Die vielen Baustellen der Inklusion und die Sache mit dem Föderalismus
In unserer Gesellschaft hat sich in den vergangen Jahren zweifelsfrei die Sensibilisierung für Inklusion erhöht. Das ist positiv zu bewerten, schließlich kann man die Offenheit und Qualität des Miteinanders auch daran messen, wie die Schwächsten – insbesondere die Jüngsten, die Ältesten und Menschen mit Behinderungen – behandelt werden. Trotzdem gibt es noch reichlich Aufholbedarf. Föderalismus kann hier zum Hindernis werden.
Inklusion ist ein Begriff, den man in den letzten Jahren immer häufiger gehört hat und zu dem sich sowohl Staaten wie auch Unternehmen verpflichten. Was bedeutet Inklusion, also die Teilnahme und Miteinbeziehung aller Menschen, aber konkret?
Das Dokument, um das sich alles dreht, ist die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) – ein Meilenstein und von Österreich bereits 2008 ratifiziert. Ein Meilenstein ist sie aber nur auf dem Papier, denn getan hat sich in den vergangenen 15 Jahren vergleichsweise wenig, obwohl man sich doch mit dieser Unterschrift zur Umsetzung des Dokuments verpflichtet hat. Die UN-BRK umfasst allgemeine Grundsätze wie Chancengleichheit, Barrierefreiheit und Nichtdiskriminierung, aber geht auch ins Detail, z.B. beim Recht auf Bildung:
„Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden.“
Zwar wurden zwei Nationale Aktionspläne zum Thema vorgelegt, die Umsetzung lässt jedoch zu wünschen übrig – insbesondere was die Bildung, den Arbeitsmarkt und die Assistenz angeht. Ja, es wurden Pläne und Ziele verschriftlicht, aber das bringt wenig, wenn man diese nicht umsetzt.
Natürlich ist nicht alles im Bereich Inklusion schlecht. Vieles ist sogar gut, schaut man sich beispielsweise die bauliche Barrierefreiheit in Wien im frisch sanierten Parlament oder viele digitale Inhalte auf Webseiten an. Man könnte, man müsste jedoch wesentlich weiter sein. Denn auch hier gilt die alte Regel: Stillstand bedeutet Rückschritt. Und es gibt noch ein weiteres Problem: Die fehlenden bundeseinheitlichen Regelungen.
Vertikale Gewaltenteilung: Ja, aber …
Gewaltenteilung – also die Trennung von Exekutive, Judikative und Legislative – gehört zu den Grundfesten der Republik Österreich und ist in der Verfassung festgelegt. Eine weitere Form der Gewaltenteilung, zusätzlich zur „horizontalen“, von der meistens die Rede ist, ist die vertikale Gewaltenteilung: Damit sind die verschiedenen Ebenen gemeint, angefangen bei der Kommunalebene über Länder- und Bundesebene bis hin zur Europäischen Union. Vertikale Gewaltenteilung, sprich der Föderalismus, hat historisch eine große Bedeutung, in Deutschland ist sie sogar durch die sogenannte „Ewigkeitsklausel“ im Grundgesetz verankert. Die Begründung: Niemals wieder soll sich Macht an einem Ort konzentrieren.
Vertikale Gewaltenteilung kann auf allen Ebenen für Reibung sorgen, beispielsweise zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Schließlich treffen hier viele verschiedene Interessen und Strukturen aufeinander. Dasselbe gilt natürlich auch für innerstaatliche Ebenen, wo insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen Bund und Ländern für mitunter hitzige Diskussionen sorgt. Das heißt freilich nicht, dass Föderalismus per se schlecht ist – er hat nur seinen Preis. Und dieser bedeutet manchmal eben Dissens oder sogar Stillstand. Im Übrigen in beide Richtungen.
Die innerstaatlichen Spannungsfelder für Inklusion an drei Beispielen
Im konkreten Fall von Inklusion geht es um die alte Frage: Was liegt im Kompetenzbereich der Länder, was in dem des Bundes?
Ein Beispiel: Das Recht für Schüler:innen mit Behinderungen auf ein 11. und 12. Schuljahr. 2022 sorgte eine Bürgerinitiative mit der Forderung eines Rechtsanspruchs auf ein 11. und 12. Schuljahr für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf für mediale Furore. Auch im Parlament liegen die Vorschläge für eine entsprechende Gesetzesänderung seit fast drei Jahren im zuständigen Fachausschuss – wurden dort aber von den Regierungsparteien vertagt. Da Bildungsthemen aber (auch) in den Kompetenzbereich der Länder bzw. Bildungsregionen fallen, können diese hier selbst aktiv werden, auch ohne bundesweiten Rechtsanspruch. So geschehen in Wien: Hier wurde 2023 beschlossen, dass kein Kind abgelehnt wird, wenn es einen Antrag auf ein 11. oder 12. Schuljahr stellt.
Auch im Bereich persönliche Assistenz wären bundesweit einheitliche Regelungen besser als der bisherige Fleckerlteppich. Schließlich gibt man seine Behinderung nicht ab, wenn man von einem Bundesland ins nächste wechselt. Die Realität bedeutet in diesem Fall aber, dass Unterstützungsleistungen in einem Bundesland genehmigt werden, im anderen aber plötzlich nicht mehr. Das bringt nicht nur Frust mit sich, sondern auch eine Welle an unnötiger Bürokratie, mit der sich Menschen mit Behinderungen ohnehin schon über die Maßen beschäftigen müssen. Das vom Sozialministerium vorgestellte Pilotprojekt ist ein erster Schritt, der sich aber noch an der Realität wird messen lassen müssen. Ziel muss sein, dass österreichweit dieselben Kriterien gelten und Leistungen bereitgestellt werden. Das würde allen Beteiligten Bürokratie, Zeit und Geld ersparen.
Ebenso Ländersache sind Tageswerkstätten, in denen Menschen mit Behinderungen für Taschengeld arbeiten und weder sozial- noch pensionsrechtlich abgesichert sind. Die Forderung „Lohn statt Taschengeld“ ist keine neue Idee, von einer Umsetzung ist man aber noch ein gutes Stück entfernt. Statt Menschen mit Behinderungen also in Tageswerkstätten abzuschieben, weil sie als nicht arbeitsfähig gelten, wäre ein nicht-defizitorientierter Ansatz mit einem echten inklusiven Arbeitsmarkt ein besserer Ansatz. In Zeiten von akutem Personalmangel könnte man so eine Win-win-Situation schaffen: Erstens sichert man Menschen mit Behinderungen, die in Tageswerkstätten gearbeitet haben, ab und gibt ihnen dieselben Chancen, die allen am 1. Arbeitsmarkt offen stehen. Zweitens nutzt man dadurch derzeit ungenutztes Potenzial an arbeitswilligen und -fähigen Menschen.
Alles, was man braucht, liegt schon auf dem Tisch
Das Gute zum Schluss: Niemand muss im Bereich Inklusion das Rad neu erfinden. Man kann auf Best-Practice-Länder schauen: in die USA, wo beispielsweise Kriegsversehrte doch nochmal anders wahrgenommen werden als in unseren Längengraden. Nach Skandinavien, wenn es um inklusive Bildung geht. In Schweden gibt es beispielsweise eine NGO namens Studieförbundet Vuksenskolan, die das Programm „Meine Entscheidung/Meine Wahl“ ins Leben gerufen hat, das leicht verständliche Informationen über schwedische Politik bereitstellt. Das Ziel: Jeder Mensch soll sich über Politik in leichter und verständlicher Sprache informieren können. Mehr als 80 Prozent der Teilnehmenden der Lernzirkel, die dieses Wissen spielerisch vermitteln, gehen wählen. Auch Griechenland ist ein Vorbild, das zeigt, wie barrierefreies Urlauben geht: Fast 150 Strände sind dort bereits barrierefrei und erlauben per Rampe auch Rollstuhlfahrer:innen eine Abkühlung im Meer. Warum nicht auch an Österreichs Badeseen?
Mit der Behindertenrechtskonvention liegt eigentlich alles auf dem Tisch, was man für Inklusion braucht. Nach 15 Jahren seit Ratifizierung wäre es an der Zeit, sie schlichtweg umzusetzen.