Italiens Ex-Premier Letta fordert ein Upgrade für den Binnenmarkt
Der gemeinsame Binnenmarkt der EU ist einer der wichtigsten Faktoren für unseren Wohlstand – und braucht dringend ein Upgrade. Zu diesem Schluss kommt ein aktueller Bericht des früheren italienischen Premierministers, der eine ambitionierte Agenda vorlegt.
Mehr oder weniger Europa? Das ist die Frage, um die sich EU-politische Diskussionen oft drehen. Gerade in Sachen Sicherheit, Verteidigung und Außenpolitik drängen sich aktuelle Herausforderungen auf, die Klimaschutz-Maßnahmen auf EU-Ebene polarisieren. Aber in einem sind sich im Wesentlichen alle einig, nicht einmal die Rechten wollen es abschaffen: Der gemeinsame Binnenmarkt, das war eine gute Idee.
Warum gibt es diesen Binnenmarkt überhaupt? Der Gedanke war, das Zusammenrücken der europäischen Staaten durch wirtschaftliche Verflechtung zu begünstigen: Wer miteinander handelt, wird eher keinen Krieg miteinander führen. Als Folge wurden Handelshemmnisse wie Zölle abgeschafft und gemeinsame Standards geschaffen: Wer in Österreich studiert, dessen Studium gilt auch in anderen EU-Staaten. Wirtschaftsliberale Maßnahmen wie diese stärken den Wettbewerb und schaffen Wohlstand. Auf Englisch nennt man die Summe dieser Maßnahmen den „Single Market“: den gemeinsamen Markt, der für Menschen in Europa selbstverständlich geworden ist.
Dieser „Single Market“ sei aber nicht mehr gut genug – er brauche ein Update. Das ist zumindest die These von Enrico Letta. Der frühere Sozialdemokrat war bis 2014 Ministerpräsident von Italien. Im Bericht „More than a market“ weist er auf die Notwendigkeit hin, den gemeinsamen Markt der EU weiterzuentwickeln. Durch 27 Mitgliedstaaten und die immer komplexer werdende Gesetzeslage sei es nicht mehr ausreichend, 27 nationale Gesetzgebungen zu vereinheitlichen und gegenseitig anzuerkennen, argumentiert Letta: Die aktuelle Art der Politik sei schlicht und einfach zu langsam.
Einerseits stützt sich Letta dabei auf seine persönliche Erfahrung: Über 400 Meetings in 65 Städten in Europa und der Dialog mit allen nationalen Regierungen und Gruppierungen im EU-Parlament flossen in den Bericht. Auch Unternehmen, Gewerkschaften und sozialpartnerschaftliche Organisationen wurden eingeladen. Andererseits verweist der frühere italienische Premier auch auf die Notwendigkeit: Nicht nur der Angriff auf die regelbasierte Weltordnung durch den Ukraine-Krieg, sondern auch der wirtschaftliche Vergleich mit anderen Großmächten zeigen eindeutlich, dass es Handlungsbedarf gibt. https://datawrapper.dwcdn.net/TvEP8/1/
Plädoyer für die fünfte Grundfreiheit
Im Wesentlichen präsentiert Enrico Letta einen Vorschlag, um die wirtschaftliche Schieflage wieder zu reparieren: eine fünfte Grundfreiheit zur Förderung von Bildung, Forschung und Innovation im „Single Market“.
Bisher gibt es ja bereits vier davon auf EU-Ebene: Der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital. Kategorien, die heute veraltet wirken, die Letta in seinem Bericht schreibt. Denn die heutige Wirtschaft ist durch Digitalisierung, Innovation, Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem Klimawandel und dessen Auswirkung auf die Gesellschaft geprägt. Immer weniger wird zwischen Waren und Dienstleistungen unterschieden, Dienstleistungen sind mittlerweile in Waren integriert, es existiert ein neuer digitaler Wirtschaftszweig. Gleichzeitig will die EU ambitionierte Klimaziele erreichen, ohne die Wirtschaft zu lähmen. Es brauche also einen neuen Zugang für die europäische Wirtschaftspolitik. Lettas Lösung: Bildung als fünfte Grundfreiheit.
Der Vorschlag von freier Bildung und Innovation in Europa ist gerade auch ein wirtschaftspolitischer Ansatz. Denn Lettas Vision ist, den freien Austausch von Menschen, Talent und Wissen in Europa zu fördern – vor allem, um wesentliche strategische Bereiche der Wirtschaft ein Upgrade zu verpassen. Denn durch die vergleichsweise geringe Größe europäischer Unternehmen gegenüber US-amerikanischen oder chinesischen hat negative Folgen: weniger Innovation und Produktion in Europa, weniger Arbeitsplätze, mehr Abhängigkeit und dadurch auch weniger Sicherheit.
„EU-Unternehmen die Möglichkeit zu geben, innerhalb des Binnenmarktes zu expandieren, ist nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein strategisches Gebot.“
Enrico Letta
Welche Reformen das für die EU bedeuten würde
All diese Stichworte klingen gut, sind aber eben nur das: Stichworte. Aber Lettas EU-Bericht geht ins Detail und liefert ausführliche Vorschläge, wie die Europäische Union ihren Binnenmarkt fördern könnte. Es lohnt sich, den Bericht in voller Länge zu lesen. Hier nur auszugsweise einige Punkte:
- Europaweite Bildungsprogramme: Gerade im Bereich digitale Skills stellt der Bericht großes Potenzial für paneuropäische Bildungsprogramme fest: Um in der „Knowledge Economy“ mitmachen zu können, brauche es diese. Mehr Innovation – was auch „mehr Geld für Innovation“ bedeutet – und ein gemeinsamer europäischer Arbeitsmarkt würden gerade im Gesundheitsbereich helfen, die Gesundheitssysteme der EU zukunftsfit zu machen.
- Weniger Bürokratie: Der Kampf mit der Überregulierung muss weniger mühsam werden: Ein „European Code of Business Law“ soll gemeinsame Regeln festlegen, die Zusammenarbeit und Austausch in der gesamten EU fördern. In Sachen Innovation könne aber auch die Lösung der „Regulatory Sandboxes“ helfen: Im geschützten Raum ausprobieren zu können, bevor die Regulierung greift, wird etwa mit künstlicher Intelligenz bereits versucht.
- Mehr Integration im Finanzmarkt: Ein großer Single Market bedeutet auch Potenzial für einen großen Kapitalmarkt, der öffentliche und private Gelder mobilisieren kann: Letta schreibt von einer „Spar- und Investitionsunion“, die das Ziel haben soll, private Ersparnisse in der EU besser zu nutzen und zusätzliche Ressourcen aus Drittstaaten anzuziehen. Das soll nicht nur den individuellen Wohlstand der Europäerinnen und Europäer heben – es trägt auch dazu bei, die strategischen Ziele der EU zu finanzieren.
- Bessere Infrastruktur: Vor allem europäische Hauptstädte sollten durch ein modernes Hochgeschwindigkeitsnetz verbunden werden, um die Mobilität innerhalb Europas zu erhöhen. Das würde gleichzeitig bei der Erreichung der Klimaziele helfen.
- Soziale Dimension stärken: Die soziale Dimension des Single Market gehört gestärkt: Besserer Schutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sorgt für einen sozialen Arbeitsmarkt.
- Gemeinsame Beschaffung: Es wird eine stärkere Integration des Binnenmarktes in den öffentlichen Beschaffungsprozessen gefordert, um Innovationen zu fördern und kleinen und mittleren Unternehmen den Zugang zu erleichtern.
- Strategische Autonomie: In vielen Bereichen ist die EU von anderen abhängig. Das soll sich ändern: In einem starken Binnenmarkt werden Talente gehalten und Innovationen gefördert. So sollen nicht nur Unternehmen wachsen, sondern auch Schlüsselindustrien wieder verstärkt nach Europa kommen. Vor allem die europäische Verteidigungsindustrie soll einen höheren Stellenwert einnehmen, um die Sicherheit der Union zu stärken und mehr in eine Position der „strategischen Autonomie“ zu kommen.
- Zukünftige Erweiterung: Die EU zu erweitern, würde die geopolitische Stabilität fördern und Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in neuen Mitgliedstaaten stärken.
EU-Wahlen als Richtungsentscheidung
Die Forderungen von Enrico Letta sind sinnvoll, aber sie zeigen auch ein grundlegendes Problem im Diskurs der europäischen Politik: Auch, wenn ein Spitzenpolitiker einen ambitionierten Vorschlag macht, wird er nicht gehört. Während Letta zusammen mit anderen proeuropäischen konstruktiven Kräften über mehr Zusammenarbeit in sinnvollen Bereichen nachdenkt, dominiert großteils der Populismus. Gerade in Österreich wird „Brüssel“ eher als Kampfbegriff, als Reibebaum gesehen, an dem sich die heimische Innenpolitik abputzen kann, wenn es zu Hause nicht läuft. Daran ist aber nicht nur die österreichische Politik schuld – alleine schon der bürokratische Ton, der als „Call to Action“ am Ende steht, lässt viele aussteigen:
Der Rat wird dringend gebeten, die Europäische Kommission mit der Aufgabe zu betrauen, eine umfassende Binnenmarktstrategie zu entwerfen.
Was die EU-Kommission tut, dürften nicht alle wissen: Sie arbeitet Gesetzesvorschläge aus, die dann vom Rat – also den Vertreterinnen und Vertretern nationaler Regierungen – und dem EU-Parlament angenommen werden müssen. Ist dieses System zu behäbig, um große Veränderungen zu ermöglichen? Oder ist nicht genau der Binnenmarkt der Bereich, an dem alle europäischen Regierungen und Abgeordneten ein gemeinsames Interesse haben sollten? Offiziell ist niemand gegen Bildung und Innovation. Die Frage ist nur, wie dann abgestimmt wird, und mit welcher Begründung.
Apropos Abstimmung: Am 9. Juni finden die EU-Wahlen statt. Und da geht es eben auch um die Frage, wie Europa wirtschaftlich weitermachen soll. Wollen wir den Single Market besser nutzen, um mehr Wohlstand zu schaffen? Oder bestehen wir weiterhin auf 27 nationale Regierungen, die sich auf Kleinigkeiten einigen, aber in den großen Fragen nicht liefern? Die ambitionierten und seriös ausgearbeiteten Vorschläge von Letta lesen sich jedenfalls wie ein stark proeuropäisches Programm. Wie realistisch die Umsetzung wird – auch das wird wohl im Juni entschieden.