Drogenprävention: Was Österreich von Island lernen kann
Eine kurze Grundsatzfrage: Was tut man eigentlich, um zu verhindern, dass junge Menschen drogensüchtig werden?
Wir fragen, weil sich die Vorschläge dazu oft banal anhören. Sucht man nach einfachen Lösungen, um ein komplexes soziales Problem wie Sucht zu bekämpfen, droht schnell die Gefahr, in die Nancy-Reagan-Schiene zu fallen. Ihr Ansatz, was Jugendliche tun sollten, um nicht drogensüchtig zu werden? „Just Say No.“
Ähnlich naiv klingt es zunächst vermutlich, wenn man vorschlägt, Kinder und Jugendliche sollten einfach etwas Sinnvolles mit ihrer Freizeit machen. Wenn die Eltern ihnen nur genug Zeit geben, dann werden sie auch nicht drogensüchtig, könnte man vereinfacht sagen. Freizeitmöglichkeiten und Sozialkontakte, eh, stellt man augenrollend Augen fest. Aber das ist – sehr simplifiziert – durchaus ein Ansatz, mit dem ein anderes Land beeindruckende Erfolge erzielt hat.
Das isländische Präventionsmodell
In Island gab es in den 1990er Jahren ein immenses Drogenproblem – vor allem bei jungen Menschen. Die Präventivmaßnahmen, mit denen Kinder und Jugendliche über Drogenkonsum aufgeklärt wurden, schienen nicht zu funktionieren, und eine neue Lösung war nötig. Darum kamen 1997 Menschen aus Politik, Wissenschaft und der Jugendarbeit zusammen, um auf der Grundlage von Forschungsergebnissen eine Strategie zu entwickeln. Ergebnis ist das isländische Präventionsmodell – oder, vereinfacht gesagt, „Freizeitmöglichkeiten und Sozialkontakte“.
Kurz gesagt geht es bei diesem Lösungsansatz darum, dass das Umfeld der jungen Menschen einbezogen wird und dafür sorgt, dass sie etwas Sinnvolles, Positives mit ihrer Zeit anfangen. Jugendliche spiegeln demnach wider, was sie in ihrem Umfeld mitbekommen – und wenn dieses funktioniert und ihnen in ihrer Freizeit ansprechende Aktivitäten und Möglichkeiten bietet, werden sie nicht zu Drogen greifen. So zumindest das Kalkül, das durch die wissenschaftliche Begleitung des Projekts nahegelegt und später auch bestätigt wurde.
Wie das Modell konkret wirkt
Das Modell baut auf den sogenannten lokalen Präventionskoalitionen auf. Hinter diesem sperrigen Wort verbergen sich alle Bezugspersonen, die junge Menschen haben: Eltern, Schulleitungen, Lehrkräfte, Vereine, Glaubensgemeinschaften. Diese Koalitionen haben die Aufgabe, gewissermaßen die Infrastruktur aufzubauen, die es braucht, um allen jungen Menschen sinnstiftende Aktivitäten zu ermöglichen. Dazu gehören Freizeitmöglichkeiten – dazu kann aber z.B. auch gehören, dass ein:e Mediziner:in oder Sozialarbeiter:in in der Nähe verfügbar ist. Dafür wird die Finanzierung auf fünf oder mehr Jahre gesichert.
Im Alltag äußert sich das dadurch, dass nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch ihre Umgebung dazu animiert werden, ihre Zeit mit sinnstiftenden Aktivitäten zu verbringen. Das können Unternehmungen im Rahmen der Familie sein, das kann Engagement in einem Verein bedeuten, das kann aber auch die Liebe zum Einzelsport sein.
Mittlerweile wurde das Angebot an Sport- und Freizeitaktivitäten in Island massiv ausgebaut. Sport, Musik, Kunst, Tanz, all diese Bereiche wurden gezielt gefördert, um dieses politische Ziel zu ermöglichen. Alleine in der Hauptstadt Reykjavík – bevölkerungsmäßig etwas kleiner als die Stadt Salzburg – können junge Menschen über 200 Aktivitäten nachgehen. Dafür bekommen sie jedes Jahr einen Gutschein von 360 Euro, damit sich auch Jugendliche aus Familien mit niedrigem Einkommen sinnvoll beschäftigen können.
Der Schritt-für-Schritt-Plan gegen Drogen
Um den Erfolg dieser Maßnahmen zu messen, bekommen die Mitglieder der Präventionskoalitionen jedes Jahr von ihrer Gemeinde eine Umfrage zugeschickt. Diese wird überall in Island ausgefüllt, eingeschickt und analysiert. Anhand dieser Daten stellen sie vor Ort ihre größten Herausforderungen fest und besprechen, wie sie dagegen vorgehen können. Wenn es Probleme in der lokalen Schule gibt, diskutiert die Koalition, wie man diese verbessern kann, und erarbeitet konkrete Lösungsansätze. Diese beeinflussen nicht nur die Politik, sondern auch die lokale Wirtschaft, wenn dort Probleme identifiziert werden. Wenn von einem „Drogenumschlagplatz“ die Rede ist, werden dort z.B. verstärkt Freiwillige hingeschickt, die Jugendliche ansprechen.
Dieser Prozess wird im Wesentlichen jährlich wiederholt: Eltern, Lehrkräfte und Co. erheben die Lage vor Ort, diskutieren datenbasiert ihre Herausforderungen und erarbeiten konkrete Lösungsansätze, um den Drogenkonsum junger Menschen noch weiter zu reduzieren. Denn Kinder und Jugendliche, die eine „Behandlung“ in Form von Zeit in einem sozialen Umfeld erhalten, beginnen seltener damit – was sich deutlich bestätigt, seit dieses Modell eingeführt wurde.
Der neue Alltag in Island
Das alleine ist nicht alles: Begleitet wird das isländische Präventionsmodell durch entsprechend strenge Jugendschutzgesetze: Zigaretten werden erst ab 18 Jahren verkauft, Alkohol sogar erst ab 20. Für beide Produkte ist Werbung streng verboten. Dazu kommt, dass junge Menschen zwischen 13 und 16 im Winter ab 22 Uhr zuhause sein müssen – im Sommer erst um Mitternacht. (In Österreich sind Ausgehzeiten Ländersache, aber es gibt vereinheitlichte Aspekte – z. B., dass Jugendliche bis 14 bis 23:00 Uhr aus sein dürfen.)
Das Argument „Alle anderen dürfen aber“ zählt also nicht. Mittlerweile ist im isländischen Alltag klar: Tagsüber wird man kaum betrunkene Jugendliche antreffen, weil sie die zahlreichen Angebote nutzen. Für die Schulen gibt es ansprechende Nachmittagsbetreuung, den ganzen Tag ist in Island etwas los, und abends verbringen die Jugendlichen Zeit mit ihren Eltern. Wer in so einem Umfeld aufwächst, fängt kaum früh mit Drogen an und hat wenige Chancen, damit in Kontakt zu kommen – das Präventionsmodell wirkt.
Bestätigt wird das auch von den Ergebnissen der Umfragen: Nur noch 5 Prozent der Jugendlichen im Alter von 10 bis 20 Jahren geben an, im vergangenen Monat Alkohol getrunken zu haben, nur 7 Prozent haben Cannabis probiert, nur noch ein Prozent raucht. Zum Vergleich: In Österreich rauchen alleine bei den unter 15-Jährigen (je nach Datenquelle) zwischen 7 und 12 Prozent jeden Tag.
Was diesen Ansatz besonders macht
Was macht das isländische Präventionsmodell also so besonders? Einerseits die wissenschaftliche Begleitung. Denn auch, wenn sich Kinder, Jugendliche, Eltern etc. nicht mit Studien auseinandersetzen müssen, um in ihrem Alltag sinnvolle Aktivitäten zu finden, basiert das Präventionsmodell auf Studien. Sowohl die Grundprinzipien als auch den Schritt-für-Schritt-Ablauf kann man in wissenschaftlichen Fachzeitschriften nachlesen – die politische Lösung ist also evidenzbasiert.
Auffällig an diesem Ansatz ist auch, dass er nicht am Individuum ansetzt – nach dem Motto: „Du hast ein Drogenproblem“ – sondern an der Gesellschaft. Prävention wird in Island also nicht so gedacht, dass man jeden einzelnen jungen Menschen davon überzeugen muss, dass Drogen schlecht sind. Der Gedanke ist vielmehr, dass Kinder und Jugendliche mit einem funktionierenden sozialen Umfeld nicht abdriften werden – daher gilt es, dieses positive Umfeld zu fördern.
Und in Österreich?
Aber auch in Österreich sind viele dieser Punkte möglich. Die Anzahl der Freizeitaktivitäten mag regional schwanken, aber was es auf jeden Fall gibt, ist ein starkes Vereinsleben. Ob diese so gezielt gefördert werden und sich gemeinsam koordinieren, wie das in Island der Fall ist, steht auf einem anderen Blatt – aber die grundsätzliche Basis für den Ansatz, die eigene Zeit sinnvoll zu nutzen, gibt es auch bei uns.
Die Gründe, warum dieses sehr naheliegende Modell nicht 1:1 übernommen wird, könnten auch kulturell sein. Einerseits ist Österreich ein Alkohol-Land: Jugendliche dürfen schon wesentlich früher Bier und Wein kaufen, 5,6 Prozent trinken jeden Tag, 735.000 Österreicher:innen konsumieren Alkohol im gesundheitsschädlichen Ausmaß. Wenn es kulturell nicht verankert ist, „heute mal nichts zu trinken“, wird man sich mit einem gesamtgesellschaftlichen Ansatz schwerer tun.
Was auch schwierig bei der Umsetzung des isländischen Präventionsmodells werden könnte, ist die Datenlage. Eines der Grundprinzipien der dahinterliegenden Forschung ist nämlich die „Einbindung und Befähigung von Gemeindemitgliedern, praktische Entscheidungen auf der Grundlage lokaler, hochwertiger und zugänglicher Daten und Diagnosen zu treffen“. Nicht erst seit der Corona-Pandemie weiß man, dass Österreich da nicht immer gut dasteht. Es bräuchte also Daten, die lokal erhoben und bundesweit einheitlich verglichen werden können.
Trotzdem könnte es gut tun, sich am isländischen Modell zu orientieren. Nicht nur beim Jugendschutz, sondern auch bei Freizeitmöglichkeiten gibt es gravierende Unterschiede – und zwar auch darin, wer sie sich leisten kann. Auch wenn es banal klingen mag: Das Beispiel Island zeigt, dass es einfach schon helfen kann, jungen Menschen eine Alternative zu bieten. Daran könnte sich Österreich trotz aller Unterschiede orientieren.