Inklusion am Arbeitsmarkt: Was wir von den Niederlanden lernen können
„Was, ihr schafft die Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt?“
Der Repräsentant des Landkreises Recklinghausen kann es kaum fassen. Der erste, das ist der „normale“ Arbeitsmarkt abseits von Sozialbetrieben und Beschäftigungsprogrammen. In den Niederlanden ist die Vermittlung von Personen mit Behinderungen auf den ersten Arbeitsmarkt keine Seltenheit – mehr als 700 Personen mit Autismus, Down Syndrom, Schizophrenie und verschiedenen körperlichen Behinderungen arbeiten in der niederländischen Region Drechtsteden im Supermarkt, bei Fast-Food-Ketten, Reinigungsfirmen oder im Transportwesen und werden dabei vom Sozialen Dienst unterstützt. In vielen anderen Ländern ist es für Personen mit „Rucksack“ nahezu unmöglich, am ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Sie sind auf Sozialbetriebe, öffentliche Beschäftigungsprogramme und Tageswerkstätten angewiesen.
Partizipation per Gesetz verordnet
Mit ähnlichen Problemen kämpft auch Deutschland. Die Delegation aus der nahegelegenen deutschen Region ist auf Arbeitsbesuch angereist, um vom niederländischen Modell zu lernen. Dort trat 2015 das Partizipationsgesetz in Kraft, das die Gemeinden für die Re-Integration am Arbeitsmarkt und Teilhabe an der Gesellschaft von Mindestsicherungsbezieher:innen verantwortlich macht. Gleichzeitig haben sich Arbeitgeber:innen und Regierung 2013 auf die Jobvereinbarung geeinigt – Privatwirtschaft und Staat müssen bis 2026 mindestens 125.000 Personen mit Behinderungen oder gesundheitlicher Beeinträchtigung einstellen.
Ausgleichende Gerechtigkeit für Arbeitgeber:innen
Den Gemeinden werden dafür einige Instrumente zur Verfügung gestellt, allen voran die Lohnkostenförderung. Mit dieser übernimmt die öffentliche Hand einen Teil der Lohnkosten, um den Produktivitätsverlust auszugleichen. Wenn der:die Arbeitnehmer:in eingearbeitet ist, findet eine Produktivitätsmessung statt. Zeigt sich, dass der:die Arbeitnehmer:in zum Beispiel eine Produktivität von 55 % aufweist, werden dem:der Arbeitgeber:in 45 % der Lohnkosten von der Gemeinde ersetzt. Der Produktivitätsersatz kann bis zu einem Maximum von 70 % erfolgen und ist zeitlich unbegrenzt, in regelmäßigen Abständen finden Neumessungen statt. Die Lohnkostenförderung wird flankiert von Jobcoaching, temporärem Reisekostenersatz, finanziellen Mitteln für notwendige Anpassungen am Arbeitsplatz und Betreuung von Mitarbeiter:innen der Gemeinde vor, während und nach der Vermittlung.
Das Ziel der 125.000 Jobs für Personen mit Einschränkungen ist jedenfalls in Reichweite. Ende 2020 arbeiteten 67.000 Personen mit Behinderungen oder sonstiger Einschränkung zusätzlich in niederländischen Betrieben und öffentlichen Institutionen, 25.000 davon mit Lohnkostenförderung.
Inklusion: eine bewusste Entscheidung
Die Region Drechtsteden in der Nähe von Rotterdam ist Vorreiter bei der Betreuung und Vermittlung von Personen mit Abstand zum Arbeitsmarkt. Gemeinsam mit Betrieben hat der Soziale Dienst Lehrlinien entwickelt, die das (Wieder-)Erlernen von am Arbeitsmarkt relevanten Fähigkeiten und von branchenspezifischen Qualifikationen ermöglichen.
Bei der Vermittlung setzen die Drechtsteden stark auf Lohnkostenförderung – eine bewusste politische Wahl. Diese kostet mitunter genauso viel wie der Bezug der Mindestsicherung, gesamtgesellschaftlich ist die Bilanz trotzdem positiv. Denn Arbeit ist nicht nur wert- sondern auch sinnstiftend. Im Drechtsteden-Projekt „Arbeit als beste Gesundheitsvorsorge“, das Personen mit psychischen Problemen vermittelt, wurde errechnet, dass eine Anstellung die Gesundheitskosten für Personen in psychiatrischer Behandlung halbieren kann.
Eine (erreichbare) Utopie für Österreich
Die Inklusion von Personen mit einem Abstand zum Arbeitsmarkt ist keine Hexerei, trotzdem hinkt Österreich in dieser Thematik hinterher. Es gibt zwar einige Positivbeispiele von inklusiver Arbeitsmarktpolitik – Trafiken werden z. B. nur noch an Personen mit Behinderung vergeben, wodurch deren Anteil inzwischen über 50 % gestiegen ist. Solche Initiativen sind allerdings dünn gesät und oft nischenhaft. Personen mit Einschränkungen sind in Österreich in den allermeisten Fällen staatlich gefördert in arbeitsähnlichen Verhältnissen tätig, wo sie nur ein Taschengeld erhalten und sozial kaum abgesichert sind.
Statt Wege zu finden, den ersten Arbeitsmarkt für alle zugänglicher zu machen, wird der zweite Arbeitsmarkt ausgeweitet – wie zum Beispiel bei der (inzwischen wieder beendeten) Aktion 20.000, die Arbeitsplätze für ältere Langzeitarbeitslose am 2. Arbeitsmarkt bereitstellte. Die Eingliederung von Personen mit Einschränkungen in den ersten Arbeitsmarkt ist in Österreich eine Utopie. Bessere Lösungen sind in Reichweite, wie die Niederlande zeigen – wenn der politische Wille da ist.