Die größten Bedrohungen, kurz- und langfristig (2024)
Der neue Global Risk Report zeigt: Im Superwahljahr sind Desinformation und Polarisierung die größten Bedrohungen, langfristig dominieren aber immer noch Klimathemen.
Österreich, Indien, die USA, Russland, die Ukraine und die Europäische Union – in diesen Ländern und vielen anderen wird dieses Jahr gewählt. Ein Fakt, der sich auch auf die globale Bedrohungslage auswirkt: Denn im Superwahljahr 2024 werden Desinformation und Polarisierung zu den größten Bedrohungen.
Zu diesem Schluss kommt das World Economic Forum in seinem „Global Risk Report“, für den über 1.400 Personen aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft befragt wurden. Der Berichtfasst die Ergebnisse zusammen und gibt einen Ausblick über die kommenden Risiken, ihren Schweregrad, ihre Folgen und die Vorbereitung darauf.
Kurzfristig: Gesellschaftliche Spaltung als Hauptrisiko
Wenig überraschend ist in einem Jahr mit so vielen Wahlen die Desinformation das entscheidende Thema. In den USA könnte Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewinnen, was die NATO und damit auch Europas Sicherheit enorm schwächen würde. Und bei den EU-Wahlen im Juni zeichnet sich laut Umfragen ein Rechtsruck ab, was europäische Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik erschwert. Dabei spielt auch russische Wahlbeeinflussung eine Rolle: Erst kürzlich wurde in Deutschland wieder ein Netzwerk von Kreml-Trollen aufgedeckt.
Damit einher geht die gesellschaftliche Polarisierung als Platz 3 der kurzfristigen Risikostatistik. Durch Desinformation leidet der gesellschaftliche Zusammenhalt, beobachtbar durch Bürgerkriegs-Rhetorik in sozialen Medien. Auf gemeinsame Fakten, ob im Bereich Umwelt oder Bildung, können sich viele Gesellschaften immer weniger verständigen. Das World Economic Forum warnt insbesondere davor, dass das Vertrauen in faire Wahlen leide. Gleichzeitig leiden die Menschenrechte weltweit unter dieser Polarisierung – oft reagieren Regierungen mit Überwachung und Zensur, sozial führt die Polarisierung zu Hetze und Gewalt.
Ein Phänomen, das auch mit diesen Problemen verbunden ist: die zunehmende Zahl zwischenstaatlicher Konflikte. Während in Europa der Krieg in der Ukraine und in Gaza am meisten Medienberichterstattung bekommen, eskalieren viele weitere Krisenherde auf der Welt: etwa der Konflikt zwischen Venezuela und Guyana, aber auch viele Bürgerkriege in der Sahelzone. Die russischen Fahnen, die in vielen afrikanischen Staaten hochgehalten werden, weisen auf den Zusammenhang zwischen Desinformation, Polarisierung und Krieg hin – ein Teil dessen, was die Geopolitik-Expertin Velina Tchakarova als „Kalter Krieg 2.0“ bezeichnet.
Kurz- wie langfristig relevant sind Risiken durch Cyber-Angriffe und die Auswirkungen von Migration. Das Ausmaß des letztgenannten Problems wird mit der Zeit weiter steigen, weil alle anderen genannten Probleme zu mehr Zuwanderung in sichere Staaten führen werden: Sowohl zwischenstaatliche Konflikte als auch Polarisierung und Desinformation führen zu einem gesellschaftlichen Klima, das viele dazu bringt, ihre Heimat zu verlassen. Langfristig wird dieser Trend noch schlimmer, weil es auch „Klima-Flüchtlinge“ geben wird, wenn mehr und mehr Regionen unbewohnbar werden.
Langfristig: Klimawandel wirkt sich auf alle Bereiche aus
Das langfristig wichtigste Thema ist eines, das in den polarisierten Wahlkämpfen von 2024 in Vergessenheit zu geraten droht: Extremwetterereignisse. Hinter diesem technischen Wort verstecken sich Auswirkungen des Klimawandels, der für schwerere Stürme, heißere Städte, extremere Hitzesommer, mehr Tropennächte und brutalere Dürren sorgt. Dadurch, dass die Luft länger sehr heiß und trocken bleibt, wird aber auch sehr starker Platzregen häufiger: Es steigt also auch die Hochwassergefahr. Dieser Trend wird weiter zunehmen, solange die Staaten der Welt ihre Klimaziele nicht erreichen.
Außerdem warnt das World Economic Forum vor der kritischen Veränderung der Erdsysteme, also sogenannten Kipppunkten. Einfach erklärt: Gewisse Grenzen des Weltklimas können nicht, oder zumindest nur sehr, sehr langfristig, rückgängig gemacht werden. Wenn das 1,5-Grad-Ziel verpasst wird – was laut wissenschaftlichen Erkenntnissen sehr wahrscheinlich schon passiert ist –, werden wir den Planeten nicht mehr kühler bekommen, sondern können nur noch weitere Konsequenzen bekämpfen. Das Abschmelzen der Arktis, Auswirkungen auf den Golfstrom etc.: All das sind natürliche Grenzen, die überschritten werden können. Mit verheerenden Konsequenzen.
Auf Platz 3 der langfristigen Risiken: das Artensterben. Die öffentliche Debatte zum Thema Umweltschutz beschäftigt sich großteils mit dem Einsparen von CO2 – aber selbst wenn das gelingt, sterben viele Tier- und Pflanzenarten durch ganz andere Umweltprobleme aus. Etwa die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung ist von der Natur abhängig, der Zusammenbruch von Ökosystemen wird weitreichende wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen haben. Dazu gehören das Auftreten von Zoonose-Krankheiten – also Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übergehen –, aber auch Rückgänge von Ernteerträgen und Nährwerten insgesamt. Dieses Problem nimmt im Vergleich mit dem Global Risk Report 2023 (über den wir auch berichtet haben) am schnellsten zu.
Die „Polykrise“ ist alive and well
Wenn eine Regierung etwa Maßnahmen für mehr Klimaschutz tätigen will, muss sie mit Desinformation aus mehreren Richtungen rechnen – weder Wladimir Putin noch die fossile Industrie hat Interesse daran, dass die Welt zu schnell auf Erneuerbare umsteigt. Diese Desinformation führt zu gesellschaftlicher Polarisierung, was zur Folge haben kann, dass man erst recht für Klimaschutz abgewählt wird. Für viele kann das wie ein Anreiz wirken, 2024 nicht zu viel über das Klima zu reden.
Auf der anderen Seite müsste man genau das tun, wenn man mehr Migration durch die Folgen des Klimawandels verhindern will, was auch im Interesse vieler Rechter wäre, die sonst gerne mit dem Thema spalten.
Kritische Ausgangslage im Superwahljahr
Es ist also eine verzwickte Lage. Aber die gute Nachricht ist: All diese Sicherheitsrisiken sind lösbare Probleme. Wir können viele Kipppunkte immer noch aufhalten – aber je länger die Staaten der Welt mit entsprechenden Reformen warten, desto drastischer werden die Einschnitte in der Zukunft werden müssen. Und diese Reformen braucht es in vielen Bereichen: vom persönlichen Verkehr bis zum Gütertransport, vom Nahrungsmittel- bis zum Konsumbereich, von Staaten über Unternehmen bis zum individuellen Menschen.
Wie sich diese Risiken entwickeln werden? Das hängt vor allem davon ab, wie gut die Staaten der Welt zusammenarbeiten – aber auch davon, wie schnell und katastrophal sich die Folgen des Klimawandels auswirken. Gerade im Superwahljahr steht die Politik vor mehreren Mammutaufgaben. Denn auch, wenn sich die hohen Lebenserhaltungskosten bald beruhigen sollten, werden die Herausforderungen nicht kleiner.