Die neue „Generation Revolution“ des Iran
„Green Movement“, „Girls of Revolution Street“, „Uprising of the Thirsty”: Der Iran hat eine lange Historie an Protesten. Doch diesmal ist alles anders. Am 16. September dieses Jahres stirbt Mahsa Amini, eine junge Kurdin, an den Folgen brutaler Gewaltanwendung durch die iranische „Sittenpolizei“. Drei Monate später ist das Land noch immer in Aufruhr.
Den Namen Mahsa Amini kennt im Iran mittlerweile wohl jedes Kind. Und auch der Rest der Welt kennt die Geschichte der 22-jährigen Kurdin, deren Tod ein ganzes Land in den Ausnahmezustand versetzt hat. Die berüchtigte Moralpolizei des Iran hat an Amini die staatliche Kopftuchpflicht unverhältnismäßig brutal durchzusetzen versucht. Als sie an ihren Verletzungen stirbt, löst das die schwersten Unruhen im Iran seit Bestehen der Islamischen Republik aus. Aber warum gerade jetzt? Schließlich hat es im Iran in den letzten 43 Jahren seit der Revolution von 1979 immer wieder Proteste gegeben, mal heftiger, mal schwächer. Was ist dieses Mal anders?
Die Gründe für die vergangenen Proteste waren unterschiedlich: 1993 protestierte die Bevölkerung gegen die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes infolge des Ersten Golfkriegs und der internationalen Isolation. Das Verbot einer liberalen Zeitung sorgte 1999 für Proteste von Studierenden, woraufhin es zu regelrechten Straßenkämpfen und schließlich der brutalen Niederschlagung durch die Sicherheitskräfte kam. Infolge der Wiederwahl des damaligen Präsidenten Mahmud Ahmadineschad kam es 2009 zu Unruhen („Green Movement“), da ihm Wahlbetrug vorgeworfen wurde. 2019 trieb der plötzliche starke Anstieg der Benzinpreise vor allem die ärmere Bevölkerung auf die Straßen. Im Vorjahr breiteten sich wegen Wasserknappheit („Uprising of the Thirsty“) und Stromausfällen und der generell schlechten wirtschaftlichen Lage im ganzen Land Proteste aus.
Allen Aufständen gleich war die brutale Niederschlagung durch das herrschende System von Machthaber Ali Khamenei.
Jahrzehntelange Auflehnung gegen das Kopftuch
Die aktuellen Proteste begannen im September dieses Jahres als unmittelbare Reaktion auf den Tod von Amini mit feministischem Fokus. Viele Wochen später haben sie sich zu einer zivilgesellschaftlichen Bewegung ausgeweitet. Es geht nicht mehr „nur“ um die Rechte der Frauen, es geht um die Emanzipation der gesamten Gesellschaft vom theokratischen Regime.
Proteste gegen die Kopftuchpflicht gibt es, seit es die Islamische Republik gibt. Schon Anfang 1979 gingen zehntausende Frauen auf die Straße, um gegen das frauenfeindliche Vorgehen der neuen Regierung zu demonstrieren. Vermutlich weil bereits diese ersten Proteste mit Gewalt beendet wurden, haben die Iranerinnen ihren Unmut seither subtiler geäußert. Seit Jahrzehnten testen sie die Grenzen der Gesetze aus: So wurden die Mäntel immer kürzer und enger, die Kopftücher bunter und lockerer. 2014 trugen so viele Frauen hautenge Leggings, dass sich das Parlament mit der zu laschen Kontrolle der Kleidungsvorschriften auseinandersetzte.
Weit weniger subtil war eine Reihe an stillschweigenden, friedlichen Protesten 2017 und 2018, bei denen Frauen an öffentlichen Plätzen ihr Kopftuch abnahmen und es wie eine Fahne schwenkten. Die erste Aktion dieser Art kam von Vida Movahed während einer Demonstration gegen den damaligen Präsidenten Hassan Rohani in der Teheraner Revolutionsstraße. Sie und ihre zahlreichen Nachahmerinnen wurden bekannt als die „Girls of Revolution Street“.
Generation Revolution
Die zahlreichen Akte zivilen Ungehorsams, die derzeit von Frauen im ganzen Land begangen werden – Abnehmen des Kopftuchs, öffentliches Schneiden der Haare, Tanzen und Singen in den Straßen – bauen auf den mutigen Aktionen der Frauen aus der Revolutionsstraße auf. Doch diesmal wird nicht mehr still protestiert, diesmal schreien die Iranerinnen ihren seit Jahrzehnten aufgestauten Frust laut in die Welt hinaus.
Ein wichtiges Hilfsmittel dabei ist das Internet. Das ist auch dem Regime bewusst, weshalb der Iran schon am Anfang der Proteste schnell „vom Netz genommen“ wurde. Seit den Protesten 2019 setzten die Mullahs immer wieder auf gedrosseltes Internet, um das ganze Ausmaß ihrer Brutalität und Menschenverachtung so gut wie möglich vor dem Rest der Welt zu verbergen. Doch ein großer Teil der Protestierenden zählt zur Gen Z, sie sind „Digital Natives“ und bewegen sich anders durchs Netz als die Generationen davor. Sie sind mit sozialen Medien aufgewachsen und wissen diese für ihre Zwecke zu nutzen – sei es, um sich mit anderen Demonstrierenden zu vernetzen oder ein Millionenpublikum außerhalb des Iran über die Vorgänge im Land zu informieren.
Das junge Durchschnittsalter im Iran mag ein weiterer Grund dafür sein, dass die Protestierenden so mutig und standhaft sind. Sie sind in der Islamischen Republik aufgewachsen, das Schah-Regime kennen sie nur noch aus Erzählungen, ebenso die Zeit des Krieges mit dem Irak. Sie sehen nicht ein, dass ihnen grundlegende Freiheiten verwehrt bleiben, die sie tagtäglich bei anderen jungen Menschen auf Social Media sehen können. Sie haben erlebt, wie die Generationen vor ihnen friedlich für Reformen demonstriert haben – und damit erfolglos geblieben sind. Die Generation Z hat nichts mehr zu verlieren, vielleicht stellt sie sich deshalb so furchtlos und vehement gegen den übermächtigen Gegner.
Ist es eine oder ist es keine Revolution?
Lange will diesmal niemand das Wort „Revolution“ in den Mund nehmen – im Iran hat es schließlich eine spezielle Bedeutung. Lange wird „abgewartet“. Eben weil es im Iran in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu Protesten gekommen ist und die meisten davon blutig niedergeschlagen wurden, gehen auch im Jahr 2022 viele davon aus, dass von den aktuellen Demonstrationen nicht viel übrig bleiben wird außer Verhaftungen, Verletzungen und Todesopfer.
Und doch ist in diesem Jahr etwas anders: Erstmals erfassen die Proteste alle Regionen, alle Religionen, alle Geschlechter. Zwar werden sie von jungen Iranerinnen, allen voran den Studierenden, getragen, doch alle Altersgruppen und auch Männer haben sich angeschlossen. Die Proteste haben sich mittlerweile zur größten Herausforderung für die geistliche Führung seit Bestehen der Islamischen Republik ausgewachsen. Erstmals stehen die Frauenrechte an erster Stelle, „Frauen, Leben, Freiheit!“ wird zum Schlachtruf. Und er impliziert, dass ein freies Leben im Iran nur möglich ist, wenn dieses eben auch für die Frauen gilt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Ethnizität. Mahsa Amini war Kurdin und Sunnitin, beides Gruppen, gegen die das schiitische Regime besonders gewaltvoll vorgeht. Die Demonstrationen haben ihren Ausgang in den Kurdengebieten genommen, in Aminis Heimatstadt Saqqez, und sind dort nach wie vor besonders groß. Was die Proteste aber so stark macht, ist die Ethnien übergreifende Geschlossenheit der Protestierenden. Für den Vielvölkerstaat Iran, in dem die ethnischen Spannungen zuletzt wieder zugenommen hatten, ist das ein Novum.
Die Angst vor einem „zweiten Syrien“
Die schwierige wirtschaftliche Lage des Iran und die damit einhergehende Verarmung der Mittelschicht, gegen die bereits in den Jahren zuvor protestiert wurde, haben wohl die Unterstützung der breiten Bevölkerung für die aktuellen Proteste begünstigt. Auch wenn sie ihren Ausgang in den großen Städten nahmen, haben sie spätestens mit der Solidarisierung der Händler und der für den Iran immens wichtigen Öl- und Gasbranche das gesamte Land umfasst.
Auch wenn derzeit kein Ende der Revolte in Sicht ist, die Bevölkerung weiterhin Seite an Seite protestiert und kämpft, und mittlerweile doch immer öfter das Wort „Revolution“ zu hören ist – diesmal wird ein Umsturz, sollte er tatsächlich kommen, weniger schnell eintreten als 1979. Denn anders als damals gibt es diesmal keine Ideologie, keine Religion als treibende und einende Kraft. Zudem ist das Regime unter Ali Khamenei um ein Vielfaches brutaler und skrupelloser, als es das Schah-Regime war. Das Foltern, Vergewaltigen und Morden bringt nach wie vor viele Iraner:innen zum Schweigen.
Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie es nach einem Sturz des Regimes weitergehen könnte. Anders als bei der Revolution 1979 ist die Opposition heute stark zersplittert und arbeitet nicht zusammen. Dass die unzähligen, teilweise kleinen Gruppierungen aber nach einem etwaigen Sturz für stabile Verhältnisse im Land sorgen können, wäre wichtig. Denn die Angst, dass der Fall des Regimes einen Bürgerkrieg auslösen und das Land ins Chaos stürzen könnte, wie es das abschreckende Beispiel des Nachbarn Syrien zeigt, ist in der Bevölkerung groß.
Die vermeintliche Abschaffung der „Sittenpolizei“
Als Anfang Dezember in westlichen Medien die Nachricht die Runde macht, die sogenannte Sittenpolizei solle abgeschafft werden, wird das als erster Erfolg für die Protestierenden gefeiert. Schnell wird klar, dass es sich dabei nur um eine Nebelgranate der Mullahs handelt. Seit 2005, als diese Moralpolizei vom Regime eingerichtet wurde, patrouillieren ihre Vertreter:innen im ganzen Land und verhaften oder bestrafen Frauen, die sich nicht an die vermeintlichen Sitten des Landes, sprich an die geltenden Kleidungsvorschriften, halten. Ebendiese Sittenpolizei nahm am 13. September auch Mahsa Amini in Gewahrsam.
Die Abschaffung der Moralpolizei war schon eines der zentralen Wahlversprechen von Hassan Rohani, Präsident von 2013 bis 2021. Er versprach auch, Frauen als Ministerinnen einzusetzen und generell die Situation der Frauen im Iran verbessern zu wollen. Ähnliche Versprechen machte schon sein Vorvorgänger und erster Reformer Mohammad Khatami, Präsident von 1997 bis 2005. Beide scheiterten mit ihren liberalen Vorhaben am komplexen politischen System des Iran – und am Widerstand der religiösen Hardliner. Die obersten Gremien des schiitischen Klerus haben in wichtigen Belangen, angefangen von der Zulassung von Kandidaten für Wahlen bis zur Begutachtung von Gesetzen, stets das letzte Wort.
Rohanis Nachfolger, der seit August 2021 amtierende Präsident Ebrahim Raisi, hat die Sittenpolizei gar noch gestärkt, die Repressionen gegen Frauen wurden schlimmer. Dass ausgerechnet unter ihm jetzt die Sittenpolizei abgeschafft werden soll, ist schwer zu glauben. Zumal sie nur eines von vielen Instrumenten ist, mit denen die iranischen Frauen systematisch unterdrückt werden. Denn auch die Revolutionsgarden, die Polizei und die Basidsch-Milizen sind für die Umsetzung der frauenfeindlichen Kleidungsvorschriften, die unzertrennbar mit der Islamischen Republik verbunden sind, verantwortlich.
Und auch sonst ist von Deeskalation oder Reformierung nichts zu spüren, ganz im Gegenteil. Mehr als 20 Todesurteile wurden von der iranischen Justiz bereits gegen Teilnehmer:innen der Proteste verhängt, bisher wurden zwei vollstreckt. Weit höher liegt jedoch die Zahl an Tötungen durch die iranischen Sicherheitskräfte. Über 450 Menschen, darunter mehr als 60 Minderjährige, sollen bei den landesweiten Protesten ums Leben gekommen sein. Die Hintergründe sollen verschleiert werden: So wurden Angehörige von den Behörden zu schriftlichen oder Video-Stellungnahmen gezwungen, in denen jegliche Schuld der Sicherheitskräfte negiert wird. Durchgesetzt werden solche „Reinwaschungen“ mit äußerster Brutalität: Angehörigen wird gedroht, die Leichen der Kinder an unbekannte Orte zu bringen, oder auch Geschwisterkinder oder die Eltern selbst festzunehmen, zu vergewaltigen oder zu töten.
Oppositionelle lassen das Regime zittern
Bereits kurz nach Mahsa Aminis Tod reagierten die USA und die EU mit Empörung – und Sanktionen. Diese trafen etwa die „Sittenpolizei“, mehrere Minister, Mitglieder des Geheimdienstes sowie leitende Vertreter der Gefängnisbehörden. Auch der staatliche Sender IRIB und einige dort beschäftigte Journalist:innen wurden auf die Sanktionsliste gesetzt. Sie sollen verantwortlich sein für die gewaltsam erzwungenen Videogeständnisse, die der Staatssender dann ausstrahlte.
Auch die iranische Opposition, so zersplittert sie sein mag, versucht den Druck auf das Regime aufrechtzuhalten. Nachdem der ehemalige Präsident Mohammad Khatami seine Unterstützung für die Protestbewegung erklärte, haben das auch Familienmitglieder von Revolutionsführer Khamenei getan. Seine Nichte Farideh Moradkhani, die bereits mehrmals wegen ihrer Menschenrechtsaktivitäten in Haft war, forderte in einer viel beachteten Videobotschaft die internationale Isolierung des Iran. Als sie kurz darauf verhaftet wird, stellt sich auch ihre Mutter Badri Hosseini Khamenei, Schwester des Machthabers, öffentlich gegen das „despotische Kalifat“. Einer der wohl breitenwirksamsten Proteste kam vom iranischen Fußball-Nationalteam bei der Weltmeisterschaft in Katar. Bei ihrem ersten Spiel verweigerte die gesamte Mannschaft das Mitsingen bei der Nationalhymne.
Dass Aktionen wie diese von beliebten Oppositionellen oder berühmten Personen dem Regime tatsächlich Sorge bereiten, zeigt die geleakte Aufnahme eines Gesprächs der iranischen Führungsriege. Darin wird deutlich, dass die Regierung sich der Ausmaße der Proteste durchaus bewusst ist. Man könne bekannte Kritiker:innen nicht einfach töten, denn das würde die Wut der Protestierenden noch weiter steigern, bedauern die Männer in dem über zweistündigen Gespräch.
Es ist das große Dilemma jeder Diktatur: Wird gegen Proteste zu lasch vorgegangen, können sie sich zu großen Bewegungen entwickeln, die dann nur noch schwer zu stoppen sind. Wird hingegen von Anfang an zu brutal reagiert, kann das die Wut und Empörung einer breiteren Masse erregen und den Protesten erst recht Aufwind geben. Egal wie das weitere Vorgehen des iranischen Regimes aussehen wird – dank der jungen, furchtlosen Iraner:innen sieht die Weltöffentlichkeit genau hin.