Master schlägt Meister? Wie Mythen über die Lehre die ökologische Wende bremsen
Schon jetzt fehlen in den „Klima-Jobs“ mehr als 30.000 Fachkräfte. Wenn wir unter „Aufstieg“ nur „Akademisierung“ verstehen, wird sich daran auch nichts ändern.
Wissen Sie, was ein „Applikationsentwickler“ ist? Nein? Das AMS-Berufslexikon klärt auf: „Zu den Hauptaufgaben der ApplikationsentwicklerInnen – Coding gehören das Programmieren/Codieren von Applikationen oder Applikationsteilen. Applikationen sind Computerprogramme, die der Lösung von technischen BenutzerInnenproblemen dienen.“
Kurz: Applikationsentwicklung ist ein informatisch-technischer Beruf. Eine hochinnovative Branche mit guten Jobchancen. Wenn Sie jetzt vermuten, dass Applikationsentwickler:innen Informatik studiert haben müssen, irren Sie sich – sie absolvieren eine Lehre.
Die meisten Österreicher:innen denken jedoch bei einer Lehre an klassische Berufssparten, die sich zweifellos großer Beliebtheit erfreuen und wichtige Tätigkeiten umfassen. Doch die Lehre hat sich in den letzten Jahren gewandelt und auf den veränderten Arbeitskräftebedarf reagiert, was sich auch in der Beliebtheit der gewählten Ausbildungen niederschlägt. Und da zeigt die Tendenz in vielen traditionellen Lehrberufen nach unten. So begannen im Jahr 2021 rund jeweils 3.000 Personen weniger eine Lehre als Einzelhandelskaufmann/-frau oder Friseur:in als noch im Jahr 2018, wohingegen die Lehrlingszahlen von Anlagenelektriker:innen im selben Zeitraum um 9.517 Personen gestiegen sind.
Dass die technisierte Unternehmenswelt der Zukunft nur Akademiker:innen mit MINT-Studium braucht, ist folglich nicht richtig, und dass die Lehre ein Auslaufmodell ist, sowieso nicht. Und obwohl die duale Ausbildung in Sonntagsreden gerne als Vorzeigemodell gepriesen wird, wird sie bei Eltern und Jugendlichen als Ausbildungsoption immer unbeliebter. Ein Grund dafür ist, dass die meisten Politiker:innen und Kommentator:innen unter „sozialem Aufstieg“ in aller Regel „Akademisierung“ verstehen. Nicht nur, dass diese Aussage eine Wertung nach dem Muster impliziert: oben die Universität, unten die Lehre, ist sie in Österreich vom rein finanziellen Standpunkt aus betrachtet auch unrichtig.
Denn die duale Ausbildung stellt eine praxisnahe Ausbildung dar, die einen frühzeitigen Einstieg ins Erwerbsleben ermöglicht, der noch dazu – und abhängig von der Branche – finanziell sehr attraktiv sein kann. Zahlen der OECD zeigen, dass der Durchschnittsverdienst von Personen mit tertiärer Kurzausbildung – das sind vor allem Menschen mit Lehrabschluss, die im Anschluss einen Aufbaulehrgang oder eine Meisterschule absolviert haben – um fast 20 Prozent höher ist als jener von Bachelor-Absolvent:innen.
Keine Klima-Wende ohne Lehrlinge
Neben anderen positiven Aspekten, die eine Lehre ermöglicht, wie beispielsweise die Selbstständigkeit und damit den Einstieg in das freie Unternehmertum, werden durch dieses Unterschätzen der dualen Ausbildung auch viel weitreichendere Phänomene ignoriert. Denn was oft übersehen wird: Lehrberufe sind Zukunftsberufe. Ohne Lehrlinge werden wir die ökologische Wende kaum in angemessener Zeit schaffen.
Jene „Klima-Jobs“, die mit der konkreten Umsetzung von ökologischen Maßnahmen befasst sind, sind sehr häufig Lehrberufe. Der Ausbau von Photovoltaikanlagen ist dafür ein gutes Beispiel: Dieser verläuft nicht (nur) wegen eines Mangels an Fördermitteln oder wegen einer schlecht programmierten Förderplattform so schleppend, sondern weil 30.000 „Klima-Jobs“ unbesetzt sind, die für die Installation der entsprechenden Anlagen sorgen könnten.
Das Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung schlägt daher vor, die Lehre explizit als Motor für die ökologische Wende mitzudenken, weil sie an der Schnittstelle zwischen Bildungssystem und Arbeitsmarkt steht und daher dafür prädestiniert ist, aus Innovationen konkrete Tätigkeiten abzuleiten. Die „Ökologisierung“ von Lehrberufen könne auch einen Beitrag dazu leisten, diese für junge Menschen attraktiver zu machen. Das ist zweifellos richtig – ein weiterer Schritt muss jedoch ein gesellschaftlicher Prozess sein, an dessen Ende „Hand-, Herz- und Hirnberufe“ als gleichwertige Berufsgruppen wahrgenommen werden. Das soll nicht zu einer Idealisierung der dualen Ausbildung führen, denn auch bei dieser besteht Reformbedarf. Es bedeutet allerdings sehr wohl, dass man mit Mythen über die Lehre aufräumen muss.