Erinnerungskultur neu denken
Konzentrationslager konservieren heute die schrecklichen Verbrechen der NS-Zeit. Sie zu besuchen ist ein Muss. Mit Technologie und Apps kann die Auseinandersetzung mit der Geschichte noch besser erweitert werden.
Spätestens als ich in dem düsteren, stickigen Raum die Spuren von Kratzern an den Wänden entdeckte, war es für mich realer denn je. Hier starben Menschen qualvoll, unschuldig, unter barbarischen Umständen, die sich kaum jemand heute noch vorstellen kann. Räume wie dieser waren nur ein Teil der Gräueltaten, die Millionen von Menschen im Nationalsozialismus erleiden mussten.
Heute vor 78 Jahren wurde das Konzentrationslager in Auschwitz in Polen befreit. Jedes Jahr gedenken wir an diesem Tag des Holocaust und versprechen, dass so etwas nie wieder passieren darf. Ich war im November das erste Mal in Auschwitz, als Teil einer Delegation der European Jewish Association. Ich gehöre zu der Generation, deren Großeltern keine Geschichten aus dem Krieg mehr erzählt haben – meine Oma war ein Jahr alt, als der Krieg zu Ende ging. Ich habe in der Schule, in Filmen und Museen über die schlimmsten Verbrechen unserer Geschichte gelernt.
Das Konzentrationslager in Auschwitz ist ohne Zweifel einer der Orte, der die Menschenverachtung des Nazi-Regimes am eindrucksvollsten vermitteln. Allein die Größe dieses Lagers ist erschütternd. In den Gaskammern scheint immer noch die Furcht festzusitzen – von Menschen, die um ihre letzten Atemzüge gekämpft haben, nur weil sie Jüdinnen und Juden, Roma, Sinti, Homosexuelle oder politische Gegner:innen waren. Ich kämpfte mit Tränen, als ich die unzähligen persönlichen Gegenstände – Schuhe, Koffer, Töpfe – sah, die oft das Einzige sind, was von diesen Menschen geblieben ist.
Vieles von dem, was wir heute über die Konzentrationslager wissen, hören wir von Zeitzeug:innen. Viele von ihnen sind bereits gestorben, einige wenige gibt es noch. Das Ende des Zweiten Weltkrieges und die schrecklichen Verbrechen des Holocaust liegen immer weiter in der Vergangenheit. Wir als Gesellschaft müssen uns also überlegen, wie wir den Umgang mit unserer Vergangenheit in Zukunft sicherstellen – gerade in Vorbereitung auf die Zeit, in der uns keine Überlebenden mehr davon erzählen können.
Es braucht ein Umdenken in der Erinnerungskultur, in dem wir uns auch die Digitalisierung zunutze machen. Die dritte Generation seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Generation der Digital Natives, ein großer Teil ihres Lebens spielt sich im virtuellen Raum ab.
Nehmen wir Social-Media-Plattformen als Beispiel. Wie können diese klassische Dokumentationen ergänzen? Ein Beispiel ist der Instagram-Account „eva.stories“, auf dem man über Insta-Stories das Schicksal der ungarischen Jüdin Eva Neymann verfolgen kann. Auf dem Profil „ichbinsophiescholl“ folgt man der Widerstandskämpferin in den letzten zehn Monaten ihres Lebens.
Es gibt auch Bemühungen, mittels 3D-Hologrammen eine möglichst realitätsnahe Auseinandersetzung mit den Geschichten von Zeitzeug:innen zu ermöglichen. Sie erlauben die Simulation von Gesprächen mit Holocaust-Überlebenden, die mithilfe von Spracherkennung auf Fragen antworten. Man tritt mit ihnen in den Dialog, als würden sie vor einem sitzen. Neben Hologrammen holen auch Augmented-Reality-Apps Zeitzeug:innen in die Gegenwart, als wären sie mitten im Raum. Die Authentizität, mit der diese über ihre Erlebnisse erzählen können, lässt sich nur schwer ersetzen. Aber für die Zeit, wo es keine lebenden Zeitzeug:innen mehr geben wird, ist das sicherlich eine mögliche Alternative.
Übrigens: Das österreichische Parlament beteiligt sich auch dieses Jahr wieder an der Gedenkaktion #WeRemember, und zwar mit einer digitalen Fotoaktion. Abgeordnete waren dafür eingeladen, sich den Namen eines Opfers des Konzentrationslagers Mauthausen auszusuchen und mit einem Foto die Geschichte der Person zu erzählen.