Die unangenehme Wahrheit der Kaja Kallas
„Man bemerkt die Freiheit erst, wenn sie weg ist“, sagt Kaja Kallas. Sie hält gerade für eine Stunde, kurz bevor sie sich mit dem österreichischen Bundeskanzler trifft, eine „Rede an die Freiheit“ – eine Rede, zu der das NEOS Lab zum dritten Mal eingeladen hat. Es ist ein Culture Clash, der hier am 8. Februar im Egon-Schiele-Saal des österreichischen Parlaments stattfindet. Kaja Kallas ist die estnische Premierministerin – und damit Regierungschefin eines Landes, das direkt an Russland grenzt.
Eigentlich haben Österreich und Estland einiges gemeinsam. Sie beide genießen Wohlstand und Frieden, auch durch den EU-Beitritt, wie Kallas betont. Beide waren in ihrer Geschichte Teil totalitärer Systeme, des Nationalsozialismus und der Sowjetunion. Und als kleine Länder liegt es im besten Interesse beider Staaten, dass die internationale Politik auf gemeinsamen Regeln basiert.
Denn kleine Länder verlieren ihre Stimme zuerst, wie Kallas betont. Estland etwa war neutral, bevor die Sowjetunion es in den Superstaat zwang. Sie nennt es „Soviet Prison“, wenn sie über diese Zeit spricht. Der Überfall Russlands damals sei eine Lektion für Estland: Wer Frieden will, müsse dafür kämpfen. Daraus lernte Estland, nie wieder in der internationalen Politik alleine zu sein – und begründete damit den Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO.
„We will never be alone again.“
Kaja Kallas
Trotz dieser Gemeinsamkeiten führt die estnische Politikerin einen ganz anderen Diskurs, als man in Österreich gewöhnt ist. Während man hierzulande nach Luft schnappt, sobald es um die bescheidenste Beteiligung in der internationalen Politik geht, spricht sie von der „Falle der Selbstabschreckung“. Wer glaube, Aufrüstung und Vorbereitung auf einen Krieg führe zu mehr Gewalt, der irre: „Verteidigung ist nicht Eskalation“, sagt sie, und plädiert mit ihren Worten für ein starkes Europa, das sich selbst verteidigen kann.
Die Rede an die Freiheit ist ein Plädoyer für ein Europa, das sich „immer wieder neu erfinden“ müsse. Das sehe sie nicht nur durch den NATO-Beitritt von Schweden und Finnland – zwei Staaten, die ihre lange Tradition der Neutralität als Folge des Ukraine-Kriegs beendet haben –, sondern auch durch den Beitritt Österreichs zu „Sky Shield“ und der Hilfe der Europäischen Union für die Ukraine. Diese müsse man unbedingt weiter aufrechterhalten: Denn erst, wenn Putin erkenne, dass er den Krieg nicht gewinnen könne, werde der Krieg aufhören. Und andernfalls, wenn die Ukraine verliere, dann würde er weiterziehen.
Kaja Kallas bei der „Rede an die Freiheit“. Foto: Stefan Popovici Sachim
Es sei also ganz klar, was Österreich, Estland und Europa brauchen: mehr europäische Zusammenarbeit, Investitionen in die eigene Sicherheit, weitere Hilfe für die Ukraine und ein Weiterführen der Sanktionen, um Russland zu schwächen. Denn die Situation werde auf längere Zeit schwierig bleiben – darauf können sich die EU-Staaten schon einstellen.
Es sind alles richtige Worte, die Kaja Kallas ausspricht. Aber in Österreich wirken sie fast fremd. Im Raum steht die Frage, ob denn „Frieden“ nicht besser wäre – so sind wir es gewöhnt, jede Maßnahme in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss doch den sofortigen Frieden zum Ziel haben. Und sie spricht diesen unausgesprochenen Einwand auch selbst an: „Frieden klingt gut, jeder ist für Frieden. Aber nicht jeder Friedensvertrag führt zu einem nachhaltigen Frieden.“ In Estland bedeutete der „Frieden“ mit der Sowjetunion etwa Massendeportation, die Vertreibung der Elite und die Auslöschung der estnischen Kultur. Man merkt: Das kleine Land im Baltikum hat einen anderen Blick auf die Dinge.
„Freedom is not for free.“
Kaja Kallas
Woran liegt es? An unserem nostalgischen Diskurs über die Neutralität? An unserer Kultur, die zwar alle Vorteile will, aber keine Nachteile? An einer reflektierten Einsicht darüber, dass Österreich ein Freerider ist? Oder etwa an Desinformation?
Das ist zumindest die These, die in der anschließenden Diskussionsrunde mit NEOS-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger und EU-Spitzenkandidat Helmut Brandstätter aufgeworfen wird. Kallas’ Antwort: Österreich sei „wahrscheinlich das einzige Land, dem gegenüber Russland sein Versprechen gehalten hat“ – andere Staaten wurden angegriffen, erobert, unterdrückt. Heute arbeitet der Kreml daran, die Unterstützung für die Ukraine und Europa zu untergraben. Denn nur so bleiben seine Nachbarn schwach. Und Schwäche, das führe am Ende zum russischen Überfall.
Am Ende nimmt man von der „Rede an die Freiheit“ zwei Dinge mit: eine inhaltliche und eine Meta-Ebene. Die inhaltliche ist, dass Europa selbstbewusst und schleunigst stärker werden muss, um Frieden und Wohlstand zu erhalten. Die Meta-Ebene ist aber beinahe noch interessanter: Sie zeigt, dass der politische Diskurs in Österreich noch nicht in der Realität angekommen ist. Hierzulande müsste sich eine Politikerin wie Kaja Kallas tagtäglich Szenarien anhören, von „unseren Kindern an der Grenze“ bis zur „Beteiligung am Atomkrieg“. In Estland, wo die Erinnerung an den brutalen Angriff des Nachbarn noch tief im Gedächtnis verankert sitzt, scheinen diese Bedenken ausgeräumt: Auch als kleines Land verfolgt es eine aktive Außenpolitik und plädiert für mehr Europa. Geprägt wurde der Begriff Zeitenwende vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz. Richtig verstanden wird die Zeitenwende aber in Estland.
Und in Österreich? Wir ignorieren die internationale Politik weiterhin bravourös. Vielleicht treffen russische Narrative in Österreich einfach auf fruchtbaren Boden. Im österreichischen Parlament diskutiert es sich leicht, das Zimmer ist warm, beheizt mit russischem Gas – einer Energiequelle, auf die Estland längst verzichtet, während es 0,25 Prozent seines BIP für militärische Hilfe an die Ukraine ausgibt. Das Schönreden von Russland, das Festhalten daran, wie die Dinge vor der russischen Invasion waren, bezeichnet Kallas als eine „Gefahr für die Demokratie“: Denn wenn wir uns unter prorussischen Vorwänden nicht verteidigen können, ist ganz Europa in Gefahr.
Genau diese Gefahr für die Demokratie, die in der Rede so deutlich herausgearbeitet wird, scheint Estland auf dem Schirm zu haben. In Österreich ist sie fast schon Staatsräson. Die Aussage aber bleibt trotz aller kulturellen Unterschiede eindeutig: Will Europa seinen Frieden und Wohlstand behalten, braucht es Stärke statt Appeasement. Kaja Kallas’ These ist so klar wie emotional formuliert. Die Frage ist nur, ob man sie in Österreich überhaupt hören will.
Die gesamte Rede an die Freiheit hat das NEOS Lab: Als Text auf der Website und als Video auf YouTube.