Ist Antisemitismus ein Hufeisen?
Seit dem 7. Oktober 2023 ist unsere westliche Welt nicht mehr dieselbe. An diesem Tag griff die Terrororganisation Hamas überfallsartig Israel an und beging kaum in Worte zu fassende Massaker. Ein Blick auf den Westen zeigt, dass Antisemitismus ein gesellschaftliches Problem ist, vor dem man viel zu lange die Augen verschlossen hat.
Österreich und Deutschland haben eine historisch gewachsene, besondere Verantwortung gegenüber dem Judentum. Nach der Machtübernahme von Hitler und der NSDAP 1933 wurden Jüdinnen und Juden systematisch verfolgt, geächtet und ermordet. Völlig zu Recht bekommt man diese Periode zwischen 1933 und 1945 in österreichischen und deutschen Schulen ausführlich präsentiert – Besuch in einem Konzentrationslager inbegriffen. Diese Eindrücke müssten jeder Schülerin und jedem Schüler ins Gedächtnis gebrannt worden sein, sprechen der Ort, die Erzählungen und die Bilder die deutlichste aller Sprachen: Nie wieder!
Auf dem linken Auge blind
Wann die Rechte zu weit geht, können wir auch (aber nicht nur) aufgrund der Vergangenheit recht klar identifizieren. Offen ausgesprochener Rassismus, Antisemitismus, die Verwendung politischer Kampfbegriffe wie z.B. Bevölkerungsaustausch … die Liste ist lang.
Auf der linken Seite ist es schwieriger, die Grenzen zwischen links und linksextrem sind weniger trennscharf. Ab wann disqualifiziert sich diese Gruppe also vom Dialog, ab wann rutscht die Linke über den Rand in den Extremismus? Die vergangenen Tage können hier Aufschluss geben: Auch im linken Spektrum tummelt sich Antisemitismus. Freilich wird und wurde dieser im Westen jahrelang unter aus linker Sicht edlen Deckmänteln getarnt.
Einer davon ist der „Postkolonialismus“: ein gern gelehrtes Konzept an Universitäten, das zwischen Marxismus, Degrowth oder Critical Race Theory nicht besonders negativ aufgefallen zu sein scheint. Flankiert werden solche Konzepte nicht nur von Studierenden, die für diese brennen und sich nicht schämen, sich wahlweise Stalinist, Maoist oder Kommunist (oder alles davon) zu nennen – warum auch in Geschichte aufpassen?
Hätte man Letzteres getan, wüsste man zum Beispiel, dass nicht alles eine Konsequenz von „westlichem Imperialismus“ ist und manche Konflikte wesentlich tiefer und älter sind. Die Situation an Universitäten zeigt, dass es sich keineswegs um Einzelfälle handelt, sondern auch um ein systemisches Problem, das als Nährboden für diese Art von Extremismus dient.
Demaskierung der Ikonen
Die Liste linker „Intellektueller“ und ihrer Fehltritte ist in diesem Jahr wirklich beeindruckend. Erste Dissonanzen in der linken Harmonie gab es bereits mit dem unsäglichen „Manifest für den Frieden“, in dem DDR-Romantikerin Sahra Wagenknecht gemeinsam mit Vorzeigefeministin Alice Schwarzer und Weiteren zum Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine aufrief.
Noch schlimmer aber sind die jüngsten Offenbarungen im Zuge der Hamas-Angriffe auf Israel, die nichts anderes als Täter-Opfer-Umkehr sind. Beispiele dafür gibt es viele. Eines der prominentesten Beispiele dürfte Greta Thunberg sein, seit Jahren das Gesicht der Klimabewegung, sie sprach vor den Vereinten Nationen, hat politische Schwergewichte wie Merkel oder Obama getroffen.
Ja, die Greta Thunberg, der das Netto-Null-Emissionen-Ziel für 2050 zu wenig war und die stattdessen mit „real zero“ den Weg zurück in die Steinzeit forderte, hat sich kürzlich endgültig von jeglicher sachlichen Diskussion mit ihren solidarisierenden Aussagen zu Palästina disqualifiziert. Kein Wort aber zu Israel, kein Wort zu den 260 jungen Menschen, die von der Hamas auf einem Festival in der Negev-Wüste massakriert wurden. Stattdessen gibt es Empfehlungen, welchen Kanälen man doch folgen könne – auf manchen von ihnen wird der Hamas-Terror glorifiziert. Ein paar Tage später setzte sie via Fridays For Future Kanal mit einem Verschwörungstheorie-Post dann noch einen drauf. Vielleicht wird in Schweden immer Freitags Geschichte gelehrt.
Weniger drastisch, aber dennoch ähnlich unbegreiflich die Unwissenheit von Deutschlands liebstem Philosophen, Richard David Precht, der mit seiner üblichen Selbstsicherheit Stereotype von orthodoxen Jüdinnen und Juden zum Besten gab. Die fragwürdige Stellungnahme seines Kumpels Markus Lanz im Anschluss hat da auch mehr geschadet als geholfen. Niemand würde den beiden unterstellen, dass sie Antisemiten sind. Aber Stereotype zu verbreiten, wie es Precht tat, darf für insbesondere für Deutschland nicht tolerierbar sein.
Ein weiteres Beispiel wäre Judith Butler, ebenfalls Philosophin, die über Jahre in regelmäßigen Abständen treffsicher ihre Ahnungslosigkeit zur Schau stellt. Seit Jahren ist Butler schon Unterstützerin der anti-israelischen BDS-Kampagne, die an sich schon ein strukturelles Antisemitismus-Problem hat. Butler vertritt unter anderem die Meinung, es sei nicht antisemitisch, Israel das Existenzrecht abzusprechen. Mit ihr gibt es eine Reihe an Akademikerinnen und Akademikern weltweit, die durch einen vermeintlich gut belegten und glaubwürdigen Diskurs den strukturellen Antisemitismus in der akademischen Welt erstaunlich salonfähig gemacht haben.
Schuster, bleib bei deinen Leisten
In der Psychologie gibt es ein Phänomen, das sich Dunnig-Kruger-Effekt nennt. Kurz gesagt bedeutet er, dass Menschen ihre eigene Kompetenzen und Fähigkeiten überschätzen, insbesondere jene mit wenig Wissen zu einem bestimmten Thema. So werden Menschen über Nacht wahlweise zu Virologen, Russland- oder (wie im jüngsten Fall) Nahostexperten. Besonders problematisch wird es, wenn solche Personen eine große und öffentliche Bühne haben, auf der sie ungefiltert ihr – bestenfalls – Halbwissen kundtun.
Schaut man sich exemplarisch das Feld der Politikwissenschaft an, stellt man schnell fest, dass nicht jeder Politologe oder jede Politologin ein Experte oder eine Expertin für Internationale Beziehungen oder Friedens- und Konfliktforschung ist. Selbst wenn sie das wären, sind sie damit nicht automatisch Nahostexperten. Selbst wenn sie das wären, sind sie damit nicht automatisch Experten für Israel und Palästina. Dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ihr ganzes Forscherleben mit einem Thema verbringen, hat durchaus einen Grund: Die Welt ist komplex und liefert in den seltensten Fällen simple Schwarz-Weiß-Antworten auf tiefgreifende Fragen. Verkürzte Darstellungen und Meinungen von Leuten, die augenscheinlich wenig Kompetenzen in diesem Bereich haben, bringen daher wenig bis nichts Positives und sind im schlimmsten Fall sogar gefährlich, wenn diese Meinungen von Anhängern reproduziert werden.
Schaut man sich die jüngsten Proteste in Toronto, London, Berlin, Paris oder Wien an, muss der Westen die Frage aushalten, ob er nicht nur von rechts, sondern auch von links ein Antisemitismusproblem hat.
Ja, man muss die Lage differenziert betrachten. Eine solche Diskussion sollte man aber gerade in der Öffentlichkeit Expertinnen und Experten überlassen. Seine eigene, wenig fundierte Meinung für so brillant zu halten, dass sie es wert ist, mit einem potenziellen Millionenpublikum geteilt zu werden, ist wahrscheinlich der falsche Weg – die genannten Beispiele sind Beweis genug.
Gerade, wenn in Berlin wieder Davidsterne auf Häuser gemalt werden oder in Wien israelische Flaggen entfernt werden, sollte jeder und jede wissen, was zu tun ist. Der Schutz der jüdischen Gemeinschaft ist eine historisch gewachsene Verantwortung in diesen beiden Ländern. Wer das nicht begriffen hat, sollte schleunigst Nachhilfe in Geschichte nehmen. Das gilt auch für einen akademischen Elfenbeinturm, der sich über die Jahre derart kaputtradikalisiert hat, dass man ernsthaft über die Curricula diskutieren sollte. Selbstverständlich hat diese Kohorte keine Schuld an dem, was zwischen 1933 und 1945 passiert ist. Aber wir alle, als Teil dieser Gesellschaft, haben die Pflicht, dass Antisemitismus keinen Platz in unserem gemeinsamen Miteinander findet. Und zwar nie wieder.