Europas Meinungswechsel durch die Zeitenwende
Eine internationale Untersuchung zeigt, wie die europäische Bevölkerung den Umgang mit autoritären Staaten einschätzt – und was die EU-Spitzenpolitik daraus lernen kann.
Wie hält es Europa mit dem Rest der Welt? Wie beantwortet man diese Frage? Und überhaupt: Wer ist eigentlich „Europa“?
Eine Annäherung an diese Fragen bietet der European Council on Foreign Relations, ein Thinktank mit Fokus auf Außen- und Sicherheitspolitik. In einem Policy Brief – also einer Untersuchung mit praktischen politischen Empfehlungen – gibt er Einblick in die öffentliche Meinung aus elf EU-Mitgliedstaaten. Die Publikation beschäftigt sich damit, wie sich das Bild von Russland und China durch den Krieg in der Ukraine geändert hat und was die Politik daraus ableiten kann.
Relevant sind diese Ergebnisse vor allem vor dem Hintergrund der „Zeitenwende“ und der Frage nach dem Umgang mit autoritären Staaten. Hier ist sich die europäische Spitzenpolitik nicht immer einig: Während Ursula von der Leyen ein strategisches Risikomanagement im Handel mit China fordert, reisen Olaf Scholz und Emmanuel Macron mit Delegationen von Unternehmen nach Peking, um die Wirtschaftsbeziehungen zu stärken.
Russland wird europaweit als Rivale erkannt
Am wenigsten überraschend ist die Entwicklung der öffentlichen Meinung, wenn es um Russland geht: Wird in europäischen Staaten gefragt, was Russland für das eigene Land ist, überwiegt mittlerweile fast überall die Bezeichnung „Rivale“. Dass die meisten europäischen Staaten die Ukraine verlässlich unterstützen, deckt sich also mit Mehrheitsmeinung der Bevölkerung.
Unter den Staaten, die Russland am stärksten als Rivale sehen, stechen vor allem Polen, Schweden, Dänemark, die Niederlande und Deutschland hervor. Nur in Bulgarien sieht eine Mehrheit der Menschen Russland noch immer als Partner.
Interessant ist dabei die Rolle Italiens, wo ein Viertel der Bevölkerung Russland als Partner und ein Drittel als Rivalen sieht. Zu dieser gespaltenen Bevölkerung kommt eine rechte Regierung, die aber – anders als andere rechte Parteien – klar gegen Putin positioniert ist. Dabei spielt wohl auch eine Rolle, dass sich die italienische öffentliche Meinung klar negativ gegenüber Russland entwickelt hat. Nur in den Niederlanden war dieser Trend noch klarer.
Dass Russland in der Gunst der europäischen Bevölkerung gefallen ist, erklärt sich natürlich vor allem durch den Krieg in der Ukraine, aber auch durch die steigenden Energiekosten aufgrund der Abhängigkeit von russischem Gas. Auch hier hat sich Italien erfolgreich abgekoppelt, was der Entwicklung der öffentlichen Meinung folgt. Gerade Österreich ist besonders säumig dabei, diese zu reduzieren und langfristige Alternativen zu sichern, wie auch der frühere OMV-Chef Gerhard Roiss kritisiert. Diese Tendenz dürfte sich auch auf die Beziehungen zu anderen autoritären Staaten auswirken, wie der ECFR feststellt.
Wie es Europa mit China hält
So ist die europäische Bevölkerung auch skeptisch, wenn es um die wirtschaftliche Abhängigkeit von China geht. Das betrifft insbesondere Investments in Brücken, Häfen und – Überraschung – Fußballklubs. Die drei Staaten, in denen sich die meisten dagegen aussprechen, sind die Niederlande, Deutschland und Österreich.
Sosehr die wirtschaftlichen Beziehungen als Risiko erkannt werden, so umstritten ist der politische Umgang mit Taiwan. Während sich viele in Europa vorstellen können, die Sanktionen auf China auszuweiten, wenn es Waffen an Russland liefert, wollen nur wenige eine direkte Konfrontation: Im Falle eines Krieges um Taiwan wollen viele europäischen Staaten neutral bleiben.
Worum es dabei eigentlich geht: Die Insel Taiwan diente nach dem chinesischen Bürgerkrieg als Rückzugsort für die „Kuomintang“, die am Festland gegen die kommunistischen Truppen verloren hatten. Während das, was wir heute „Volksrepublik China“ nennen, kommunistisch geführt wurde, lebte Taiwan relativ unabhängig davon in einer demokratischen Marktwirtschaft. Das moderne China sieht die Insel aber als „abtrünnige Provinz“ und plant ihre „Wiederaufnahme“. Eine Blaupause dafür geben die Proteste im vormals demokratischen Hongkong, die brutal unterdrückt wurden.
So ist es nicht überraschend, dass nur wenige in Österreich und Europa sich als China-Fans outen: Hierzulande geben nur 4 Prozent der Befragten an, dass China ein Partner sei, der „unsere Interessen und Werte“ teile. Zusammen mit den 46 Prozent, die es als „notwendigen Partner“ sehen, mit dem man strategisch kooperieren müsse, steht genau die Hälfte der Befragten den Handelsbeziehungen eher positiv gegenüber. Die Frage ist nur, wie.
Offene Fragen für die Außenpolitik
Noch zu klären ist, wie es nach dem Krieg in der Ukraine weitergeht. Dazu gibt es europaweit stark unterschiedliche Meinungen: In Polen wären z.B. 39 Prozent bereit, jeden politischen und wirtschaftlichen Kontaktpunkt mit Russland dauerhaft einzustellen, während die meisten Länder zumindest „limitierte Beziehungen“ mit Russland haben wollen, sobald der Krieg vorbei ist. Es gibt viele Möglichkeiten, wie sich diese Frage beantworten ließe: von Handelsöffnungen in einzelnen Industrien bis zu einem Aufbauplan zur Unterstützung einer neuen, demokratischen Führung.
Und die ganz große Frage ist natürlich, welche Forderungen sich aus diesem Meinungsbild ableiten. Klar ist nur, dass die sicherheitspolitischen Herausforderungen durch Russland und China klarer geworden sind – aber welche Schlüsse die Staaten daraus ziehen, das ist unterschiedlich. Schweden und Finnland sind etwa der NATO beigetreten. Währenddessen teilt ein Großteil Europas die Meinung, dass die USA, immerhin ein Grundpfeiler der NATO, im Fall einer Wiederwahl von Donald Trump kein verlässlicher Partner wären. Für diesen Fall wäre eine europäische Armee eine Lösung – immerhin gibt es große Einigkeit, dass sich Europa zu sehr auf die USA verlässt.
Zusammenfassend: Europas vorsichtige außenpolitische Linie, mit allen auskommen zu wollen, macht sich immer noch bemerkbar. Aber trotzdem kommt nicht nur die Politik, sondern vor allem die Bevölkerung mehr und mehr in der neuen Realität an. Und die ist eben, dass die Zusammenarbeit mit autoritären Systemen zu gefährlichen Abhängigkeiten führen kann – und dass Sicherheit auch am europäischen Kontinent nicht garantiert ist.
Immerhin einen Ausblick gibt der ECFR in seinem Policy Brief. Auf eines können sich alle einigen: Die europäische Außenpolitik, so ist sich Europa weitgehend einig, soll kein Machtspiel sein – sondern westliche Werte verteidigen.