Inklusive Bildung: Von Stillstand und Rückschritten
Bildung ist der Grundstein für vieles im Leben. Bereits im Kindergarten, spätestens aber in der Volksschule lernen wir nicht nur Inhalte von Kunst, über Mathematik bis hin zu Sprachen, man lernt – und das ist mindestens genauso wichtig – auch den sozialen Umgang mit Gleichaltrigen, Autoritätspersonen und Andersdenkenden. Der Vorteil ist: Kinder sind viel unvoreingenommener als Erwachsene und haben somit eine hohe Toleranz und Offenheit für alles, was nicht ihrer selbst entspricht. Das gilt für Aspekte wie Hautfarbe, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit – und auch, ob ein:e Mitschüler:in ein Behinderung hat. Deswegen ist es wichtig, dass Österreich im Bereich der inklusiven Bildung, angefangen im primären, über den sekundären, bis hin zum tertiären Bildungsbereich, endlich Meter macht. Denn nur so gelingt der Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft.
Österreichische Widersprüchlichkeit
In den vergangenen Jahren hat der fehlende Rechtsanspruch auf ein 11. und 12. Schuljahr eine beträchtliche mediale Aufmerksamkeit bekommen, was im Bereich der Inklusion alles andere als üblich ist. Worum geht es? Laut Schulpflichtgesetz beginnt die Schulpflicht mit dem auf die Vollendung des sechsten Lebensjahres folgenden 1. September und dauert neun Jahre. Kinder ohne Behinderungen haben nach Ablauf dieser neun Jahre die Möglichkeit, eine weiterführende Schule zu besuchen und somit insgesamt 12 oder mehr Jahre in die Schule zu gehen. Bei Kindern mit Behinderungen, genauer gesagt bei Kindern, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, ist die Sachlage nicht ganz so einfach. Artikel 32 Absatz 2 des Schulunterrichtsgesetztes besagt, dass ebenjene Kinder, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, nur mit Bewilligung des Schulerhalters und mit Bewilligung der zuständigen Schulbehörde länger als zehn Jahre in die Schule gehen dürfen.
Diese Rechtslage steht im krassen Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), zu deren Umsetzung sich Österreich bereits 2008 mit deren Ratifizierung verpflichtet hat. Die UN-BRK besagt in Artikel 24, dass die Vertragsstaaten sich zum Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderungen bekennen. Und weiter:
„Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden.“
Gleiches Recht für alle? Mitnichten
Infolge des Widerspruchs zwischen geltendem Recht laut Schulunterrichtsgesetz und UN-BRK wendete sich das Bundesverwaltungsgericht, bei dem eine Beschwerde aufgrund von Diskriminierung eingelangte, an den Verfassungsgerichtshof. Dieser kam zu dem Urteil, dass Schulerhalter zumindest eine nachvollziehbare Begründung für die Ablehnung von Kinder mit Behinderungen, die länger in die Schule gehen möchten, darlegen muss. Der Antrag auf Aufhebung des Artikel 32 Absatz 2 im Schulunterrichtsgesetz wurde somit höchstgerichtlich abgelehnt, was der Unabhängige Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen kritisierte.
Der Monitoringausschuss verwies in seiner Bewertung des Urteils außerdem auf den UN-Fachausschuss, der Österreich 2023 auf die Umsetzung der UN-BRK einer Prüfung unterzog. Auch dieses Prüfungsorgan der Vereinten Nationen kam zu dem Schluss, dass Österreich im Bereich der Bildung von Menschen mit Behinderungen weiterhin säumig ist und sogar Rückschritte zu erkennen sind. Die Chancen, dass Artikel 32 Absatz 2 des Schulunterrichtgesetzes in absehbarer Zeit gestrichen wird, dürften nach der höchstgerichtlichen Entscheidung zwar nicht gestiegen sein, dennoch zeigt dieser Fall, dass es im Bereich der inklusiven Bildung durchaus Verbesserungspotenzial liegt. Einen Vorteil hat das Urteil aber trotzdem gebracht: Der Rechtsschutz von Schülern mit Behinderungen wurden gestärkt, da nun eine Ablehnung ohne nachvollziehbare Begründung nicht mehr möglich ist.
Universitärer Fleckerlteppich und das Schwarze Datenloch
Im tertiären Bildungsbereich ist die Situation in Österreich unübersichtlich. Der Rechnungshof überprüfte 2022 die Universitäten Österreichs auf barrierefreies Arbeiten und Studieren. Gegenstand dieses Berichts waren unter anderem die abweichenden Prüfungsmethoden, die Studierende mit Behinderungen in Anspruch nehmen können. Die Rechnungshof kritisierte hier insbesondere fehlende Richtlinien der geprüften Universitäten zu abweichenden Prüfungsmethoden, was beispielsweise bei Personalwechseln zu einem Wissensverlust führen kann und letztendlich ein Nachteil für Studierende mit Behinderungen ist.
Der Rechnungshofbericht zeigt außerdem ein weiteres Problem auf: Die Autonomie der Universitäten sorgt für gänzlich unterschiedliche Handhaben bei den abweichenden Prüfungsmethoden. Viel sinnvoller wäre hier eine bundesweit einheitliche Richtlinie, die man gemeinsam mit allen Universitäten erarbeiten könnte. Sonst ist es immer hochschul- oder im schlimmsten Fall sogar prüferabhängig, welche Methode genehmigt wird – was nicht im Sinne der Betroffenen sein kann.
Darüber hinaus hat eine Anfragebeantwortung aus dem Bildungsministerium bestätigt, was viele Experten bereits seit Jahren im gesamten Behindertenwesen bemängeln: Es gibt kaum belastbare Daten. Das hat zur Konsequenz, dass man nur schwer Dinge verbessern kann, da man nicht weiß, wie viel Bedarf es gibt und wo man am besten ansetzt. Die Frage nach dem Anteil an Studierenden mit Behinderungen konnten viele Universitäten nicht beantworten, da sie diese Dimension aus Datenschutzgründen nicht erheben. Das macht die Arbeit in weiterer Folge ungleich schwieriger.
NEOS-Sprecherin für Menschen mit Behinderungen, Fiona Fiedler, die die Anfrage an den Bildungsminister gestellt hat, fordert daher eine rasche Kurskorrektur:
„Es kann nicht sein, dass die schlechte Datenlage immer und immer wieder zu Nachteilen für Menschen mit Behinderungen führt. Es ist durchaus möglich, Daten zu erheben und nicht in Konflikt mit dem Datenschutz zu kommen. Außerdem braucht es, wie in quasi allen Bereichen der Inklusion, auch im Bildungsbereich dringend eine bundesweite Harmonisierung. Nur so wird Inklusion in Österreich gelingen können.“
Ob und wie diese Kurskorrektur gelingt, wird von verschiedenen Faktoren abhängen. Ein erster Schritt, der bei allen Verästelungen der Inklusion gilt, wäre aber, auf die Experten und Betroffenen zu hören. Diese bemängeln beispielsweise die mangelhafte Datenlage seit Jahren.