Europas Zukunft: Die Gefahr der Selbstzufriedenheit
In unserer Debatte über die Zukunft der liberalen Weltordnung dürfen wir nicht vergessen, dass Wachstum und Reformen entscheidend sind, um diese Ordnung aufrechtzuerhalten und zu stärken. Doch Europa erlebt eine Zeit der Unsicherheit und wirtschaftlichen Herausforderungen, die unsere Fähigkeit, diese Ordnung zu beeinflussen, infrage stellen.
Unsere liberale Weltordnung ist nicht nur von freier Marktwirtschaft, sondern auch von offenen Grenzen geprägt. Davon profitiert auch Europa, vor allem in Bezug auf Arbeitsmigration. Wenn Europa nicht mehr aktiv an dieser Weltordnung teilnimmt, riskieren wir, unseren Einfluss zu verlieren.
Nicht umsonst wird aktuell viel über den „Niedergang des Westens“ gesprochen – aber das ist ein Missverständnis. Denn in Bezug auf die globale Machtverteilung bleiben die USA stabil, während Europa seit einem Jahrhundert einen deutlichen Abstieg erlebt.
Die oft auf die USA bezogene Erzählung ist nicht korrekt: Sie spielen geopolitisch immer noch eine bedeutende Rolle, während Europa in den letzten hundert Jahren erhebliche Verluste hinnehmen musste. Ökonomisch betrachtet hatten die USA bereits 1980, als sie sich auf den Sieg im Kalten Krieg vorbereiteten, einen Anteil von 25 Prozent am globalen Bruttoinlandsprodukt – 1995, am Höhepunkt des „unipolaren Moments“, lag dieser Anteil immer noch bei 25 Prozent. Genau wie heute, im Jahr 2023. Europa dagegen hat in dieser Zeit erheblich an Boden verloren – oft aber von einer gewissen Selbstzufriedenheit begleitet.
Ähnlich wie im alten Rom neigen wir in Europa dazu, uns auf unseren bisherigen Erfolgen auszuruhen. Wir sind stolz auf unsere normativen Errungenschaften – ob das die Menschenrechte, die Reisefreiheit und unser Sozialstaat sind oder Gesetze, die weltweit zum Standard werden, etwa die DSGVO. Aber während wir uns daran erfreuen, mangelt es an Reformen, die auf die Zukunft ausgerichtet sind.
Die Bedrohung der Selbstzufriedenheit und der Aufstieg der Populisten
Wer lethargisch bleibt, bekommt Populismus mit einfachen Lösungen und absurden Feindbildern. Die echten, teils unpopulären, Reformen – im Bereich qualifizierte Zuwanderung, im Bildungs-, Gesundheits- oder Pensionssystem – geraten dadurch in den Hintergrund. Das wird uns aber sowohl Schlagkräftigkeit kosten als auch den Einfluss auf eine Weltordnung, die uns zugutekommt. Oder kurz: Wir werden untergehen.
Ein demagogischer Politikstil à la Viktor Orbán zeigt uns, dass wir falsch abgebogen sind. Dass wir die Basis und den Kampf für unser wirtschaftliches Vorankommen nicht ernst genug nehmen. Wir beschäftigen uns mit Nebensächlichkeiten: Welcher U-Ausschuss eingesetzt werden soll, wer in Österreich am meisten gegen Atomkraft ist, oder was wir noch alles in die Verfassung schreiben sollten. Wir reden aber nicht darüber, Unangenehmes anzugehen. Denn dann verlieren wir gegen den Populismus – und dann wird es gefährlich.
Bei Reformen muss man langfristig denken
Wirtschaftsprofessor Harald Oberhofer hat aufgezeigt, wie Wähler:innen ihre eigene Lebensdauer in politische Entscheidungen einbeziehen. Langfristige Reformen, die erst nach der nächsten Wahl positive Auswirkungen zeigen, sind oft unbeliebt, da die meisten Menschen die positiven Effekte nicht mehr erleben werden. Dieses Dilemma wird verstärkt, wenn die Reformen den meisten Wähler:innen nicht einmal in der nächsten Legislaturperiode zugute kommen.
Die Debatte über die Klimakrise steht im Gegensatz zu vielen anderen politischen Themen, da ihre Auswirkungen bereits spürbar sind und die Menschen direkt betreffen: Extremwetterereignisse von Hochwasser bis Dürren werden nicht nur häufiger, sondern auch härter. Dass ein riesiger Teil des Bundesbudgets in die Zuschüsse im Pensionssystem fließt, interessiert dagegen schon weniger Menschen. Gerade die unmittelbare Bedrohung des Klimawandels zwingt uns dazu, langfristige und nachhaltige Reformen ernsthaft in Betracht zu ziehen.
Decoupling statt Degrowth
Es gibt jedoch immer noch Einwände gegen das Streben nach Wachstum. Ein häufig gehörtes Argument ist die Idee des „begrenzten Wachstums“, das auf begrenzte natürliche Ressourcen hinweist. Es ist jedoch möglich, Wirtschaftswachstum und CO2 zu entkoppeln und nachhaltiges Wachstum zu fördern. Vielen Staaten ist es bereits gelungen, ihre CO2-Emissionen zu senken und gleichzeitig ihre Wirtschaftsleistung zu steigern.
Ein weiterer Einwand ist die Frage, ob Wachstum überhaupt notwendig ist. Tatsache ist, dass Wachstum durch die Umsetzung neuen Wissens entsteht – und weniger Wachstum bedeutet auch weniger Beschäftigung. Produktivitätsgewinne führen dazu, dass weniger Arbeitskräfte benötigt werden, was wiederum durch Wachstum kompensiert werden muss.
Wachstum ist außerdem eng mit Strukturwandel und Innovation verbunden. Und gerade das brauchen wir, um unsere Umweltprobleme zu lösen und unsere Klimaziele zu erreichen. Ohne Wachstum kann es keinen Strukturwandel geben, der die Produktion umweltfreundlicher gestaltet.
Und ja, das Bruttoinlandsprodukt alleine reicht nicht aus, um Wohlstand und Lebensqualität angemessen zu messen. Das BIP hat Grenzen und berücksichtigt weder die Auswirkungen der Wirtschaft auf die Umwelt noch die Verteilung von Wohlstand. Neue Indikatoren sind erforderlich, um den Wohlstand eines Landes realitätsnaher zu messen. Das heißt aber nicht, dass es weniger Wachstum braucht – sondern dass wir neue Indikatoren brauchen.
Der Aufruf zu mehr Mut und Vertrauen
In einer Zeit, in der politische Entscheidungsträger:innen zögern, Reformen durchzuführen und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, ist es entscheidend, den Mut aufzubringen, diese notwendigen Veränderungen anzugehen. Wir dürfen nicht darauf warten, dass die Babyboomer nachhaltige Reformen umsetzen, deren Nutzen sie selbst nicht erleben werden. Stattdessen müssen wir heute handeln und mutige Reformen durchführen – um nachhaltiges Wachstum zu fördern und die liberale Weltordnung zu schützen.
Mut und Vertrauen sind entscheidend, um die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen und sicherzustellen, dass die liberale Weltordnung für kommende Generationen erhalten bleibt.