Die Mental-Health-Krise der Jungen
Während der Corona-Pandemie wurde oft, oder zumindest immer öfter, über junge Menschen diskutiert. Als in den Lockdowns die Müll-Infrastruktur den Massen an Jugendlichen im Freien nicht standhielt, wurden sie in wutentbrannten Postings für Egoismus kritisiert. Als es darum ging, ältere Menschen zu schützen, verlangte man ihre Solidarität, und als die meisten Corona-Maßnahmen aufgehoben wurden, galten sie als Grund dafür – sie hätten sich immerhin lange genug eingeschränkt.
Aber „auf die Jugend schauen“, das heißt mehr, als keine Corona-Maßnahmen aufrechtzuerhalten. Denn nicht erst seit 2020 leiden die Jungen besonders unter psychischen Problemen. Und bislang scheint es nicht so, als wäre dieses Thema auf der politischen Agenda.
Das Ausmaß des Problems
Wie viele Jugendliche an einer psychischen Erkrankung leiden, ist nicht genau feststellbar. Es gibt aber mehrere Untersuchungen, die zwei Schlüsse nahelegen. Erstens: Es sind viele, viel zu viele. Und zweitens: Es werden mehr.
Der Depressionsbericht Österreich, der vom Sozialministerium herausgegeben wird, stellt zur Mental-Health-Situation der Jugend Folgendes fest:
„Von österreichischen Kindern und Jugendlichen im Alter von 10-18 Jahren sind rund 2,9 Prozent zu einem Zeitpunkt von einer depressiven Erkrankung betroffen. Im Jahr 2010 zählte Österreich im Vergleich mit zehn europäischen Ländern zu den Ländern mit der geringsten Häufigkeit depressiver Symptomatik bei 14- bis 16-Jährigen.“
Eine Studie aus diesem Jahr spricht aber eine andere Sprache. Demnach haben 47 Prozent der Mädchen und 33 Prozent der Burschen wiederkehrende Suizidgedanken. Laut den Daten zeigen 62 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Burschen eine mittelgradige depressive Symptomatik auf. Junge Frauen scheinen auch insgesamt stärker betroffen zu sein: 49 Prozent von ihnen leiden an Ängsten, verglichen mit 29 Prozent bei jungen Männern. Auch bei Schlafstörungen sind Mädchen mit 28 Prozent stärker betroffen als Burschen mit 17 Prozent.
Eine andere Untersuchung der Stadt Wien ergibt, dass 58 Prozent der Wiener:innen zwischen 16 und 34 angaben, dass sich ihre psychische Situation während der Pandemie verschlechtert habe. Bei den Älteren sind es gerade mal 39 Prozent.
Verschlechterung während der Pandemie
Als Ursache dafür wird u.a. das Social Distancing während der Lockdowns genannt. Laut Freiheitsindex, der vom NEOS Lab und SORA erstellt wurde, gibt mehr als ein Drittel aller Befragten unter 29 an, dass sich ihre psychische Gesundheit negativ verändert hat, in der Gruppe der Schüler:innen und Student:innen sind es 25 Prozent.
Eine ähnliche These vertritt der Psychiater Christoph Pieh. Er ist Mitautor der oben genannten Studie zu psychischen Problemen bei Jugendlichen, forscht an der Donau-Universität Krems und hat bereits an zahlreichen Studien mitgewirkt, die sich mit mentaler Gesundheit beschäftigen.
Seine Untersuchungen zeigten 2021 – quasi als „Zwischenstand“ der Pandemie-Auswirkungen –, dass sich die Corona-Maßnahmen deutlich auf die psychische Gesundheit auswirkten. Demnach erhöhten sich depressive Störungen alleine durch den ersten Lockdown um das Vierfache, Angstsymptome stiegen fast im gleichen Ausmaß. Auch Schlafstörungen haben sich zwischen „vor Corona“ und April 2020 verdoppelt. Die Zahlen stiegen erneut, als im Herbst 2020 der nächste Lockdown losging, der nicht der letzte sein sollte.
Im Gespräch mit Materie erklärt Pieh, dass es „von Beginn an einen starken Anstieg“ bei den Symptomen psychischer Erkrankungen gab. Den speziellen Fokus auf Jugendliche legte er, als Jüngere aus seinem Umfeld ihm privat durchgeführte Umfragen zu psychischer Gesundheit zeigten. Anfangs war er noch skeptisch, wie pessimistisch dieses Bild war. „Aber das hat sich leider bestätigt.“
Interessant ist, dass aus seiner Sicht nicht die Lockdowns an sich verantwortlich für die Beeinträchtigung der mentalen Gesundheit waren. Viel eher sei der Effekt durch die Pandemie konstant hoch gewesen, ohne dass es einen signifikanten Lockdown-Effekt gegeben habe. „Ein wesentlicher Faktor, der das erklären kann, ist der Faktor Zeit. Es dauert jetzt einfach schon lange. Eine gewisse Zeit kann ich etwas kompensieren, wenn ich resilienter Mensch bin. Aber dann kippt etwas.“ Ein Beispiel dafür ist das Distance Learning – auch im Winter 2021/22 zeigte sich noch einmal eine deutliche Verschlechterung.
Ein ähnlicher Anstieg ist auch international bemerkbar: Laut Angaben der WHO stieg die Zahl der Diagnosen von Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen etwa alleine im Jahr 2020 um 25 Prozent. Bei Menschen zwischen 15 und 29 sei Suizid die vierthäufigste Todesursache.
Diese Zahlen sollen also nicht nahelegen, dass das alleine auf Österreichs Gesundheitspolitik zurückzuführen ist und es ein rein nationales Problem wäre. Trotzdem ist das Thema eines, dem sich die Politik annehmen sollte. Nur die wenigsten würden bestreiten, dass man bei körperlichen Problemen in eine Arztpraxis gehen sollte – mit psychischen Problemen wird man als Bürger:in ohne genug Budget allerdings oft allein gelassen.
Geld allein löst kaum Probleme
Denn in Österreich gibt es nur wenige Kassenplätze für Psychotherapie. Die Österreichische Gesundheitskasse übernimmt die Kosten nur nach ärztlicher Untersuchung und bestätigter psychischer Krankheit, und das auch nur bei ihren Vertragspartner:innen. Diese passen aber auf drei A4-Seiten im Querformat – nicht genug, um die hohe Anzahl an Jugendlichen adäquat zu betreuen. Dazu kommt noch, dass es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht nur einen enormen Personalmangel, sondern auch starke regionale Unterschiede gibt. Kurz: Österreich hat nicht die Infrastruktur, um großen Massen depressiver Jugendlicher zu helfen.
Und als wäre das nicht genug: Geld alleine könne die Probleme aber ohnehin nicht lösen, meint Pieh. Dieses werde aber vor allem für Behandlungen verwendet, könne damit aber nur einen sehr kleinen Teil abdecken:
„Das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein. Da fehlt eine Null.“
Christoph Pieh
Was braucht es also sonst noch, um diese Mental-Health-Krise in den Griff zu bekommen? „Es braucht einen Master-Plan, aber den gibt es leider nicht. Es gibt kaum jemanden, der sich vernünftig darum Gedanken macht, wie der aussehen könnte. Und auch ich habe ihn nicht.““” Vereinzelte Möglichkeiten, wie man die mentale Gesundheit der Jugend stärken kann, sieht Pieh in Angeboten zur Online-Selbsthilfe. „Jugendliche brauchen in der Schule Aufklärung über psychische Erkrankungen. Was kann man selber tun, was soll man unterlassen?“
Dabei sehe er einen Punkt, der von Jugendlichen nicht gerne gehört werde: „Nicht wahnsinnig angenehm für Jugendliche: Screentime reduzieren. Mit jeder Stunde vor einem Bildschirm nehmen alle Symptome psychischer Erkrankungen zu und das Wohlbefinden ab. Genau umgekehrt verhält es sich mit Bewegung.“
Die Folgen der Mental-Health-Krise
Psychische Erkrankungen wirken sich auf alle möglichen Bereiche des Lebens aus. Am Arbeitsplatz kann sich eine Depression auf die Produktivität auswirken, aber auch die Angst, darüber mit den Kolleg:innen zu sprechen, kann lähmend wirken. Wer unter einer psychischen Erkrankung leidet, zieht sich oft aus seinem sozialen Umfeld zurück, wodurch nicht nur Betroffene, sondern auch Angehörige leiden können. Laut Pieh sind Jugendliche davon besonders betroffen:
„Jugendliche durften jetzt sehr lange nicht die Dinge machen, die sie normalerweise gerne machen. Das Hoffnungsgefühl, dass die Welt besser wird, ist nicht mehr so da wie früher. Und die Sorge über Corona und Distance Learning wird abgelöst durch den Ukraine-Krieg oder die Teuerung.“
Christoph Pieh
Wem das alles zu sehr „Einzelbeispiel“ ist, der kann auch das größere Ganze sehen. Der Staat hat ein fundamentales Interesse an der Gesundheit seiner Bürger:innen, mental wie körperlich. Wer krank ist, ist (nicht immer, aber oft) weniger produktiv, was zu weniger Wertschöpfung und weniger Einnahmen führt, mit denen der Staat seine Aufgaben erfüllen kann. Wer krank ist, verbringt logischerweise mehr Zeit in den diversen Stellen des Gesundheitssystems: mehr Arztbesuche, mehr Fahrten mit der Rettung, mehr Spitalsaufenthalte.
Und im schlimmsten Fall: mehr Begräbnisse. Denn zu oft führen psychische Erkrankungen zum Tod. Menschen mit depressiven Erkrankungen haben ein 20-fach erhöhtes Suizidrisiko, umgekehrt finden über 50 Prozent der Suizide im Rahmen von akuten depressiven Störungen statt. Wenn also jemand in der Politik sagt, dass „auf die Jugend geschaut werden muss“, reicht es nicht, keine Lockdowns mehr einzuführen – das Thema Mental Health muss dringend auf die gesundheitspolitische Agenda.