Wien im frühen 20. Jahrhundert: Eine faszinierende Epoche des Liberalismus
Eine der Fragen, die alle Menschen in meinem Umfeld von mir kennen, lautet: „Wenn nicht jetzt und hier, in welcher Epoche und an welchem Ort würdest du am liebsten leben?“
Ich habe schon viele verschiedene Antworten gehört, und man erfährt dadurch überraschend viel über die Menschen. Einige sagen, sie würden gerne in einem Urvölkerstamm um 1900 leben, andere bevorzugen die 1980er Jahre in Los Angeles, während einige sogar ins brutale Mittelalter oder als Abenteurer ins südliche Afrika Mitte des 19. Jahrhunderts reisen würden (was ich auch sehr reizvoll finde). Aber als jemand, der liberale Ideen schätzt, gibt es für mich nur eine Antwort (ich bin nicht so liberal, dass ich keine Meinungsfreiheit zulassen würde, es gibt einfach nur eine): Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also etwa bis zum Jahr 1910.
Das Wien des frühen 20. Jahrhunderts ist für einen Liberalen eine äußerst faszinierende Epoche, geprägt von einem intensiven kulturellen und intellektuellen Aufschwung. Diese Periode erstreckte sich vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg (dann nochmal in den 1920ern aufflackernd) und war eine Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher, künstlerischer und wissenschaftlicher Veränderungen, die die Grundlage für moderne Denkweisen legte und bis heute nachwirkt.
Wien als Schmelztiegel der Ideen: Eine einzigartige kulturelle Blüte
In dieser Zeit erlebte Wien, das Herz des multinationalen Habsburgerreichs, einen beispiellosen Zustrom von Menschen und Ideen. Die Hauptstadt war ein Schmelztiegel unterschiedlicher Klassen, Nationalitäten und Weltanschauungen, was eine einzigartige kulturelle und intellektuelle Atmosphäre schuf. Dieser Kontext förderte eine Generation von Denker:innen und Künstler:innen, die traditionelle Grenzen überschritten und die Grundlagen für moderne Strömungen in Kunst, Musik, Philosophie und Wissenschaft legten.
Beispiele dieser kreativen Explosion sind die Architektur von Adolf Loos oder Otto Wagner (später auf dem 500-Schilling-Schein zu sehen), die symbolistischen Werke von Gustav Klimt, die atonale Musik von Arnold Schönberg und die philosophischen Werke von Ludwig Wittgenstein. Diese Kultur der Innovation und des intellektuellen Austauschs spiegelte die liberalen Werte der Offenheit, des Pluralismus und der Individualität wider.
Freud und die Suche nach universeller Kommunikation
Der psychoanalytische Ansatz von Sigmund Freud (später auf dem 50-Schilling-Schein zu sehen), der sich auf die gemeinsamen Archetypen des Unbewussten konzentrierte, sowie die bahnbrechenden Arbeiten des Wiener Kreises, die die moderne analytische Philosophie prägten, zeugen von einem tiefen Wunsch, universelle Formen der Kommunikation zu finden und das „wahre Gesicht“ des modernen Menschen zu enthüllen.
Wirtschaftswissenschaftler als Verteidiger des Liberalismus
Aber Freud war nicht der einzige Impulsgeber bedeutender intellektueller Strömungen in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit erkannten auch Wirtschaftswissenschaftler wie Carl Menger, Eugen von Böhm-Bawerk (später auf dem 100-Schilling-Schein zu sehen) und natürlich Ludwig von Mises und Friedrich Hayek frühzeitig, dass die liberale Ära in Europa in den Zwischenkriegsjahren von den Sammlungstendenzen und dem Totalitarismus sowohl auf der politischen Rechten als auch auf der Linken überwältigt wurde. Sie widmeten daraufhin ihr Leben der Umkehrung dieses Trends.
Symbolbild, produziert mit Adobe Firefly AI
Friedrich Hayek war in vielerlei Hinsicht ein vielseitiger Gelehrter und in gewisser Weise ein spätes Ergebnis dieser Epoche. Wie die besten Intellektuellen Wiens seiner Zeit verband er sein technisches Wissen in der Wirtschaftswissenschaft mit einer breiten Palette an Interessengebieten. Neben seinen Beiträgen zur Wirtschaft veröffentlichte er auch bedeutende Werke über Recht, Soziologie und viele weitere Themen. Sein bedeutendster Beitrag bestand darin, intellektuelle Strenge in die Schule des freien Markts zurückzubringen, indem er im Detail den „Preismechanismus“ darlegte, um zu zeigen, dass sozialistische Wirtschaftstheorien weder theoretisch noch praktisch funktionieren konnten. Dieser Einsatz für den Liberalismus trug dazu bei, die Grundlagen für die Fortführung liberaler Ideen zu legen – selbst in Zeiten, in denen der Totalitarismus auf dem Vormarsch war.
Das Ende einer Ära: Von Blütezeit zur Tragödie
Die Ära war auch geprägt von einer liberalen, kosmopolitischen Staatsführung, die unter Kaiser Franz Joseph Freiheiten wie Bewegungsfreiheit, Pressefreiheit und Gleichberechtigung gewährte. Dies schuf eine Umgebung, in der avantgardistische Kunst und Architektur gedeihen konnten.
Allerdings war diese Zeit nicht ohne Herausforderungen. Der zunehmende Nationalismus und gesellschaftliche Spannungen begannen das multinationale Reich zu erschüttern. Insbesondere für die jüdische Bevölkerung, die wesentlich zur intellektuellen und kulturellen Blüte beitrug, wurden diese Spannungen zunehmend bedrohlich. Der Aufstieg des Antisemitismus und nationalistischer Bewegungen markierte das endgültige Ende dieser liberalen Ära – insbesondere nach dem zweiten Aufleben dieser Ära in den 20ern.
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Habsburger-Reiches erlebte Wien eine kurze Blütezeit progressiver Sozialdemokratie – die Roaring Twenties, bevor es schließlich in den Faschismus und Nationalsozialismus abrutschte. Viele der führenden intellektuellen und kulturellen Persönlichkeiten Wiens waren gezwungen, ins Exil zu gehen, wodurch ihre Ideen und Einflüsse weltweit verbreitet wurden.
Das Erbe des Liberalismus in Wien
Zusammenfassend war Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Brennpunkt des liberalen Denkens und der kulturellen Innovation. Die Vielfalt und Offenheit dieser Epoche, gepaart mit den intellektuellen und künstlerischen Freiheiten, machen sie zu einer Zeit, in der ein liberaler Mensch wohl am liebsten gelebt hätte. Hier fanden die Ideale des Liberalismus – Freiheit, Individualität und das Streben nach Wissen und Verständnis – ihren fruchtbarsten Ausdruck.
Eine großartige Epoche, aber leider auch eine, die mit dem Horror des Krieges endete.