Eine Anleitung zum politischen Chaos in Südafrika
Am 2. Juni verkündeten die Wahlbeamten Südafrikas, dass der African National Congress, Afrikas älteste Befreiungsbewegung, bei den Wahlen vier Tage zuvor schwere Verluste erlitten hatte. Der ANC erreichte nur noch 40,2 Prozent der Stimmen – ein deutlicher Rückgang von 57,5 Prozent im Jahr 2019.
Bis zum 16. Juni – dem Stichtag für die Wahl des Präsidenten im Parlament – muss der ANC eine Koalition schmieden, um an der Macht zu bleiben. Am 5. Juni gab ein Sprecher bekannt, dass die Partei Gespräche mit allen großen Oppositionsparteien führe, um eine „Regierung der nationalen Einheit“ zu bilden. Letztendlich wird die Partei jedoch fast sicher eine Entscheidung treffen müssen: Entweder pragmatisch mit der größten Oppositionspartei, der Democratic Alliance (DA), die 21,8 Prozent der Stimmen erhielt, oder mit einer gefährlichen populistischen Partei.
Der ANC ist die Partei von Nelson Mandela – und seit dem Ende der Apartheid an der Macht. Das Selbstbild der Partei unterscheidet sich immer stärker von dem, das in der Bevölkerung dominiert. Der Economist findet eine treffende Beschreibung und spricht von „Materialismus und Narzissmus“, die die Treffen des African National Congress mittlerweile prägen: Luxuriöse SUVs und eine selbstgefällige Atmosphäre mischen sich mit Insignien und Liedern, die an den Anti-Apartheid-Kampf erinnern. Der ANC spricht am liebsten über sich selbst. Dabei ist er längst nicht mehr der einzige Player in Südafrikas Politik.
Wer ist wer in Südafrika?
Democratic Alliance (DA) – 87 Mandate (von 400): Die DA blieb stark in der Western Cape, wo sie weiterhin dominierte und ihre Position als führende Partei ausbaute. In Gauteng und weiteren urbanen Gebieten erzielte die DA ebenfalls bedeutende Stimmengewinne, besonders in Johannesburg und Pretoria. Die Partei erhielt breite Unterstützung von weißen, schwarzen und indischen Wählern, die sich eine marktwirtschaftsorientierte Politik und eine stärkere Regierungsführung wünschen.
uMkhonto we Sizwe (MK) – 58 Mandate: Die neu gegründete MK-Partei von Jacob Zuma fand besonders in KwaZulu-Natal und Gauteng Unterstützung. Sie zog hauptsächlich schwarze Südafrikaner an, die von der ANC enttäuscht sind. In den städtischen Armenvierteln und Townships fand die populistische Rhetorik von Zuma großen Anklang, und die Partei profitierte von seiner historischen Anhängerschaft. Die MK konnte in diesen Regionen schnell an Einfluss gewinnen, was auf Zumas persönliche politische Vergangenheit zurückzuführen ist.
Economic Freedom Fighters (EFF) – 39 Mandate: Die EFF verzeichnete bedeutende Stimmenzuwächse in Gauteng, Limpopo und Mpumalanga, wo sie sich als starke Oppositionskraft etabliert hat. Die Partei zog hauptsächlich junge, schwarze Wähler an, die radikale wirtschaftliche Veränderungen und eine aggressive Umverteilungspolitik und Verstaatlichungen befürworten. Die EFF konnte in urbanen und peri-urbanen Gebieten, insbesondere in Townships, signifikante Unterstützung gewinnen.
Inkatha Freedom Party (IKP) – 17 Mandate: Die IKP bleibt eine dominierende Kraft in KwaZulu-Natal, wo sie stark in den Zulu-Gemeinschaften verwurzelt ist. Sie konnte ihre Basis sowohl in ländlichen Gebieten als auch in städtischen Vororten von Durban festigen. Die IKP repräsentiert vor allem die Interessen der Zulu-Bevölkerung und hat sich als zentrale Stimme für die Förderung der Zulu-Kultur etabliert.
Patriotic Alliance (PA) – 9 Mandate: Die PA erhielt ihre Hauptunterstützung in urbanen Zentren wie Johannesburg und Kapstadt. Sie fand besonders bei den schwarzen Gemeinschaften Anklang, die sich von den großen Parteien oft vernachlässigt fühlen. In Stadtteilen wie Mitchells Plain und Eldorado Park konnte die PA durch ihre Fokussierung auf spezifische soziale und wirtschaftliche Anliegen dieser Bevölkerungsgruppe hohe Zustimmungswerte erzielen.
Freedom Front Plus (FF Plus) – 6 Mandate: Die FF Plus gewann besonders in den ländlichen und urbanen Gebieten von Gauteng, Freistaat und Nordwest an Bedeutung. Ihre Wählerschaft besteht hauptsächlich aus weißen Afrikaans-sprechenden Südafrikanern, die sich für die Rechte von Landbesitzern und die Erhaltung der afrikaanssprachigen Kultur einsetzen. Diese Partei profitierte von der zunehmenden Unzufriedenheit der weißen Wähler mit den größeren Parteien und konnte ihre Position in traditionell konservativen Gebieten stärken.
Cyril Ramaphosa steht vor einem Dilemma
Zur wichtigsten Figur des ANC wird jetzt Cyril Ramaphosa, der Präsident und Vorsitzende der Partei. Bereits kurz nach dem Ergebnis versuchte er die Inszenierung als besonnener Staatsmann, indem er die Bedeutung des demokratischen Prozesses betonte und das Wahlergebnis als „frei, fair und friedlich“ lobte. Er rief die politischen Parteien zur Zusammenarbeit auf und unterstrich die Notwendigkeit, gemeinsame Lösungen zu finden.
Sein Konterpart ist Jacob Zuma, Ramaphosas Vorgänger als ANC-Parteichef und der frühere Präsident Südafrikas, der mit seiner neuen Partei uMkhonto we Sizwe (MK) für Kontroversen sorgte. Sein starkes Ergebnis führt zum Ende der Dominanz der ANC – trotzdem stellt er die Legitimität des Wahlprozesses in Frage und behauptet, die Ergebnisse seien „nicht korrekt“. Diese Aussagen, die zur Gewalt aufstacheln könnten, erinnern an die Unruhen im Jahr 2021 nach Zumas Inhaftierung.
Das Chaos der Zuma-Jahre bereitete Ramaphosa den Weg. Einmal ließ sich Zuma mit Steuergeldern ein riesiges Anwesen bauen – inklusive Pool, den er als „Wasserquelle für die Feuerwehr“ rechtfertigte. Ein anderes Mal behauptete er, es reiche, sich nach dem Sex mit HIV-positiven zu duschen, um eine Infektion zu verhindern. Nach Zumas Amtszeit wurde Ramaphosa zugetraut, sachlich an Reformen zu arbeiten. Eine Hoffnung, die enttäuscht wurde: Das Land erstickt in Misswirtschaft, Korruption und Kriminalität. Macht ist so lukrativ geworden, dass Menschen töten, um lokale ANC-Kandidaten zu werden. Fast 100 Menschen sind seit 2022 bei entsprechenden politischen Attentaten gestorben.
Szenarien für die Zukunft Südafrikas
Die Szenarien für Südafrikas Zukunft liegen irgendwo zwischen Venezuela, Simbabwe und Rettung, wie der Spitzenkandidat der Democratic Alliance, John Steenhuisen, sagt. Eine breite Koalition mit den Economic Freedom Fighters (EFF), mit ihrer Marxistischen Wirtschaftspolitik, könne Südafrika in Richtung Venezuela treiben, eine Beteiligung der MK, inklusive Mischung aus Tribalismus und Populismus, würde das Land zu Simbabwe-ähnlichen Zuständen führen. Eine Rettung könnte durch eine Koalition aus ANC und DA möglich sein. Ramaphosa wünscht sich wiederum eine „Regierung der Nationalen Einheit“, ähnlich wie die erste Post-Apartheid-Regierung von Mandela und De Klerk.
ANC-Mitglieder und Berater:innen, die Präsident Ramaphosa nahestehen, schlagen vor, dass der Präsident eine Koalition mit der DA bevorzugen sollte. Eine Übereinkunft mit der MK, die die Verfassung rückgängig machen will, würde sein Vermächtnis untergraben, und seine persönliche Abneigung gegenüber seinem Vorgänger ist kaum überhörbar. Eine Vereinbarung mit den Economic Freedom Fighters (EFF) würde seine Reformagenda ebenfalls gefährden und geht sich ohne zusätzliche Beteiligung auch nicht aus. Eine Koalition mit der DA könnte zu wirtschaftlichen Verbesserungen und besseren öffentlichen Dienstleistungen führen und der Partei ihre beste Chance geben, bei den nationalen Wahlen 2029 Stimmen zurückzugewinnen. Die Märkte würden auf Letzteres wohl am besten reagieren, die Alternativen dagegen würden den Rand, die südafrikanische Währung, unter Druck setzen.
Machtspiele am Kap der letzten Hoffnung
Eine Vereinbarung mit der DA könnte verschiedene Formen annehmen. Die minimale wäre ein „Confidence and Supply“-Abkommen, bei dem die DA Ramaphosa an der Spitze einer Minderheitsregierung unterstützt. Die umfassendste wäre eine vollständige Koalition, entweder zwischen dem ANC und der DA oder eine, die auch andere Parteien wie die Inkatha Freedom Party einbezieht. Jede Allianz mit dem ANC birgt Risiken für die DA: Sie müsste möglicherweise akzeptieren, in einer Regierung zu sein, die rassenbasierte Politiken wie „positive Diskriminierung“ unterstützt, die im ANC geschätzt, aber von der DA abgelehnt werden.
Das größte Hindernis für eine pragmatische Regierung ist nicht die DA, sondern der ANC selbst. Einige führende Parteimitglieder könnten befürchten, dass die DA entweder ihre Projekte blockieren oder sie aus dem Kabinett drängen möchte. Andere hochrangige Mitglieder befürchten, was ANC-Wähler denken, werden, wenn die Partei einen Deal mit der „weißen Partei“ eingeht. Der Vorsitzende von COSATU, einer mit dem ANC verbundenen Gewerkschaftsföderation, hat gesagt, dass er einen Deal mit der DA ablehnt.
Einige Stimmen in der DA glauben, dass es Möglichkeiten gibt, den Schaden zu minimieren: Zum Beispiel könnten afrikaanssprachige DA-Wähler weniger geneigt sein, abzufallen, wenn ihre logischste Alternative, die Afrikanerpartei Freedom Front Plus, ebenfalls Teil einer Regierung der nationalen Einheit wäre – wobei diese landesweit nur 1,36 Prozent gemacht haben. Letztendlich glauben die Führungskräfte der DA, dass die Aussicht auf eine nationale Regierung mit der EFF oder MK so schrecklich ist, dass sie versuchen müssen, sie fernzuhalten. Das bestätigt Ramaphosa in gewisser Weise auch, wenn er von einer breiteren Mehrheit spricht.
Zusammenfassung und Ausblick
Für viele im ANC gibt es eine natürliche Affinität zu den EFF, die als Teil des breiten Spektrums des afrikanischen Nationalismus gesehen werden. Mantashe deutete an, dass die Stimmen für MK und EFF tatsächlich zeigten, wie attraktiv das Erbe des ANC bleibt. Es gibt eine gewisse Logik darin: Der kombinierte Stimmenanteil der drei Parteien (64 Prozent) war ungefähr der gleiche wie der, den Nelson Mandelas ANC 1994 erhielt (63 Prozent). Viele innerhalb der Regierungspartei sehen eine Koalition mit der EFF oder MK als Vorspiel zu einer Wiedervereinigung dieser abtrünnigen Elemente mit dem ANC. Nach dieser Argumentation ist der beste Weg, ANC-Wähler zurückzugewinnen, andere Parteien zu absorbieren, statt die eigene Politik zu verbessern.
Das verkennt die offensichtliche Lehre aus der Wahl: Der ANC wurde für schlechtes Regieren bestraft. In seinen sechs Jahren als Präsident hat Ramaphosa hart daran gearbeitet, seine Partei zusammenzuhalten. Sein Verlangen nach Konsens innerhalb des ANC hat seine erklärten Bemühungen, Korruption zu beenden und Reformen zu fördern, verlangsamt. Er konzentrierte sich auf die Parteieinheit, weil er glaubte, dass dies der beste Weg sei, die Präsidentschaft zu behalten und den ANC an der Macht zu halten. Die Wahlergebnisse deuten darauf hin, dass sein sanfter Ansatz gescheitert ist.
Die nächste Woche wird zeigen, ob er seine Lektion gelernt hat – und endlich aufhört, die schlimmsten Instinkte seiner Partei zu dulden.