Mental Health: Föderalismus auf Kosten der Kinder
Trotz der Zusammenlegung der Krankenkassen gibt es in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung von Kindern große Unterschiede, die noch immer auf die föderalen Unterschiede zurückzuführen sind. Jedes Bundesland, jede Kassenstelle verfolgt eine eigene Strategie, de facto gibt es dadurch aber überall eine Mangelversorgung. Auch die Corona-Krise und mehrmalige Ankündigungen durch das Gesundheitsministerium haben noch keine nachhaltigen Verbesserungsvorschläge gebracht.
Psychische Gesundheit ist durch die Pandemie ein Thema geworden, an dem kaum noch jemand vorbeikommt. Lockdowns und Homeschooling zulasten der Kinder, eigene Initiativen von Schüler:innen und nach längerem Ringen ein Hilfspaket von 13 Millionen Euro, damit weniger Kinder und Jugendliche mit ihren Sorgen alleine dastehen. Die 13 Millionen werden zwar schon helfen, sie gehen aber am Problem vorbei.
Denn psychische Gesundheit ist kein Bereich, wo man einfach zur Ärzt:in geht, behandelt wird und alles ist gut. Mehrere unterschiedliche Ausbildungen und verschiedene Berufsbilder greifen ineinander, um die Seele gesund zu machen, wie es heißt. Zur Vorstellung des Themas braucht es deshalb wohl einen kurzen Weg in das System, um zu verstehen.
Therapie, aber wie?
Ziel wäre, dass Kinder und Jugendliche beispielsweise in der Schule zu Schulpsycholog:innen gehen können. Diese sind durch ihre Ausbildung darauf spezialisiert, Diagnosen zu stellen, und könnten damit die ordentliche Weiterleitung zu behandelnden Personen organisieren. Für ein erstes, niederschwelliges Angebot sind sie eine gute Lösung.
Wer anschließend in eine reguläre Behandlung will, bekommt von dem:r Allgemeinmediziner:in eine Überweisung zur Psychotherapie oder zu einer psychiatrischen Behandlung. Fachärzt:innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie sind aber selten und seit Jahren Mangelware. Sie haben oftmals nicht nur das Medizinstudium mit der fachärztlichen Ausbildung für Kinder- und Jugendpsychiatrie hinter sich, sondern müssen mittlerweile auch die psychotherapeutische Ausbildung absolvieren. Denn eine „klassische psychiatrische“ Ausbildung in diesem Sinne gibt es nicht mehr. Auch in der Psychiatrie wird nicht mehr vorrangig auf Medikamente gesetzt, sondern auch psychotherapeutische Aspekte wie beispielsweise Gesprächstherapie spielen eine immer größere Rolle.
Psychotherapeut:innen haben aber – natürlich – auch wieder unterschiedliche Ausbildungen. Gemeinsam haben diese, dass sie dreijährig sind und bei sogenannten Ausbildungsvereinen gemacht werden. Dadurch gibt es in Österreich aber verschiedene Standards, was immer wieder als einer der Hauptgründe genannt wird, warum es keinen Rahmenvertrag und damit keine volle Kostenübernahme durch die Krankenkassen gibt. Und hier fängt das Problem an – denn dadurch ist Psychotherapie oft teuer für die Betroffenen.
Wie für psychische Gesundheit gesorgt wird, ist also eine Frage des Behandlungswegs. Im klassischen Fall wird Psychotherapie genutzt, nur bei bestimmten Krankheitsbildern wie Depressionen, Schizophrenie oder Ähnlichem sind Medikamente nötig und deshalb auch Psychiater:innen als Mediziner:innen zur Medikamentenverschreibung unumgänglich. Nur, wenn es zu akuten Gefährdungen wie einem Suizidrisiko kommt, werden Kinder oder Jugendliche stationär im Krankenhaus aufgenommen, in den meisten Fällen versucht man das zu vermeiden. Wer über die Versorgung für psychische Gesundheit redet, muss also verschiedene Ebenen berücksichtigen.
Föderalismus, alive and well
Was man zur Versorgung sagen muss: Die Mediziner:innen haben (wie alle Fachärzt:innen) Kassenvertragsstellen, und weil es ein Mangelfach ist, gibt es davon viel zu wenige. Kinder- und Jugendpsychiatrie wird deshalb kaum in Ordinationen praktiziert, sondern viele Behandlungen erfolgen im Krankenhaus: was für Betroffene oft weite Anfahrtswege für mehrere Behandlungseinheiten die Woche bedeutet.
- In der Steiermark wird die Versorgung gar nicht über Kassenstellen gestellt. Soweit aus Anfragebeantwortungen ersichtlich ist, erfolgt die gesamte psychiatrische Versorgung für Kinder und Jugendliche ambulant, also über Besuche in Krankenhäusern.
- Im Burgenland gibt es weder Vertragsstellen noch Spitalsabteilungen. Dort sagt auch die Ärztekammer, dass „die momentane Situation unzureichend für eine flächendeckende Versorgung in diesem Bereich ist“. Eine Verbesserung kann aus Personalgründen kaum erreicht werden.
- In Tirol gibt es keine klassische Differenzierung zwischen Kassen- und Wahlärzten, dort gibt es seitens der ÖGK sogenannte Sonderverträge. Welche Ärzt:innen in welchem Ausmaß für private oder Kassenpatient:innen zur Verfügung stehen, ist daher unklar.
Was wir dadurch sehen: Die Krankenkassen sind zwar zusammengelegt worden, aber es gibt nach wie vor in jedem Bundesland eine andere Strategie zur Gesundheitsversorgung. Dieser Unterschied wirkt sich aber im mangelnden Angebot zum Nachteil der Patient:innen aus.
Vergleicht man Kassenstellen und Wahlärzt:innen, sieht man aber, dass die ÖGK nicht nur keine Ärzt:innen findet, sondern dass das Angebot an Kinder- und Jugendpsychiater:innen offenbar geografisch begründet ist. Die ÖGK sagt in der Anfragebeantwortung aber, dass es am grundsätzlichen Mangel an Ärzt:innen liegt:
„Wie im Anfragetext richtig ausgeführt wird, ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie ein Mangelfach. In Österreich gibt es wenige zur selbständigen Berufsausübung berechtigte Kinder- und Jugendpsychiater; diese können auch nur eine gewisse Anzahl an Ausbildungsärzten betreuen, um keine Qualitätseinbußen in der ärztlichen Ausbildung zu generieren. In diesem Zusammenhang wird festgehalten, dass die Schaffung zusätzlicher Planstellen nur dann Sinn macht, wenn die für die Betreuung notwendigen Fachärzte vorhanden sind. Die Schaffung zusätzlicher Planstellen ohne verfügbare Fachärzte führt lediglich zu unbesetzten Planstellen und ändert nichts an der regionalen Versorgung.“
Der theoretische Hintergrund dazu: Der Österreichische Strukturplan Gesundheit (ÖSG) sieht eigentlich pro 100.000 Einwohner:innen immer eine bestimmte Menge an Fachärzt:innen und verfügbaren Spitalsbetten vor. Was die niedergelassenen Ärzt:innen angeht, antwortet das Ministerium in der Anfragebeantwortung nur vage: Der ÖSG weist keine kassenfachärztlichen Stellen aus, sondern die Planungsvorgaben sind Richtwerte. Stattdessen werden „ärztliche ambulante Versorgungseinheiten pro 100.000 Einwohner ausgewiesen“. Damit können die Länderstellen der Kasse eben sagen, dass sie keine Kassenstellen schaffen müssen, sondern Wahlärzt:innen und Spitalsplätze für ambulante Behandlung – also quasi einen Besuch im Krankenhaus nur für eine Sitzung – auch zählen.
Auch in den Spitälern gibt es aber eben einen Mangel, der in der Krise schon mehrmals thematisiert wurde. In den vergangenen Jahren wurde immer wieder gelobt, mehr Plätze zu schaffen, und bis zur Pandemie sah es teilweise auch ganz gut aus. In Kärnten wurde ein Ausbau angekündigt, der dann allerdings wegen der hohen Pandemiekosten abgesagt wurde. Und in Wien wurde zwar 2020 im AKH eine größere Station eröffnet, die Belastungen in den Krankenhäusern haben sich aber so zugespitzt, dass viele Ärzt:innen das Krankenhaus Hietzing verlassen und Patient:innen dort in Zukunft über das Wochenende entlassen werden müssen. Womit der Ausbau im Allgemeinen Krankenhaus konterkariert wird und die Situation in Wien sich insgesamt trotzdem verschärft.
Konzentriert man sich auf die Krankenhäuser, muss man aber auch bestimmte Vorgaben bedenken: Nicht alle Patient:innen profitieren davon, wenn sie wirklich stationär aufgenommen werden, immerhin geht ein Aufenthalt in einer sogenannten geschlossenen Psychiatrie immer noch mit einem gesellschaftlichen Stigma einher. Wenn es nötig ist, muss so ein Aufenthalt unter den richtigen Bedingungen erfolgen. Dass der Mangel an Kinder- und Jugendpsychiater:innen nun dazu führt, dass Kinder auf Erwachsenenstationen behandelt werden, erfüllt diesen Anspruch aber unter keinen Umständen.
Trotzdem ist gerade in den vergangenen Jahren die Anzahl der Betten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gesunken – und das, obwohl diese immer hinter den Zielvorgaben des Strukturplans Gesundheit waren.
Dass diese Strategie zur Versorgung so nicht funktioniert, sieht man besonders im Burgenland. Es gibt keine Kassenstellen – die dafür sorgen würden, dass Patient:innen die Therapie nicht selbst zahlen – und keine Krankenhausbetten. Lediglich über Ambulatorien werden 4,6 Vollzeitäquivalente als Kinder- und Jugendpsychiater:innen angeboten. Auch in Tirol funktioniert das System nicht, dort wurden von 2018 auf 2019 sogar Betten abgebaut, wie Anfragebeantwortungen des Ministeriums zeigen.
Regionale Unterschiede in allen Bereichen
Schon alleine durch das unterschiedliche Angebot an Psychiater:innen und Psychotherapeut:innen kommt es deshalb zu großen Unterschieden bei der Krankenkasse, von wem die Kinder behandelt werden. Das zeigt sich auch in der Statistik der ÖGK. Je nach Bundesland gibt es offensichtlich große Unterschiede, ob Behandlungen häufiger bei Psychiater:innen oder bei Psychotherapeut:innen erfolgen.
In der Steiermark und im Burgenland sieht man ganz klar, dass mangels Psychiatrie-Angebot mehr Kinder zu Psychotherapeut:innen gehen, im Burgenland behandelte der:die eine Wahlärzt:in offensichtlich gleich 172 Patient:innen. Die Statistik geht von Kontakten aus, die von der ÖGK nachvollzogen werden können – hier sind also auch Besuche bei Wahlärzt:innen oder Wahltherapeut:innen inkludiert, sofern dafür eine Kostenerstattung beantragt wurde. Kinder in multiprofessionellen Einrichtungen (psychosoziale Zentren o.Ä.) sind nicht in allen Bundesländern inkludiert, in den meisten Bundesländern wurden damals nur Daten bis zum dritten Quartal 2020 angegeben.
Ein wichtiger Hintergrund, der zeigt, wie kompliziert das System ist: Psychiater:innen haben als Ärzt:innen einen Kassenvertrag oder werden erfasst, wenn Patient:innen die Rechnung zur Kostenerstattung einreichen. Psychotherapie kann auch auf Kosten der Krankenkasse besucht werden, da gibt es auch Kassenverträge wie bei Ärzt:innen. Aber: Die Kassenverträge für Psychotherapie werden nicht mit den Therapeut:innen abgeschlossen, sondern mit Vereinen, und die einzelnen Therapiestunden werden als Sachleistungen gegenüber der Kasse erbracht. Wir sehen deshalb hier trotz Zusammenlegung der Kasse ein massives Problem des Föderalismus: Die ÖGK konnte nicht in allen Bundesländern sagen, wie viele Therapeut:innen im Rahmen dieser Verträge tätig sind.
Gleichzeitig gibt es nach wie vor unterschiedliche Gebühren. In Vorarlberg verdient ein:e Therapeut:in mit 82 Euro pro Einheit noch am meisten. Zur Regelung steht in der Anfragebeantwortung folgender Absatz:
„Bekanntermaßen hat der Gesetzgeber bereits vor mittlerweile mehr als dreißig Jahren die vielfach gegebene Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Behandlung erkannt und die Psychotherapie im Rahmen der 50. Novelle zum Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz in den Pflichtleistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen. Ein Gesamtvertrag für Leistungsanbieter/innen der Psychotherapie, der nach den gesetzlichen Vorgaben zwischen der gesetzlichen Sozialversicherung und der Interessenvertretung der Psychotherapeut/inn/en (Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie) abzuschließen wäre, ist allerdings trotz mehrfacher Versuche und intensiver Anstrengungen auch seitens der Sozialversicherung nicht zustande gekommen.“
Wir stecken also seit 30 Jahren in der gleichen Situation, und es hat sich noch immer nichts bewegt.
Helfen mehr Psychiater:innen wirklich?
Kinder- und Jugendpsychiater:innen haben meist auch eine psychotherapeutische Ausbildung, und besonders bei jüngeren Kindern ist man mit dem Einsatz von Medikamenten eher vorsichtig. Die Behandlungen sind also oft ähnlich, werden bei Ärzt:innen und Therapeut:innen aber sehr unterschiedlich abgerechnet, und gerade Therapeut:innen bekommen für eine Kasseneinheit je Bundesland unterschiedlich viel.
Trotz der teilweise ähnlichen Zahl von Patient:innen bei Psychiater:innen und Psychotherapeut:innen gibt es (wohl auch wegen des Mangels in der Psychiatrie) weitaus mehr Patient:innenkontakte beziehungsweise Kostenübernahmen in der Psychotherapie als bei Kinder- und Jugendpsychotherapeuten.
Anstatt die Verträge mit den Psychotherapeut:innen zu reformieren, wird aber aktuell verhandelt, welchen Kostenersatz Psycholog:innen in Zukunft für Therapie erhalten können – diese dürfen aktuell auf Kassenkosten nämlich nur Diagnosen erstellen. Psychiater:innen und Psychotherapeut:innen sind von der Neuerung übrigens auch nicht begeistert: Psycholog:innen haben im Studium nämlich nur in einem Studienmodul Einblick in Therapiemethoden.
So kann man rein rechnerisch etwa sagen, dass ein Kind, das in Vorarlberg eine:n Psychiater:in besucht, durchschnittlich 1,6 Mal diese:n Psychiater:in sieht, während ein Kind, das eine:n Psychotherapeut:in besucht, durchschnittlich 13-mal bei diesem:r ist. Der große Unterschied bei diesen Zahlen könnte auch ein Anzeichen dafür sein, dass Kinder viel häufiger und länger zu Therapeut:innen gehen und Psychiater:innen tatsächlich eher nur noch zur „Medikamentenausgabe“ verwendet werden – in dem Fall muss aber darüber nachgedacht werden, ob wirklich die Stellen für die Kinder- und Jugendpsychiatrie ausgebaut werden müssen, oder nicht eher die Kassenplätze für Psychotherapie.
Keine Lösung in Sicht
Es braucht also ein Konzept, das die Kassen dazu bringt, die Stellen zu schaffen, Therapieeinheiten unabhängig von der Ausbildung nur nach Methode gleichwertig zu bezahlen, und das die Länder dazu bringt, die Krankenhausbetten aus- und nicht abzubauen. Das Ministerium weiß seit mittlerweile fast zwei Jahren, welche schweren psychischen Folgen die Corona-Krise für Kinder hat und dass die vorherige Problematik dadurch nur massiv verstärkt wurde.
Mittlerweile beschäftigt sich der dritte Minister damit: Rudolf Anschober berief einen runden Tisch zur psychischen Unterstützung von Kindern und Jugendlichen ein. Wolfgang Mückstein schuf eine Sonderlösung mit 13 Millionen Euro, die als Sonderprojekt in Kooperation zwischen dem Psychotherapieverband und dem Verband der Psycholog:innen zur Verfügung gestellt werden, und änderte den Ausbildungsschlüssel, sodass (theoretisch) mehr Kinder- und Jugendpsychiater:innen ausgebildet werden können.
Seitdem finden Gespräche statt und werden Konzepte erarbeitet. Das Ministerium vertritt aber auch in aktuelleren parlamentarischen Anfragebeantwortungen die Position, dass die Hauptaufgabe bei den Versicherungsträgern liegt. Dort wurden zwar die Stundenkontingente für die Psychotherapie aufgestockt – eine nachhaltige Lösung weg von den Vereinen gibt es damit aber nicht.
De facto braucht es aber ein Umdenken im gesamten System. Niederschwelliger Zugang für Erstkontakte in Schulen, eine stärkere Integration von Schulsozialarbeiter:innen, Schulpsycholog:innen und Schultherapeut:innen muss es Kindern und Jugendlichen ermöglichen, rasch über Probleme zu sprechen. So kann eine problembelastete Situation gelöst werden, bevor sich bei Kindern Traumata manifestieren. Gibt es individuelle Probleme, muss Psychotherapie schnell und einfach zugänglich sein – und zwar als integrierter Teil von Gesundheitsfürsorge und nicht als vernachlässigter Beiwagen von körperlicher Gesundheit.
Bei körperlichen Begleiterscheinungen muss es aber möglich sein, dass Psychiater:innen und medikamentöse Behandlung zur Verfügung stehen, Krankenhaus-Settings müssen für Kinder und Jugendliche geeignet zur Verfügung stehen. Dass Patient:innen sich beispielsweise nach einem Suizidversuch wegen eines verpassten Therapietermins nicht mehr für Psychotherapie qualifizieren und auf neue Kassenplätze warten müssen, darf in einem guten Gesundheitssystem nicht vorkommen. Dass die letzte inhaltliche Diskussion mit allen Stakeholdern seitens des Gesundheitsministeriums im September 2020 erfolgte, ist daher ein Versäumnis, das dringend repariert werden muss: um kassenfinanzierte Therapien für alle Kinder zu ermöglichen – und nicht Zwischenlösungen zu erarbeiten, die nach zwei Jahren nicht mehr finanziert werden.