Zandonella: „Ganz zentral ist, dass es eine politische Fehlerkultur gibt“
Wie zufrieden sind die Österreicherinnen und Österreicher mit ihrem politischen System? Diese Frage wird seit 2018 jedes Jahr vom Demokratiemonitor beantwortet. Mit diesem Monitor erhebt SORA z.B. die Meinungen dazu, ob die Demokratie die beste aller Regierungsformen ist, wie hoch das Vertrauen in die Bundesregierung und das Parlament ist, und wie optimistisch oder pessimistisch auf verschiedene Themen geschaut wird.
Die Ergebnisse des Demokratiemonitors haben wir im Artikel Der Vertrauensverlust in die Demokratie in Zahlen zusammengefasst. In diesem Interview sprechen wir mit der Studienautorin Martina Zandonella über ihre Einordnung dazu.
Fangen wir vielleicht ganz allgemein an: Wie steht es denn gerade um die Demokratie in Österreich?
Um die Demokratie an sich steht es ganz gut. Es gibt eine konstant große Mehrheit von Menschen, die froh sind, in einer Demokratie zu leben, und auch sagen, dass sie die beste Regierungsform ist. Wenn man aber fragt, wie zufrieden sie damit sind, wie Demokratie aktuell in Österreich funktioniert, dann schaut’s schlecht aus: Da sehen wir, dass inzwischen nur noch ein Drittel der Menschen der Meinung ist, dass das politische System gut funktioniert. Vor fünf Jahren war das noch genau umgekehrt – da hat nur ein Drittel gesagt, es funktioniert nicht gut.
SORA erhebt diese Werte ja unter anderem nach ökonomischen Dritteln. Gibt es da Unterschiede?
Wir schauen uns sehr viele demografische Daten an, z.B. auch Geschlecht und Alter. Aber die Einteilung in die Einkommensdrittel sticht immer hervor, weil wir über die Jahre sehen, dass das untere Einkommensdrittel praktisch schon immer mit dem politischen System unzufrieden ist. In den letzten drei Jahren sehen wir aber die Entwicklung, dass gerade in der Mitte der Gesellschaft und auch im obersten Drittel das Systemvertrauen sinkt.
Was sind die Gründe dafür? Welche Themen beschäftigen die Menschen?
Das eine ist sicher die Pandemie. Da sagen gerade die mittleren und oberen Einkommensdrittel: Wir haben überhaupt keinen Einblick mehr, wie politische Entscheidungen getroffen werden. Da geht es vor allem um die Regierungskommunikation, gar nicht so sehr um die Maßnahmen. Auf welcher Basis wurde entschieden, wer wurde einbezogen, wie kann ich das nachvollziehen – das ist in der Wahrnehmung vieler schlechter als früher.
Ein anderes Thema ist natürlich die Teuerung. Fast die Hälfte der Menschen gibt an, dass sich ihre finanzielle Situation verschlechtert hat. Das war schon in der Pandemie so, aber wird jetzt durch die Teuerung noch wichtiger. Ökonomische Unsicherheit zahlt natürlich auch nicht auf das Systemvertrauen ein.
Und das dritte Thema ist die Korruption. Da sehen wir auch ganz klar, dass das vor allem in der Mitte und im oberen Einkommensdrittel mit einem Einbruch in das Systemvertrauen zusammenhängt. Die Leute haben das Gefühl, dass es eine politische Klasse gibt, die das System für sich und ihren Freundeskreis nutzt, und nicht für das Allgemeinwohl.
Wie stark ist dieses Gefühl denn in „normalen“ Zeiten? Hängt das an den aktuellen Korruptionsvorwürfen, oder gibt es nicht eine gewisse Grundskepsis gegen Politik, die immer da ist?
Wir haben das letztes Jahr sehr schön gesehen: 2021 waren wir mit der Erhebung für den Demokratiemonitor gerade fertig, bevor es mit den Chats und Hausdurchsuchungen losging. Danach haben wir 500 Menschen noch einmal gefragt, um nachzuprüfen, was diese Chats mit dem Vertrauen machen – und es geht rapide runter. Wenn so ein Thema aufkommt, wirkt sich das direkt auf das Vertrauen in die Politik aus.
Aber natürlich hat man in einem Staat immer ein gewisses Misstrauen gegen Politiker. Das sind die Bevölkerungsgruppen, die den Eindruck haben, dass Demokratie für sie nicht gilt. Und wenn Menschen erleben, dass sie zwar wählen dürften, aber dass ihre Anliegen nicht einmal diskutiert werden, ist das Misstrauen natürlich auch sehr groß.
Wenn Sie sagen, dass Demokratie für manche „nicht gilt“, was meinen Sie damit? Man könnte ja jetzt zynisch sagen: Man kann ja eh wählen.
Kann man natürlich sagen, in Richtung „Ist ja nur ein Gefühl“. Dieses Gefühl hat aber eine objektive Grundlage. Es gibt in Deutschland eine Studie, die sich Bundestagsentscheidungen von 1998 bis 2013 angeschaut hat, über unterschiedlichste Regierungskoalitionen hinweg. Was wurde dort entschieden, und was waren die Anliegen der verschiedenen Einkommens- und Berufsgruppen? Herausgekommen ist: Praktisch alle politischen Entscheidungen sind den oberen Einkommensklassen gefolgt. Wenn man davon ausgeht, dass Deutschland nicht ganz anders als Österreich ist, sagt das schon etwas aus.
Jetzt könnte man sagen, wahrscheinlich wäre es trotzdem besser, wenn auch die Menschen wählen gehen, die politisch zu wenig repräsentiert sind.
Das ist ein Kreislauf. Parteien überlegen sich dann auch, wohin sie ihre Ressourcen kanalisieren. Dann gehe ich als Partei eher nicht nach Favoriten, weil dort die Hälfte eh nicht wählen darf, denn es kann eben nicht jeder mitmachen – ein Drittel der Menschen ist nicht wahlberechtigt, gerade in Städten, gerade bei den Jungen. In Wien sind über 60 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter nicht wahlberechtigt – das sind Menschen, die am Bau arbeiten, Pflegekräfte, Putzkräfte. Im 15. Bezirk darf mehr als die Hälfte der Wohnbevölkerung ab 16 nicht wählen. Das sind schon enorme Zahlen, wo man sich denkt: Demokratie? Wirklich?
Glauben Sie, dass dieses Problem genug wahrgenommen wird? Gerade in Österreich wohnen ja auch viele auf dem Land – und wenn das eben viele Junge, viele in der Stadt betrifft, wird das vielleicht gar nicht angemessen diskutiert.
Ich finde es immer spannend, wenn ich von diesen Zahlen erzähle. Nicht einmal die politische Ebene ist sich dieser Dimension bewusst, das ist anscheinend kein Allgemeinwissen. Und es hat anscheinend auch keine politische Mehrheit, dass sich etwas am Staatsbürgerschaftsrecht ändern soll. Die ÖVP sagt, sie macht das nicht, weil die wählen eh alle nur SPÖ. Wo ich mich auch frage, was das für ein demokratisches Verständnis ist, dass ich nur Menschen ein Wahlrecht gebe, die mich wählen würden.
Mal abgesehen davon, dass die ÖVP vom Staatsbürgerschaftsrecht profitieren könnte, weil …
Genau! Das ist ja das, was wir gerade in den USA sehen: Die Migrantengruppen denken konservativ, haben konservative Werte und haben trotzdem lange demokratisch gewählt, weil sie eher in Bezug auf ihre Lebenssituation gewählt haben. Das hat sich jetzt gedreht – bei den Midterms haben Personen mit lateinamerikanischem Migrationshintergrund zum ersten Mal mehrheitlich republikanisch gewählt.
Wo wir gerade bei der ÖVP sind: Wenn man es etwas positiver sehen will, kann man ja auch auf frühere Jahre schauen. Da sieht man dann, dass die Zufriedenheit mit dem politischen System zu Beginn der türkis-grünen Koalition gestiegen ist, was auch mit dem starken Wahlergebnis von Sebastian Kurz zu tun haben könnte. Jetzt ist dieses Experiment gescheitert, aber das zeigt zumindest, dass man dem sinkenden Vertrauen etwas entgegensetzen kann, oder?
Ganz zentral ist, dass es eine politische Fehlerkultur gibt. Gerade in unsicheren Zeiten wie diesen, in denen Entscheidungen, die man heute trifft, vielleicht morgen revidiert werden müssen. In unseren Befragungen sagen uns die Leute, dass sie keine Politiker wollen, die sagen „Ich weiß, wie es geht“, sondern eher: „Das wissen wir, deswegen treffen wir diese Entscheidung. Und dann schauen wir weiter.“
Also eine transparente Kommunikation?
Genau, und auch ein Offenlegen von Ambivalenzen. Es ist eben nicht alles straightforward. Und wenn Fehler passieren, z.B. durch Korruption, dann muss man eben auch Konsequenzen ziehen.
Die Pandemie und die Teuerung wären jeder Regierung passiert – jetzt kann man über die Kommunikation sagen, was man will, aber die Probleme wären zumindest da. Die Korruption muss nicht passieren. Wenn wir jetzt sagen, wir schließen nur bei diesem einen von drei großen Themen alle Lücken – würden Sie davon ausgehen, dass die Zufriedenheit mit der Demokratie steigt?
Davon würde ich ausgehen. Wobei wir auch schauen müssen, wie es mit der Teuerung weitergeht. Sie geht jetzt schon so stark in die Mitte, dass das auch irgendwann kippen könnte. Die Regierung tut ja auch viel gegen die Teuerung – jetzt mag man diskutieren, ob das alles inhaltlich richtig ist, aber sie ist ja nicht untätig -, aber das ist auch schon schwierig zu vermitteln.
Das ist ja auch der Fehler der Gießkanne, oder? Die Leute bekommen zwar Geld, aber sie wissen eigentlich nicht, wie viel oder warum.
Genau, das ist das Problem. Und wir kommen nicht drumherum, weil uns einfach die Daten fehlen. Die Regierung könnte gar nicht schnell die Gesellschaft segmentieren und gezielte Maßnahmen treffen, weil wir die Daten nicht haben.
Da müssten wir dann über Strukturreformen reden.
Und das wäre enorm wichtig, damit uns das nicht mehr passiert. Dann könnte die Kommunikation ja auch sein: „Aufgrund der Datensituation und der Dringlichkeit machen wir das jetzt mit der Gießkanne, aber wir bauen die Datenlage auf.“
Angesichts dieses Reformbedarfs, aber auch der multiplen Krisen mit Pandemie, Teuerung und Korruption: Sind Sie für die Zukunft optimistisch oder pessimistisch, was unser Vertrauen in die Demokratie angeht?
Wenn nicht tatsächlich demokratiepolitisch etwas passiert, bin ich tatsächlich pessimistisch. Wir haben einen Tiefstand erreicht, der ohne vertrauensbildende Maßnahmen nicht so einfach wieder vorbeigeht.