Die „Tagespresse“ hat eine neue Verfassung geschrieben
Die „Tagespresse“, das wichtigste österreichische Satiremedium, greift die Sommerlochdebatten der Regierung auf – mit einem Verfassungsentwurf, der die politische Debatte aufs Korn nimmt.
Österreich steckt im Sommerloch. Das merkt man an den Diskussionen, die wir gerade führen. Statt zu diskutieren, was im Parlament beschlossen werden soll – es ist ja gerade in der Sommerpause –, geht es hauptsächlich um symbolische Gesten. Zuletzt drehte sich die öffentliche Debatte einige Wochen lang darum, was eigentlich „normal“ sei und ob man nur für die „Normalen“ da sein solle.
Außerdem soll Bargeld in der Verfassung verankert werden, wenn es nach dem Bundeskanzler geht. Obwohl das erstens ein EU-Thema ist und zweitens von der EU durch die Verträge auch garantiert wird. Um den Status quo beim Bargeld zu ändern, bräuchte es eine Mehrheit im Europäischen Parlament und unter allen 27 EU-Regierungen. Österreich muss also wirklich nichts ändern, um beim Papier zu bleiben – aber das ist für die Debatte anscheinend nebensächlich.
Das Satire-Medium Die Tagespresse greift diese Debatten jetzt auf. Auf ihrer Website veröffentlicht sie einen Artikel mit dem Titel „Damit jeder Gesetze reinkritzeln kann: Regierung gibt Verfassung als Google Docs frei“. Der Text besteht aber nicht nur aus einer ausschweifenden Beschreibung dieses Witzes – sondern auch aus einem echten Google-Dokument, in dem zahlreiche Internet-User eine Art Meme-Verfassung geschrieben haben.
Was in der Tagespresse-Verfassung steht
Dass dieses Dokument als Kritik an der ÖVP zu verstehen ist, merkt man daran, welche Schlagworte immer wieder vorkommen: „Raiffeisen“ kommt 5-mal vor, „Raika“ 3-mal. Das Wort „normal“ kommt dafür in diversen Varianten 84-mal vor. Normale Menschen dürften auch nicht Subjekte von Witzen sein, denn das sei gemein. Nur „Abnormale“ und Minderheiten dürften Subjekte von Humor sein.
In der Tagespresse-Verfassung werden auch politische Debatten aufgegriffen: Die Einnahme von Psychopharmaka sei „Staatsbürgerpflicht“, die Niederösterreichischen Nachrichten, denen oft ein Näheverhältnis zur ÖVP nahegelegt wird, sind nun der „einzig glaubwürdige Staatsfunk“. Landkinder dürften sich nicht länger als 24 Stunden in einer Stadt aufhalten, weil sie sonst als „Greane“ zurückkommen. Ein Auszug anderer Beispiele aus der Verfassung:
- Pflichtmitgliedschaft in der Kirche
- Ivermectin ist zukünftig für alle gratis
- Es gibt ein Recht auf das tägliche (nicht vegane) Schnitzel
- Sämtliche Festplatten in Bund und Land sind alle drei Jahre zu schreddern
- Im Finanzministerium geht es darum, Geld durch dubiose Umfragen zu veruntreuen
Teilweise geht es aber auch um den ganz normalen Alltag in Österreich, der – ähnlich wie eben das Bargeld – einfach in die Verfassung gehört. Zum Beispiel: „Wer an der Billa-Kassenschlange an fünfter Stelle ist und nicht ,Zweite Kassa, bitte‘ ruft, hat seinen Platz verloren und muss sich unverzüglich hinten anstellen!“ Menschen aus Deutschland dürften nicht wie Einheimische behandelt werden, und in Wien wird es niemals einen ordentlichen Bosna geben. Und überhaupt: „Subsidiär gilt: Des hamma imma scho so gmacht, das werd ma a weiter so machn“.
Was lernen wir aus dieser Verfassung?
Vor allem, wie es um den österreichischen politischen Diskurs steht. Wenn in der Öffentlichkeit banale Themen diskutiert und Scheindebatten geführt werden, ist es kein Wunder, dass nicht mal im Scherz eine inhaltliche Forderung entsteht. Das Gesamtprodukt der Tagespresse und ihres Publikums bringt einen zwar zwischendurch zum Lachen, aber der Schmäh „Normal ist nur, wer täglich ein Schnitzel isst“ kommt eindeutig zu oft vor. Weil er eben auch in der öffentlichen Debatte zu oft vorkommt.
Was kein Vorwurf an die Tagespresse ist. Im Gegenteil: Was soll sie denn anderes tun mit einer Regierungspolitik, die inhaltlich stillsteht? Ein Informationsfreiheitsgesetz, ein Klimaschutzgesetz, das Erneuerbare-Wärme-Gesetz, aber auch wichtige Postenbesetzungen stehen aus. Wenn der Kanzler dann nur noch über Normalität, Schnitzel und Bargeld in der Verfassung spricht, kommt eben auch in der Satire eine unglaubwürdig-lächerliche Version davon heraus. Dass die Satire manchmal ermüdend wirkt, liegt auch daran, dass ihr Gegenstand ermüdet.
Im Endeffekt ist diese Verfassung aber auch eine treffende Kritik an der gelernten österreichischen Praxis, alles, was opportun ist, in die Verfassung zu schreiben. Diese wäre eigentlich dafür da, die Kernelemente unseres politischen Systems festzuschreiben – und nicht dafür, eine beliebte, aber sinnlose Forderung zur Sommerloch-Debatte zu machen.
Die ganze Verfassung als Google Doc kann man hier abrufen.