Integrationspolitik: Was wir von den Niederlanden lernen können
Wer ist verantwortlich für gelungene Integration? Wie viel Eigenverantwortung kann vorausgesetzt werden, welche Rahmenbedingungen müssen gegeben sein, und wo liegen die Grenzen? Die Niederlande haben im Selbstversuch einige Modelle ausprobiert: ein Zwischenstand.
Ein Integrationsplan für Samira
Samira H. kann aufatmen – nach einigen Monaten im überfüllten Ankunftszentrum bekommt sie ihren positiven Asylbescheid und die Zusage für eine Wohnung in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Rotterdam.
Ein Neubeginn, allerdings einer mit Stützrädern. Samira unterzeichnet den Mietvertrag, wird für die Mindestsicherung angemeldet und sitzt dann ihrer Case-Managerin gegenüber. Die erklärt ihr den Plan für die weiteren Monate: Sechs Monate lang wird die Gemeinde alle Fixkosten vom Mindestsicherungsbetrag einbehalten und direkt zahlen – so soll in der turbulenten Anfangszeit der Aufbau von Schulden vermieden werden. Samira hat eine Integrationsverpflichtung und bekommt dafür einen persönlichen Integrationsplan, der auf ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse zugeschnitten ist.
Sie wird einer von drei Lehrrouten folgen. Es gibt die B1-Route, die Erwachsene auf den Arbeitsmarkt und die sprachlichen Anforderungen vorbereiten soll und mit einem Job kombiniert werden kann, die Bildungsroute für jüngere Asylberechtigte, die den Weg in die formale Bildung ebnen soll, und die Selbstständigkeitsroute für Personen, für die aller Erwartung nach Sprachniveau A2 zu hoch gegriffen ist – sie werden darauf vorbereitet, sich in der niederländischen Gesellschaft so gut wie möglich zurechtzufinden.
Samiras Lehrroute wird zwei bis drei Jahre dauern und aus Sprachkursen, partizipativen Aktivitäten und den Modulen „Kenntnis der niederländischen Gesellschaft“ und „Arbeitsmarkt und Teilhabe“ bestehen. Am Ende der Bildungs- und der B1-Route steht ein Integrationsexamen, das gleichzeitig Voraussetzung für eine spätere Einbürgerung ist. Das neue Einbürgerungsgesetz vom 1. Jänner 2022 stellt die Rahmenbedingungen für Samiras Integration.
Die Renaissance der Eigenverantwortung
Die niederländischen Gemeinden sind nicht zum ersten Mal für die Integration von Asylberechtigten zuständig. Bereits 2006 bekamen sie diese Aufgabe übertragen. Bereits sechs Jahre später, im Jahr 2012, nahm das erste Kabinett des liberalen Mark Rutte das Gesetz wieder ins Visier: Die Eigenverantwortung der Integrationspflichtigen sollte verstärkt werden.
Die Gemeinden wurden von ihrer Regiefunktion entbunden, und die Asylberechtigten der letzten zehn Jahre bekamen keine Case-Manager:in zur Seite gestellt. Sie sollten sich selbstorganisiert bei einer Sprachschule für den Integrationskurs anmelden und binnen drei Jahren das Integrationsexamen ablegen. Der Kurs wurde aus eigener Tasche bzw. durch einen bei der staatlichen Studienförderungsorganisation DUO aufgenommenen Kredit bezahlt – wer das Integrationsexamen innerhalb der Frist schaffte, musste den Kredit nicht zurückbezahlen.
Immer Ärger mit der Praxis
Auf dem Papier war es gut gemeinte liberale Politik. Doch die Praxis entpuppte sich als widerspenstig. Bei Sprachkursanbietern fand Wildwuchs statt – die Qualitätsunterschiede waren groß, doch die Integrationspflichtigen hatten kaum Möglichkeiten, die Qualität vorab zu beurteilen. Nach den ersten Monaten, in denen Neuankömmlinge durch eine:n Ehrenamtliche:n von Vluchtelingenwerk betreut wurden, waren sie auf sich selbst gestellt.
Ergebnis: Die Erfolgsquote beim Integrationsexamen fiel von 80 auf 39 Prozent. Statt 20 entschieden sich nur noch zwei Prozent der Integrationspflichtigen für ein höheres Sprachniveau, als verpflichtend war. Das erreichte Sprachniveau sank, viele Integrationspflichtige schafften das Examen nicht innerhalb der Frist und konnten nach drei Jahren Integrationskurs kaum mehr vorweisen als bis zu 10.000 Euro Schulden bei DUO.
It takes two
2017 wurde die Kritik in der Gesellschaft so laut, dass das Kabinett Rutte III einlenkte – die Regie über die Integrationspflicht wurde wieder den Gemeinden übertragen.
Eine Niederlage für den Liberalismus? Nicht unbedingt. Die Integrationsverpflichtung bleibt bestehen. Der niederländische Staat erwartet weiterhin von Immigrant:innen, dass diese sich die Sprache aneignen und an der niederländischen Gesellschaft teilhaben – und räumt ihnen im Gegenzug Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Staatsbürgerschaft ein.
Der Unterschied liegt darin, wie steinig man den Weg zur gelungenen Integration gestaltet. Die Regelung der vergangenen zehn Jahre gab den Integrationspflichtigen bestenfalls Anweisungen (nota bene: auf Niederländisch) mit und ließ sie den Weg allein finden. Das neue Integrationsgesetz sieht Begleitung und Unterstützung für diejenigen vor, die sie brauchen.
Ein Scheibchen Niederlande
Österreich könnte sich davon ein Scheibchen abschneiden. Ganz abgesehen davon, dass der Weg zur österreichischen Staatsbürgerschaft besser bewacht und schlechter ausgeschildert ist als der zum Schicksalsberg in Mordor, tut sich die öffentliche Hand keinen Gefallen damit, Integration gänzlich als Eigenverantwortung der Immigrant:innen zu sehen.
Die Angebotslandschaft für Asylberechtigte und Immigrant:innen ist in Österreich fragmentiert, regional sehr unterschiedlich und kaum aufsuchend tätig – wer nicht vorbeikommt, der wird wohl nichts brauchen. Asylberechtigte können für Sprachkurse Förderungen erhalten, müssen sich die Teilnahme allerdings selbst organisieren. Gerade in ländlichen Gebieten erschweren fehlende Transportmöglichkeiten die Teilnahme, und nur wenige Kursangebote sind mit einer Vollzeitbeschäftigung vereinbar.
Integration ist in Österreich ganz klar als Bringschuld definiert. Darunter leiden nicht nur Sprachniveau, Arbeitsmarktperspektiven und Integrationschancen – besonders von Frauen und vulnerablen Gruppen – sondern bleibt auch das Ausmaß des Problems und das Verbesserungspotenzial größtenteils unerfasst. In den Niederlanden hat sich der Ausflug in die Eigenverantwortlichkeit gelohnt. Der Vergleich zeigt auf, dass Integration nicht ausschließlich Privatsache sein sollte, schlussendlich sind es die Resultate, die zählen. Und die niederländische Botschaft ist klar: Am Anfang fährt es sich für Neuankömmlinge mit Stützrädern bedeutend leichter.