Femizid, Statistik und psychische Gesundheit: Eine Mischung voller Mängel
In Österreich sterben prozentuell mehr Frauen an Mord als in vielen anderen europäischen Ländern. Das mediale Narrativ dazu: „Partnergewalt“ und „Beziehungsdrama“. Jetzt gibt es erstmals Einblicke in die Motivlage.
Auch wenn die Definition teilweise zu schwammig ist, eines kann man sicher sagen: Es gibt zu viele Femizide in Österreich. Weniger sicher ist, warum das so ist – und warum offensichtlich seit Jahren nicht genug dagegen getan wird. Solide Daten dazu suchte man lange vergeblich. Aber auf Basis von Gerichtsakten konnten jetzt neue Daten gewonnen werden.
Was bisher geschah, und was wir wissen
Vorweg muss gesagt werden, dass einige Erkenntnisse der neuen Studie ohnehin schon zum etablierten Wissen zählen. Im Winter 2022 gab es einen Gewaltschutzgipfel, bei dem eine neue Studie über Frauenmorde endlich Einblicke geben sollte – veröffentlicht wurde diese aber erst im Juli nach einer neuerlichen Pressekonferenz dazu. Zwei Teile wurden als Datengrundlage verwendet: einerseits die polizeiliche Kriminalstatistik, andererseits Gerichtsunterlagen.
Die polizeiliche Kriminalstatistik wird ohnehin regelmäßig für mediale Auswertungen oder in Anfragebeantwortungen zitiert, aufgrund der anhaltenden Diskussionen über Femizide stellt das BMI mittlerweile eigene Factsheets über Frauenmorde zusammen. Da die Definition eines Femizids noch immer nicht als eigener Tatbestand erfasst wird, fallen aber Kindsmorde an Mädchen ebenso in die Statistik und verzerren die Zahl der Frauenmorde. Im Groben sind die Inhalte (und deren Lücken) aber bekannt.
Kriminalstatistik: Zahlen ohne Ursache und Interpretation
Die Anzahl der Morddelikte nimmt zu, wobei die Anzahl der Versuche höher ist als die der vollendeten Taten. Neu ist die Monatsaufschlüsselung. Das klingt unspannend, kann aber bestimmte Mythen entkräften. So heißt es beispielsweise oft, dass zwischen Weihnachten und Neujahr häufiger Gewalt in der Familie vorkommt und diese Zeit daher für Frauen besonders lebensbedrohlich ist. Diese These wird durch die monatliche Aufschlüsselung teilweise entkräftet: demnach scheint der Mai der „tödlichste“ Monat zu sein.
Neue Einblicke liefert dagegen die Statistik der Tatwaffen. Messer und Stichwaffen sind die häufigsten Mordwaffen, bei der Unterscheidung zwischen vollendeten und versuchten Morden haben Schusswaffen die höchste „Erfolgsrate“. Wer also mit einer Pistole oder einem Gewehr einen Mord versucht, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, sein Opfer tatsächlich zu töten. Wenig überraschend.
Interessant ist aber, dass der Anteil der legalen Schusswaffen zugenommen hat. Potenziell, weil es generell mehr Schusswaffen gibt. Das könnte zu Kritik an den Waffengenehmigungen führen – denn wenn es mehr Waffengenehmigungen und mehr durch Schusswaffen getötete Personen gibt, liegt ein Zusammenhang nahe. Auch wenn dieser natürlich auf Kausalität und Korrelation überprüft werden muss.
Problematisch an der Kriminalstatistik ist, dass bestimmte Dinge nicht erfasst werden. So wird beispielsweise eine Partnerschaft zwischen Täter und Opfer nicht erfasst, lediglich ein Familienverhältnis. Und: Tötet ein Mann seine Ehefrau in Folge eines Streits, wird die Tat ebenso in die Analyse aufgenommen, wie der Mord einer Mutter an ihrer Tochter. Wiewohl beide sehr verschiedene Voraussetzungen zum Femizid hätten und letztere Tat nach gängiger Definition nicht als Femizid zählen würde.
So gesehen: Die Kriminalstatistik gibt zwar Einblicke, teilweise auch interessante. Aber warum es zu Frauenmorden kommt und warum Österreich so ein Ausreißer ist, ist nicht ersichtlich. Es braucht also die Motivsuche.
Gerichtsanalyse: Der Missing Link
Die gibt es mit der neuen Studie tatsächlich – und dank einer Analyse der Gerichtsakte gibt es nun auch Erklärungen für einige Lücken in der Statistik. Beispielsweise kann anhand der Unterlagen von Staatsanwaltschaften und Gerichten die Lücke zwischen Morden an Frauen und Femizid erklärt werden, immerhin fallen in der Polizeistatistik auch die Morde an eigenen Kindern. Und wie die Fallakten belegen, ist das Motiv dafür meist Überforderung oder psychische Krankheit.
Gerade das Motiv ist bei der Definition von Femizid eben das entscheidende Kriterium. Rund ein Fünftel der Täter gab als Tatmotiv „Eifersucht“ an. Wahrscheinlich ist, dass ihnen die Bewältigungsinstrumente zur Verarbeitung dieses Gefühls fehlen.
Zumindest laut diesen Einblicken kann also ein Drittel der (ausgewerteten) Femizide auf ein falsches Besitzverständnis von Männern über Frauen zurückgeführt werden. Das tatsächliche Motiv „patriarchale Denkweise“ wird in der Studie bei einem Viertel der Täter attestiert. Genau hier muss echte Prävention im Sinne eines Gesellschaftswandels endlich ansetzen. Die Politik ist da aber nach wie vor im Verzug, wie man an den Präventionsmaßnahmen sieht.
Mangelnde psychische Gesundheit als Ursache
Dass der gesellschaftliche Wandel zu einer gleichberechtigten Gesellschaft lange braucht und hier zu wenig weitergeht, ist bekannt. Nicht ganz so bekannt ist das Ausmaß, das psychische Gesundheit spielt. Knapp ein Drittel der wegen Frauenmord verurteilten Täter:innen wurde in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Zwei Drittel der Täter hatten eine psychische Krankheit diagnostiziert, und bei knapp elf Prozent wurde die psychische Krankheit als tatauslösendes Motiv angegeben.
Ein beklagenswerter Umstand. Denn mit frühen oder gar vorzeitigen Behandlungen würden sich viele Krankheitsbilder wohl behandeln lassen – was wiederum nicht zu Verbrechen und einer derartig aufwendigen Unterbringung von Täter:innen führen würde, weil manche besagte Verbrechen potenziell nie passiert wären.
Besonders auffällig ist die Rolle von psychischer Gesundheit bei Kindsmorden. Die werden wie erläutert zwar nur in der Kriminalstatistik als Frauenmorde erfasst, zählen nicht als Femizide per Definition. Sie zeigen aber auf, wie wichtig psychische Gesundheit ist, da in fast allen Fällen Depressionen bekannt waren. Eine strukturierte Versorgung, wie es sie in manchen Ländern etwa für Depressionen gibt, würde hier helfen. Ebenso bemerkenswert sind Beispielfälle, in denen der Verlust des Arbeitsplatzes, der Wohnung oder auch Pensionierungen so starke Auswirkungen auf Männer haben, dass „einschneidende biographische Ereignisse“ bei fast einem Drittel als Motiv genannt wurden. Das legt nahe, dass im Rahmen von psychischer Gesundheit Menschen mehr und bessere Bewältigungsmechanismen zur Verarbeitung von plötzlichen Ereignissen oder Lebensumstellungen lernen sollten.
Auch bei den Opfern hatten 15 Prozent eine psychische Erkrankung. Potenziell verstärken diese gewisse Tendenzen zu Gewalt, in einigen Fällen machen sie unzurechnungsfähig, und aus anderer Perspektive sorgen sie dafür, dass potenzielle Opfer länger in Beziehungen zu Tätern bleiben. Die Kombination aus psychischer Krankheit und lebenseinschneidendem Ereignis zählt in der Analyse daher zu den größten Hochrisikofaktoren.
Fallkonferenzen: Fächerübergreifende Warnsysteme als Abhilfe
Genau solche Hochrisikofaktoren können bei sogenannten Fallkonferenzen identifiziert werden. Falls es in Beziehungen bereits Gewaltereignisse gab, gehören diese Konferenzen zu den wichtigsten Schutzinstrumenten für Frauen. Dort beraten verschiedene Personen aus Polizei, gegebenenfalls Justiz, aus Gewaltschutzzentren und potenziell aus dem Sozial- oder Gesundheitssystem gemeinsam über solche Risikofälle, nachdem diese bei Behörden bekannt wurden. Sie prüfen gemeinsam die Wirksamkeit von Maßnahmen wie Wegweisungen oder auch angeordneten Therapien, um Opfer wirksamer zu schützen. Die Geschichte der Fallkonferenzen ist aber von politischen Querelen gezeichnet: Noch immer kritisiert der Rechnungshof, dass diese zu selten genutzt werden.
Zugegebenermaßen decken sich die Empfehlungen des Rechnungshofs großteils mit der neuen Studie zu Femiziden. Doch diese geforderte Datenanalyse ist nur einmalig erfolgt und wird nicht strukturiert durchgeführt. Für die Polizei braucht es mehr Unterstützung und für den gesellschaftlichen Wandel, und für Gewaltschutz generell fehlt die Strategie.
Datenanalyse als Schlüssel
Gemeinsam ist beiden Berichten, dass die Datenbasis besser werden muss und dies der Politik auch ausdrücklich nahegelegt wird. Neue Einblicke sind durch diese einmalige Auswertung schon möglich. Etwa, wie hoch der Anteil an älteren Frauen unter den Opfern ist und dass der mangelnde Zugang zu Sterbehilfe zumindest in Einzelfällen auch von Angehörigen als Ursache für erweiterte Suizide bestätigt wurde. Was schockierend ist. Oder dass der niedrige Anteil an Verurteilten bei einem Drittel der Täter auf Suizide (zusätzlich zu den Mord-Selbstmord-Femiziden) zurückzuführen ist. Was auch mehr Fragen aufwirft und den Ruf nach mehr Daten verschärft.
Denn Femizide, Frauenmorde und Kindsmorde an Mädchen sollten immer differenziert werden können. Genauso braucht es eine Analyse von Wegweisungen und Betretungsverboten, um die Wirksamkeit dieser Maßnahmen endlich beurteilen zu können. Oder eine Erhebung, welche Angebote und Maßnahmen in der Täter-/Gefährderarbeit helfen könnten. Ebenso sieht es eben bei der gesundheitlichen Versorgung aus, sei es psychische Gesundheit oder die Einrichtung von Gewaltambulanzen, um Gewalt auch als solche erkennen zu können.
Die Änderung der Gesellschaft und wie genau Rollenbilder geändert werden können, wird sich nicht in Zahlen gießen lassen. Doch das Monitoring, was im Gewaltschutz passiert und welchen Formen von Gewalt Frauen weshalb ausgesetzt sind, ist nach wie vor mangelhaft. Eben, weil es an statistischen Möglichkeiten fehlt. An Fachpersonal, das diese Gewalt erkennen könnte. Und auch ein bisschen an der Bereitschaft dazu.
Dazu braucht es einen gesellschaftlichen Wandel, der für echte Prävention nötig ist. Und der kann nicht verordnet werden, sondern braucht eben die gesamte Gesellschaft – und deren Bereitschaft und Überzeugungsarbeit dazu.