Ferenc Gelencsér: Orbáns letzter Widersacher
Unser Nachbarland war in den letzten Jahren selten Thema positiver Berichterstattung. Ungarn hat gerade nicht nur die höchste Inflation Europas – im Bereich Lebensmittel liegt sie bei 50 Prozent –, sondern auch rechtsstaatliche Probleme, weil Medien und Justiz von der Fidesz-Partei gekapert wurden. Während Bereiche wie das Bildungs- und Gesundheitssystem verfallen, fällt der ungarische Regierungschef mit Propaganda gegen die Europäische Union und Minderheiten auf. Die Lücke zwischen der ungarischen Selbst- und Fremdwahrnehmung ist enorm.
Auffällig, aber auch keine neue Entwicklung in Ungarn. Seit 2010, als Viktor Orbán zum zweiten Mal an die Macht kam, wurde der Staat durch kleine, konstante Schritte autoritärer. Er selbst kontrolliert den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die privaten Medien wurden durch Orbán-freundliche Seilschaften aufgekauft. Es ist also schwer, in unserem Nachbarland eine andere Perspektive auf die Dinge zu kriegen: Aus allen Kanälen hallen die Botschaften der Fidesz-Partei.
Einen Gegner hat er noch
Einer, der in diesen Nachrichten nur selten vorkommt, ist Ferenc Gelencsér. Er ist der Vorsitzende der Momentum-Bewegung, der liberalen Partei in Ungarn. 2022 trat die Protestbewegung, die sich eigentlich im Widerstand gegen die Austragung der Olympischen Spiele in Budapest gegründet hatte, mit anderen Parteien zusammen als Allianz der Opposition an und kam – in einem Wahlsystem, das Orbán systematisch fördert – auf 34 Prozent der Stimmen. Während der Regierungschef weiterhin jeden Morgen die Verfassung ändern kann, wie es ihm beliebt, ist der Einfluss der Oppositionspartei nach wie vor beschränkt. Auch in Nicht-Wahljahren, oder „Friedenszeiten“, wie Gelencsér sie nennt.
Wir treffen Gelencsér in seinem kleinen Büro in der Budapester Innenstadt, auf der Buda-Seite der Donau. Es ähnelt eher einem kleinen Start-up-Büro, kaum dekoriert, nur mit den Basics ausgestattet, nur ein kleines Bücherregal ziert den Eingangsbereich im Erdgeschoß. Auf dem Tisch liegen ausgedruckte Bilder von Projekten in Ungarn, die durch EU-Gelder finanziert wurden. Sie sollen erklären, wie das „System Orbán“ funktioniert und wieso die Europäische Union laut darüber nachdenkt, dem Land sämtliche Geldmittel zu streichen.
Der 33-jährige Parteichef ist also gut vorbereitet – auch wenn er sich dafür entschuldigt, das Gegenteil davon zu sein. Wir sind noch im Briefing für unser Interview, ich kündige an, in welchem Format der Text erscheint, und dass ich unter anderem wissen will, was es eigentlich bedeuten würde, es „so wie Orbán“ zu machen, wie Herbert Kickl gerne ankündigt.
Gelencsér ist sichtlich gezeichnet, auf keine andere Frage ist er besser vorbereitet als auf diese. Er schwankt zwischen persönlichen Anekdoten, politischen Skandalen und Statistiken, die Ungarns problematische Ausgangslage belegen, ganz beiläufig nennt er Verflechtungen zwischen Orbán-nahen Personen und staatlichen Unternehmen und Kennzahlen der staatlichen Verwaltung, nur um sich sofort wieder zu entschuldigen, weil das für mich ja gar nicht interessant sei.
Geschichten aus einem korrupten Staat
„Wenn du ein Hotel hast, kann es gut sein, dass eines Tages jemand an deine Tür klopft und sagt: „Das ist ein schönes Hotel, wie viel wird es mich kosten?‘ Und wenn du es nicht verkaufst, stehst du vor, nun ja … Herausforderungen, um es vorsichtig auszudrücken. Du wirst nicht in der Lage sein zu arbeiten. Das ist schon vielen Leuten passiert, sie haben ganze Baubereiche“, erzählt Gelencsér anekdotisch dazu, wie Ungarn funktioniert. „Sie“, das sind Orbán und seine Freunde, das sind Fidesz-nahe Unternehmen, die sämtliche Bereiche der Wirtschaft dominieren. Selbstständig zu wirtschaften, ohne sich mit der Partei zu befassen oder durch sie behindert zu werden, sei in Ungarn schwer geworden.
Auch Gelencsér selbst spürt es. Nicht nur als Politiker einer Oppositionspartei, gegen den gerade vier Anklagen laufen. Auch als Privatperson, wie er betont. „Entschuldige, ich erzähle das jetzt nicht als Momentum, sondern als Mitglied dieser Gesellschaft und als Ungar“, betont er mehrmals, wenn er aus seinem Privatleben erzählt. Etwa über das eine Mal, als er nach der Blutabnahme gebeten wurde, das Blut selbst in ein Labor zu bringen – das Krankenhaus, eines der größten in Budapest, hätte zu wenig Personal dafür. Das Ergebnis im Labor: Diagnose Krebs. Erst nach Einbringen einer zweiten Meinung in einer Privatklinik stellte sich heraus, dass diese Auswertung falsch war, Gelencsér doch gesund. „Dieser Staat fällt auseinander“, erzählt er, und er meint nicht nur das Gesundheitssystem.
Kulturkampf statt Reformen
Diese Beispiele ziehen sich durch alle möglichen Bereiche. Gelencsér erzählt von einem „Rachegesetz“ gegen Lehrkräfte, die gegen die Regierung protestiert hätten. In Ungarn unterstehen die Schulen dem Innenministerium, ein eigenes Ressort für Bildung gibt es nicht. Daher können Laptops, Handys und private E-Mails der Lehrkräfte mittlerweile durchsucht werden – immerhin sind sie Teil des Systems, und das System habe Zugriff auf sie. Die zuständige Justizministerin Judit Varga, die gleichzeitig durch zwei Korruptionsskandale bekannter wurde, führt nächstes Jahr bei der EU-Wahl die Liste der Fidesz an.
Aber all diese Themen dominieren nicht die Medien. Was wirklich diskutiert wird, sind Fragen der Wokeness. Viktor Orbán inszeniert sich als Retter der christlichen Werte, des Abendlandes. „Harry Potter muss jetzt einfoliert werden“, erzählt Gelencsér. Durch ein neues Gesetz darf Literatur nicht mehr frei zugänglich sein, wenn sie nahelegt, dass es mehr als zwei Geschlechter geben könnte, dass Menschen nicht immer nur heterosexuell sind. Die Harry-Potter-Figur Albus Dumbledore etwa ist schwul – was man nur weiß, wenn man die Fortsetzung kennt. „Ich habe Geschichte studiert. Wenn man Bücher zensieren will, will man sie früher oder später vielleicht auch verbrennen.“
„Demokratie“ ohne Debatte
Diese Themen dominieren also den ungarischen Alltag: Die Fidesz-treuen Medien schreiben unkritisch darüber, wie die Fidesz-Alleinregierung ohne Checks & Balances den Staat verändert. Der Diskurs dreht sich – neben den „Errungenschaften“ der ungarischen Regierung, die immerhin die höchste Inflation Europas verschuldet – um die queere Community, die böse EU und angebliche Machenschaften der Opposition. Ein Plakat mit den Köpfen bekannter Oppositioneller ist in ganz Ungarn zu sehen. Unter ihnen die Aufschrift: „Kriegstreiber“.
„Als ob irgendjemand Krieg will“, sagt Gelencsér und ist sichtlich frustriert, dass seine ungarischen Landsleute das glauben. Denn nicht nur die Medien würden dieses Narrativ verbreiten, sondern auch die „Ersatzmedien“, Facebook-Seiten mit Millionenbudgets. Wer Facebook öffne, sehe nichts anderes mehr als die Weltsicht der ungarischen Regierung. Ab und zu werden diese Seiten gesperrt – aber es ist genug Geld da, um sie neu aufzubauen. In ganz Europa gibt niemand mehr für politische Werbung aus als diese Ersatzmedien in, eben, „Friedenszeiten“.
„Viktor Orbán tut so, als wären unsere zwei Leute im EU-Parlament daran schuld, dass die Inflation in Ungarn so hoch ist. Ich meine, komm schon!“
Der frustrierte Rebell
Man merkt Gelencsér an, wie sehr ihn das mitnimmt. Aber nicht aus Angst, dass ihm etwas passieren könnte. Dieser Zug ist längst abgefahren: Als Momentum jüngst einen Zaun rund um das Regierungsgebäude entfernte, wurde er in vier Punkten angeklagt: Orbán sieht darin eine organisierte, bewaffnete Störung der öffentlichen Ordnung. Mehrere Abgeordnete wurden trotz Immunität in Gewahrsam genommen, Gelencsér selbst von der Polizei hinter ein Gebäude gezogen, „wo die Medien ihn nicht sehen können“, wie einer von ihnen sagte. „Sie haben mir fast den Arm gebrochen“, sagt er mit einer gespenstischen Beiläufigkeit.
Mit Gelencsér zu reden, fühlt sich nicht an, als würde man mit einem Politiker reden. Das Gespräch hat eher den Ton eines Interviews mit jemandem, der im sozialen Untergrund lebt und sich mit den Konsequenzen seiner eigenen Meinung – des liberalen Grundrechts, die Dinge anders sehen zu können – schon lange abgefunden hat.
„Alle meine Freunde sind weggezogen“, erzählt er. Einer sei jetzt in Rotterdam, weil er dort seine eigene Praxis eröffnet habe. „Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war das das große Versprechen: dass du in einer Straße wie der Mariahilfer Straße ein eigenes Café eröffnen kannst. Das war schon der Traum. Das ist gar nichts!“, sagt er. „Dieses Land hätte alles sein können. Estland hat 3 Prozent seines BIP nur durch Digitalisierung eingespart. Und das ist nicht die Zukunft – das ist die Gegenwart. Das ist, was wir als Momentum wollen: dass dein Steuergeld für dich ausgegeben wird, nicht für die.“
Gelencsér im Kampf gegen Windmühlen
Aus österreichischer Sicht ist Gelencsér eine besonders tragische Figur. Hierzulande würde man ihn als charismatisches, intellektuelles Kommunikationstalent feiern. Er wäre klassischer Kandidat, der eine Partei nach einer Krise übernehmen könnte, den man im Fernsehen herzeigen will. Aber in Ungarn gelten andere Spielregeln. Hier hat der Oppositionelle keine Bühne, keine Basis, um etwas aufzubauen. Wo man in Österreich zu schimpfen beginnt, wenn Einzelne im Journalismus eine deutliche Meinung haben, ist seine Momentum-Partei wirklich alleine gegen alle: Gegen die Medien, die Justiz, die Regierung und das ganze System an sich.
2026 wird in Ungarn planmäßig das nächste Mal gewählt. Aber dank eines Wahlgesetzes, in dem Fidesz selbst die Regeln macht und die Opposition systematisch klein hält, ist wenig Veränderung zu erwarten. Vor allem weil in Ungarn keine echte Debatte entstehen kann – wenn Orbán sagt, dass die Opposition „Kriegstreiber“ sind, dann ist es in den Augen vieler so. Und wer Englisch versteht, die Wahrheit in ausländischen Medien nachlesen kann und merkt, dass es in Ungarn keine Zukunft gibt, zieht weg.
Am Ende unseres Interviews – wir reden fast zwei Stunden – bietet Gelencsér einen weniger deprimierenden Schlusssatz an: Alles habe ein Ende. Ungarn habe von Dschingis Khan bis zum Kommunismus alles überlebt. Und auch die Zeit nach Orbán werde kommen. Es sei die Arbeit seiner Generation, den Scherbenhaufen aufzuräumen.