Hat die Kassenfusion das Gesundheitssystem fairer gemacht?
Artikel 7 der Österreichischen Bundesverfassung besagt, dass alle Staatsbürger vor dem Gesetz gleich sind. Vor der Versicherung allerdings nicht, sonst gäbe es nicht verschiedene Versicherungsgesetze: Die meisten fallen unter das ASVG, Beamt:innen und einige andere Berufsgruppen haben eigene Gesetze. In Österreich gibt es das Konzept der Pflichtversicherung, was bedeutet, dass sich niemand selbst aussuchen kann, wo er oder sie versichert ist oder wie viele und welche Leistungen von dieser Versicherung bezahlt werden.
Das bedeutet, dass die verschiedenen Versicherungsverhältnisse oft vom Arbeitgeber oder der Arbeitgeberin abhängig sind. Ob eigene und andere Versicherungsleistungen zwischen Beamt:innen, Selbstständigen und Angestellten gut zu rechtfertigen sind oder nicht, ist deshalb gerne Inhalt von Diskussionen. Weniger unterschiedliche Ansichten gab es dagegen bei den ehemaligen Gebietskrankenkassen, immerhin zahlen Angestellte in allen Bundesländern den gleichen Gehaltsanteil als Versicherungsbeitrag. Unterschiede gab es nur in der Größe der Budgets der Kassen. Denn Krankenkassen in Bundesländern mit einer starken Industrie hatten mehr Einzahler:innen als Bundesländer mit einer höheren Arbeitslosigkeit, weshalb es unterschiedlich war, wie viele oder welche Behandlungen die Kassen für ihre Versicherten zahlten. So war in Salzburg der Zuschuss zu Physiotherapie höher als in Kärnten, dafür war in einem anderen Bundesland der Beitrag für eine Brille oder ein Hörgerät höher.
Mit den verschiedenen Gebietskrankenkassen und Versicherungen für Selbstständige, Bäuerinnen und Bauern, Beamt:innen, etc. gab es insgesamt 21 Versicherungsträger, und viele davon hatten große, wichtige Gremien. Denn in guter österreichischer Tradition sind Versicherungen nicht einfache Unternehmen, vielmehr werden die Entscheidungen bei Versicherungen nach dem Konzept der Sozialpartnerschaft gefällt. Das geht, weil Vorstände und Generaldirektor:innen je nach Versicherungsträger von Vertreter:innen der Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen entsendet wurden. Das ist ad hoc für die Funktionsweise nicht wichtig, erklärt aber, warum beispielsweise die SPÖ die Kassenfusion im Jänner 2020 noch immer bedauert.
Wer zahlt, schafft an
Klar war jedenfalls schon lang: Zwischen den Gebietskrankenkassen (GKKs) gab es sehr große Unterschiede, welche Leistungen bezahlt wurden, und noch viel größere Unterschiede, was die Kassen sich leisten konnten. Denn je nachdem, wie sich die Gruppe der Versicherten zusammensetzte, konnten die Kassen Rücklagen bilden oder mussten wesentlich mehr ausgeben, als sie einnahmen. Das war schon viel früher ein Problem, und meistens hat sich das bei der Wiener Gebietskrankenkasse geäußert.
Einerseits gab es in Wien immer mehr Menschen als in anderen Bundesländern, andererseits hat sich die Bevölkerung zwischen den Versicherungen auch immer verteilt. Viele der gut bezahlten Jobs waren Beamtenstellen, auch die Beamt:innen und Angestellten der Stadt Wien waren ebenso wenig bei der Gebietskrankenkasse versichert, sondern bei der eigenen Krankenfürsorgeanstalt (sozusagen dem stadteigenen Versicherungsträger). Auch ÖBB-Angestellte und die Selbstständigen haben eigene Versicherungsträger und fielen damit nicht in die Versichertenmasse der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK). Teil der WGKK waren aber Arbeitslose, Sozialhilfebezieher:innen, Niedrigverdiener:innen etc. – die wenig in die Versicherung einzahlen, aber auch volle Leistungen benötigen. Dementsprechend hatte die WGKK immer weniger Budget bzw. Rücklagen als alle anderen GKKs und war Mittelpunkt von Finanzierungsdiskussionen. 2009 wurde etwa ein Kassensanierungspaket beschlossen, das die Rücklagen der wohlhabenderen Bundesländer an die WGKK verteilen sollte. Weil aber klarerweise die reicheren Bundesländer ihre Finanzpolster nicht teilen wollten, landete das Vorhaben vor dem Verfassungsgerichtshof und wurde gekippt.
Wer nicht zahlt, kriegt trotzdem Geld
Es brauchte also eine andere Lösung zur Konsolidierung. Unter Türkis-Blau wurden die Gebietskrankenkassen einfach auf einen Versicherungsträger – die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) – zusammengelegt, allerdings wurde dies leider mit dem Schmäh der „Patientenmilliarde“ gekoppelt. Theoretisch sollte diese Summe die Einsparungen darstellen, die entstehen, wenn es statt neun Verwaltungen nur eine gibt. Allerdings war damit auch postuliert, dass diese Milliarde Euro niemals eine neue Milliarde ist, die ins System der Versicherungsträger oder eben der ÖGK kommt. Schon gesagt wurde, dass die Rücklagen für die einzelnen Bundesländer weiterhin zur Verfügung stehen sollten. In der Praxis ist dieser Rücklagenerhalt nicht passiert, zumindest attestiert der Rechnungshof, dass dieses Versprechen „wenig wirksam“ blieb.
Für die Versicherten ist es natürlich praktisch, wenn die Versicherungsbeiträge, die von allen eingezahlt wurden, auch für alle zur Verfügung stehen. In einigen Bundesländern wird aber nach wie vor auf diese Rücklagen gepocht, so sollen diese beispielsweise auf Antrag der SPÖ in Oberösterreich für eine eigene Termingarantie verwendet werden. Die große Frage hinter diesem Zugang ist deshalb: Soll eine solidarische Versicherungsgemeinschaft solidarisch für das ganze Land sein oder nur für ein Bundesland?
Was ist Solidarität?
Alleine gemessen an den bundesweit einheitlichen Beiträgen könnte man sagen: Solidarität sollte sich auf das ganze Land beziehen. Aber natürlich ist das nicht so einfach, und dementsprechend lang haben viele Schritte gedauert. Mit der Zeit wurden immer mehr Verträge bundesweit neu abgeschlossen, und so bekommen Versicherte in Österreich jetzt für Hörgeräte, Physiotherapie, für Hebammenbetreuung oder auch bei Optiker:innen dieselbe Erstattung. Bei manchen dieser Bereiche merken Versicherte natürlich trotzdem nichts davon – wer beispielsweise in einem Ambulatorium für physikalische Therapie auf Kassenkosten behandelt wird, bekommt nicht mit, wie viel in welchem Bundesland dafür gezahlt wird.
Ein großer Knackpunkt ist außerdem in der Ärzt:innenschaft auszumachen – auch weil der Abschluss hier um einiges komplizierter ist. Physiotherapeut:innen oder Hebammen beispielsweise haben nur eine Berufsvertretung, dementsprechend leicht kann mit diesen verhandelt werden. Bei den Ärzt:innen ist das nicht so, hier gibt es neun verschiedene Ärztekammern, und innerhalb dieser haben bisher auch die einzelnen Fachvertretungen (also Kinderärzt:innen, Augenärzt:innen etc.) immer individuell mit der jeweiligen Gebietskrankenkasse verhandelt, was sich die einzelnen Stellen nicht nehmen lassen wollen. Erschwerend kommt hinzu, dass unterschiedliche Lebenshaltungskosten zwischen dem Burgenland und Vorarlberg angeführt werden. Einheitliche Tarife lehnt die Ärzteschaft deshalb ab. Nachdem die ÖGK hier alleine nicht weitergekommen ist, sollte ein neuer Gesamtvertrag als Teil des Finanzausgleichs erzielt werden. Mit dem Ergebnis, dass unterschiedliche Ärztekammern dagegen mobilisierten und Kampfmaßnahmen androhten. Nachdem der Finanzausgleich überwiegend zwischen Bund und Ländern verhandelt wird, passierte allerdings wenig überraschend nichts, und ein nötiger Gesamtvertrag wird weiterhin als „scheiterndes Allheilmittel“ für das Kassensystem propagiert.
Halbfertige Kassenfusion
Der wichtigste Baustein, um Patient:innen zum gleichen Preis gute Gesundheitsversorgung zu bieten, fehlt also. Die große Frage ist dementsprechend, ob mit der Fusion eine Verbesserung erzielt wurde. In vielen Bereichen wird dies weiterhin dauern, so bei offenen Verträgen wie für das Rettungswesen, bei der Vereinheitlichung der Informatik etc. Unmöglich ist es aber nicht, und langfristig könnten damit nach wie vor Einsparungspotenziale erzielt werden.
Trotzdem kann nicht alles an der Kassenfusion schöngeredet werden. Es wurde eine Milliarde erfunden, um die Bevölkerung von einer unbeliebten Maßnahme zu überzeugen. Personal kann in einem ersten Schritt gar nicht eingespart werden, weil Gesetze vorsehen, dass Umstrukturierungen nicht zu Kündigungen führen dürfen, sondern nur zu Personalabbau durch Pensionierungen – diese Verwaltungseinsparung wird also jedenfalls Zeit brauchen. Zusätzlich wurden ohne gute Basis Beraterverträge für die Fusion in Millionenhöhe vergeben, diese wurden mehrfach, auch vom Rechnungshof, kritisiert. Wie viel die Kassenfusion abseits der Berater:innenverträge gekostet hat, wird sich aber kaum eruieren lassen – die Klassifizierung, welche Aufwände als Fusionsaufwand gezählt werden oder nicht, wurde (ebenso laut Rechnungshof) gelinde gesagt wahllos durchgeführt. Eine reine Verbesserung der Effizienz sieht also anders aus.