In dubio pro Niccolò? Warum sich ein Blick in Machiavellis Œuvre lohnt
Hört man heute den Namen Machiavelli, assoziiert man ihn wahrscheinlich zuerst mit etwas Negativem: Machiavellismus, der Zweck heiligt die Mittel, Dunkle Triade. Aber stimmt das wirklich? Was hat Machiavelli tatsächlich geschrieben, und wie viel steckt davon in unserem heutigen Verständnis von Machiavellismus? Ein Blick in das Schaffen eines missverstandenen Denkers.
In der Psychologie ist der Machiavellismus neben Narzissmus und Psychopathie Teil der „Dunklen Triade“ – jenen Persönlichkeitsmerkmalen, die beispielsweise mit erhöhten Straftaten, Aggressivität oder Unehrlichkeit in Verbindung gebracht werden. Machiavellisten streben frei von Moral nach Macht, auf dem Weg dorthin ist ihnen jedes Mittel recht. Häufig findet man Menschen, die eine hohe Übereinstimmung mit der Dunklen Triade haben, in Führungspositionen: Nicht nur erlangen sie diese leichter, sie steigen dort auch immer weiter auf. Wie hat es Niccolo Machiavelli, der florentinische Denker der Renaissance, mit seinem Werk in die Psychologie geschafft? Und was ist der Unterschied zwischen Machiavelli und Machiavellismus?
Il Principe oder die Welt, wie sie ist – nicht, wie sie sein sollte
„Der Fürst“ (Il Principe) von Machiavelli, entstanden 1513, ist seit seiner Veröffentlichung ein kontroverses Werk – so kontrovers, dass die Kirche es 1557 auf den Index der verbotenen Bücher setze. Zum Kontext: Machiavelli schrieb den „Fürsten“ im Exil unweit von Florenz, nachdem er durch die Rückkehr der Medici all seine Ämter verlor. Widmungsträger des Werks: Lorenzo di Medici. Nun mag man in dieser Widmung Zynismus erkennen, vielleicht aber auch Anbiederung, oder eben schlichtweg ein Handbuch für Herrscher. Besonders letztere Interpretation findet man heute in verschiedensten Varianten in Bücherregalen: Es gibt Machiavelli für den alltäglichen Gebrauch, Machiavelli für Frauen, den Modernen Machiavelli für Office Politics. Doch was steht in diesem Buch, das kaum mehr als 100 Seiten stark ist und anscheinend so viel Sprengkraft besitzt, dass die Kirche dessen Verbreitung fürchtete?
Beim ersten Durchlesen fällt einem schnell auf, dass es sich beim Fürsten keineswegs um ein bitterböses Handbuch für skrupellose Machthaber handelt. Vielmehr schrieb Machiavelli ein ausgesprochen empirisches Werk, trennte sowohl Kirche und Staat als auch weitestgehend Moral und Staat und begründete seine Empfehlungen stets anhand von geschichtlichen Beispielen. Ja, der „Fürst“ ist amoralisch und zweckrational – aber genau darin liegt seine große Stärke. In Zeiten, in denen Säkularisierung noch in den Kinderschuhen steckte und der Papst als einflussreichster Mann des Kontinents galt, legte Machiavelli ein Werk vor, das mit vielen Konventionen der Renaissance brach. Erlangen und Erhalten von Herrschaft ist das, worum es im „Fürsten“ geht. Dabei nimmt Machiavelli die Welt, wie sie ist, und nicht, wie sie sein sollte.
Reduziert man den „Fürsten“ aber auf ein Handbuch für skrupellose Machthaber, tut man ihm unrecht. Viel spannender ist es, wenn man rund 400 Jahre in die Zukunft springt und Max Weber mit seiner Verantwortungsethik ins Spiel bringt. Weber etablierte die Verantwortungsethik als Antithese der Gesinnungsethik, bei der die eigene Moral und Prinzipien das Handeln bestimmen. In der Verantwortungsethik geht es allerdings um die Handlungsfolgen – diese stehen an erster Stelle. Die eigenen Prinzipien rücken hier also in den Hintergrund. Im Idealfall, so Weber, schafft eine politische Figur den Spagat zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Vor diesem Hintergrund erscheint Machiavelli wie ein Verantwortungsethiker par excellence. Mehr noch: Machiavelli war möglicherweise der erste Verantwortungsethiker in der Geschichte.
Von der Grausamkeit und Milde, und ob es besser ist, geliebt, oder gefürchtet zu werden
Eine der berühmtesten Aussagen, die man heute mit Machiavelli in Verbindung bringt, ist die: Es sei besser, gefürchtet zu werden als geliebt zu werden. Machiavellis Sicht ist aber nuancierter:
„Ob es besser sei, geliebt zu werden als gefürchtet, oder besser gefürchtet zu werden als geliebt? Ich antworte: beides sollte man sein.“
Niccolò Machiavelli
Noch wichtiger ist aber das, was danach kommt: Machiavelli empfiehlt dem Herrscher, „dass wenn er die Liebe auch nicht gewinnt, er den Hass doch vermeide“. Ein verhasster Herrscher läuft nämlich Gefahr, jederzeit einer Revolution zum Opfer zu fallen. Im Gegensatz zu einem Freifahrtschein für Skrupellosigkeit und Hinterlist wird hier eine Empfehlung abgegeben, so gut wie möglich, aber so gefürchtet wie nötig zu sein. Ganz im Sinne der Verantwortungsethik soll man dabei seine Handlungen nicht durch die eigenen Moralvorstellungen beeinflussen lassen. Tu, was getan werden muss.
Discorsi: Vom Staate
Allerdings ist der Fürst nicht Machiavellis einziges Werk. Die Discorsi, sein Opus magnum, findet heute weit weniger Beachtung – vielleicht weil die Gedanken des Florentiners dort wesentlich handzahmer sind. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist es aber mindestens genauso interessant wie „Il Principe“.
Die Discorsi schreibt Machiavelli als glühender Verfechter der Republik als beste Staatsform und geht dort ähnlich empirisch vor wie im „Fürsten“, der fast zeitgleich entstand. Die Republik, so Machiavelli, hat den Vorteil, dass sie auf die Intelligenz des Volkes zurückgreifen kann, statt von einem einzelnen Herrscher oder einer Gruppe (zügelloser) Adeliger abhängig zu sein. Wichtig ist also, dass sich Macht im Staat verteilt und nicht an einem Punkt zentriert.
Solche Gedanken mögen uns heute selbstverständlich erscheinen – im frühen 16. Jahrhundert waren sie das keinesfalls. In den Discorsi macht sich Machiavelli für Partizipation stark, die Reformdruck auf den Staat ausüben soll und so dessen Funktionsfähigkeit sicherstellt. Man kann nur spekulieren, was passiert wäre, wenn der „Fürst“ nie geschrieben worden wäre, und ob die Discorsi heute genauso berühmt wären. Ein Blick in beide Werke lohnt aber allemal, gerade aufgrund ihrer Unterschiede.
Machiavelli vs. Machiavellismus
Zweifelsohne kann man den „Fürsten“ in ein negatives Licht rücken – besonders im Kontext des 20. Jahrhunderts und all derer, die ihn sich zum Vorbild nahmen. Und ja, man sollte Machiavelli mit einem kritischen Blick lesen. Das sollte man aber jedes Werk. Tut man das, bleibt ein messerscharfer Analytiker übrig, der für die damalige Zeit avantgardistische Werke verfasst hat, deren Ruf heute weitaus schlechter ist als ihr Inhalt.
Machiavelli war keinesfalls nur das, was heute gemeinhin mit Machiavellismus assoziiert wird. Selbst im „Fürsten“ heiligt der Zweck nicht jedes Mittel. Einen großen Denker auf diese Aussage zu reduzieren, würde seinem Schaffen unrecht tun. Es ist also durchaus sinnvoll, zwischen Machiavelli und Machiavellismus zu unterscheiden und im Zweifelsfall das Original zu lesen. Machiavellis Ideen haben zu Recht die Jahrhunderte überdauert und ihren Platz in der Geschichte der politischen Theorie. Aus verantwortungsethischer Sicht haben sie heute vielleicht sogar mehr Relevanz, als wir ihnen zugestehen.