedeuten, dass weniger Geld für die Verwaltung nötig ist und mehr für die Bevölkerung zur Verfügung steht. Es kann aber genauso gut heißen, dass Schulden reduziert werden müssen und deshalb die Effizienz gesteigert werden muss – für die Bevölkerung oder Investitionen bleibt deshalb nicht unbedingt mehr Geld übrig. Im Fall der Kassenfusion hat man sich für ersteren Weg entschieden, und in der Aussendung des Bundeskanzleramts kündigte Sebastian Kurz an: „Wir sparen im System, wir sparen in der Verwaltung und investieren dafür bis 2023 eine zusätzliche Milliarde Euro für die Patientinnen und Patienten.“
Diese Ankündigung hatte allerdings zwei Haken: Die Milliarde war eine erfundene Zahl, und es klingt, als ob eine Milliarde zusätzlich in die Versicherung gesteckt würde – und das wird bis heute gefordert. Aber zuerst zur Genese der Milliarde. In Österreich hat Ankündigungspolitik einen hohen Stellenwert, und ob der Inhalt einer Überschrift sich dann auch wirklich in einem Gesetz wiederfindet, ist mehr als fraglich. So wurde die Patientenmilliarde im September 2018 das erste Mal angekündigt, gleichzeitig wurde der Gesetzesentwurf für besagte Kassenfusion im Parlament in Begutachtung geschickt. In dieser wurde allerdings nur ein Einsparungspotenzial von 350 Millionen über vier Jahre prognostiziert.
Marketing-Gag
Fünf Wochen später war aus dem Gesetzesentwurf eine tatsächliche Regierungsvorlage geworden, dort war plötzlich von besagter Milliarde die Rede. Wie genau diese entstanden war, konnte auch der Rechnungshof in seiner Prüfung zur Kassenfusion nicht herleiten – in diesem Bericht Ende 2022 war von mangelnden Begründungen und unklaren Herleitungen die Rede. Nachdem gerade die türkis-blaue Regierung zu mehreren innenpolitischen Verwerfungen führte, war die Zusammenlegung auch in folgenden Untersuchungsausschüssen ein Thema, und die (für die Zusammenlegung zuständige Ministerin) Beate Hartinger-Klein bestätigte im Frühjahr 2024 erneut: Die Patienten-Milliarde war ein Marketing-Gag.
Problematisch ist, dass trotz allem daran festgehalten wird. Was vor mehr als einem Jahr vom Rechnungshof belegt wurde, wurde erneut in allen Medien diskutiert, und die SPÖ fordert nach wie vor die Patientenmilliarde und eine Rücknahme der Kassenfusion. Dabei hat die Fusion zumindest dafür gesorgt, dass die Versicherten zumindest in mehr Bereichen als früher gleichwertige Leistungen erhalten. Das scheint aber nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Was übrig bleibt, ist die Forderung nach der Patientenmilliarde.
Wobei es ja auch ein spannendes Element ist, dass deren Erfindung kritisiert und trotzdem die Einhaltung des Versprechens gefordert wird. Damit ist die Patientenmilliarde das Geschenk vom Christkind, wenn man gleichzeitig sagt, dass das Christkind nicht existiert. Ob so zukunftsgerichtete Politik funktioniert, ist mehr als fraglich. Denn bei allen Problemen im Gesundheitssystem gibt es genug Handlungsbedarf, der entschlossenes Handeln mit Blick auf morgen, die Patient:innen und das Personal fordert. Und schlimmstenfalls kann immer noch auf die steigenden Gesundheitsausgaben verwiesen werden. Unter diesen Umständen leeren Versprechen nachzuweinen, ist nicht ganz die Entschlossenheit, die es für nachhaltige Verbesserungen braucht. Zusammenfassend kann man also festhalten, dass die Patientenmilliarde zwar nach einem griffigen Versprechen klang, dieses aber nie das Licht der Welt erblickt hat. Nicht, weil es unvorhergesehene Schwierigkeiten gab, sondern weil eine Umsetzung schlichtweg nicht das Ziel war. Ein echter türkiser Etikettenschwindel also, den man besser in der Vergangenheit lässt.