Mobilitätswende: Was wir von den Niederlanden lernen können
Ein Fahrrad ist in den Niederlanden das, was für die Wiener ein Öffiticket ist: Man geht davon aus, dass jeder eines hat, und es ist so gut wie immer die erste Wahl im Straßenverkehr. Strecken in der Stadt – ob allein oder in der Gruppe – werden ganz selbstverständlich mit dem Rad zurückgelegt. Nach wenigen Monaten in den Niederlanden denkt man nicht mehr groß darüber nach, wie man ein Backblech mit Muffins zu einer Geburtstagsfeier transportieren wird. Man steigt aufs Fahrrad; eine Hand am Lenker, die andere hält das Blech.
Fahrrad = Freiheit
Die Fahrradkultur in den Niederlanden geht mit einem Gefühl der Freiheit einher, an das sich andere Verkehrsmittel nur annähern können. Das Fahrrad fährt genau dann ab, wenn man es braucht, und überallhin. Pannen sind selten, und so kommt man in den allermeisten Fällen rechtzeitig an, wenn man genug Zeit eingeplant hat. Die Anschaffungskosten sind niedrig, der Brennstoff ist die eigene Muskelkraft und somit gratis. Auch gefühlsmäßig hebt sich das Fahrrad von anderen Verkehrsmitteln ab: Noch kein einziges Mal habe ich in der Straßenbahn oder im Auto das gleiche Gefühl erlebt, das mich überkommt, wenn ich mit dem Rad einen Hügel hinuntersause.
Auch für die öffentliche Hand hat Radverkehr offensichtliche Vorteile. Räder nehmen auf der Fahrbahn und beim Parken wenig Platz in Anspruch, verursachen (ohne die Beteiligung von Autos oder LKWs) kaum Personenschäden und sind auch sonst der allgemeinen Gesundheit zuträglich – wer Rad fährt, betätigt sich sportlich und verursacht mit seiner Mobilität keine Abgase.
Bei Wind und Wetter
Warum also radeln Niederländer:innen im Schnitt 1.098 km pro Jahr, Österreicher:innen aber nur 280 km? Berge und Wetter werden oft als Übeltäter angegeben, halten aber als Argumente bei genauerer Betrachtung nicht stand. So würde man erwarten, dass das verhältnismäßig flache Ostösterreich Spitzenreiter bei Radfahrer:innen ist. Das Gegenteil ist der Fall: In Vorarlberg und Tirol radeln zwischen 40 und 50 Prozent der Bevölkerung regelmäßig – in Niederösterreich sind es 31 und in Wien gar nur 22 Prozent.
Das Wetterargument steht schon mit Blick auf die Radnationen Dänemark und Niederlande auf wackligen Beinen, da beide nicht für Dauersonnenschein bekannt sind. Oulu, mittig in Finnland gelegen, kann letzte Bedenken ausräumen – dort werden im Winter 12 Prozent aller Fahrten mit dem Rad zurückgelegt. Zum Vergleich: Österreich strebt eine Verdoppelung des Radverkehrsanteils auf 13 Prozent an – natürlich auf das ganze Jahr gerechnet.
Rezept für die Verkehrswende
Das Zauberwort heißt Infrastruktur. Selbst passionierte Radfahrer:innen werden auf andere Verkehrsmittel umsteigen, wenn Radeln unbequem, unsicher und umständlich ist. Und auch andersrum geht die Rechnung auf: Sichere und gut durchdachte Radwege ziehen Radverkehr an. Gute Radinfrastruktur ist ein Gewinn für alle Verkehrsteilnehmer:innen. Radfahrer:innen kommen schnell und sicher von A nach B, Autos müssen sich die Straße nicht mit dem Radverkehr teilen, und Fußgänger:innen haben Klarheit, an welcher Stelle sie die verschiedenen Arten von Verkehr erwarten können. Mobilität wird so für alle schneller und sicherer.
Das niederländische Rezept für eine fahrradfreundliche Stadt ist einfach:
- Man nehme breite, baulich getrennte Radwege, die sich farblich vom Gehweg und von Fahrbahnen unterscheiden. Diese werden durchdacht geplant, nicht dort untergebracht, wo zufällig noch Platz war. Dadurch schließen sie logisch aneinander an und helfen dabei, den Verkehrsfluss für alle Verkehrsteilnehmer:innen zu optimieren. Ein weiterer Geheimtipp: smarte Ampelschaltungen.
- Idealerweise trennt man Hauptverkehrsrouten des Auto- und des Radverkehrs voneinander, damit sie einander nicht unnötig behindern. Als Faustregel dürfen Radfahrer:innen den direkteren Weg nehmen – Autofahrer:innen profitieren vom reduzierten Verkehrsaufkommen auf den Umfahrungsstraßen und sind so trotzdem schnell am Ziel.
- Straßen werden mittels Kurven, Bodenschwellen und anderen verlangsamenden Elementen so ausgestaltet, dass sie die Einhaltung der Maximalgeschwindigkeit erleichtern. Besonders gefährliche Stellen werden durch bauliche Anpassungen sicherer gemacht und auffallend gekennzeichnet.
- Bahnhöfe, Stadtzentren, Arbeits- und Schulgebäude verfügen über Abstellplätze für Fahrräder. Fahrradgaragen schließen gut an bestehende Infrastruktur an, bieten genügend Platz und sind einfach in der Handhabung.
- Im besten Fall sind auch die Fahrräder selbst optimalisiert. Niederländische Fahrräder ermöglichen durch einen gekrümmten Lenker aufrechtes Sitzen, verfügen über einen Kettenkasten, der Kette und Hosenbeine schützt, und haben neben einem Gepäckträger meist auch einen Korb oder ein Gestell am Lenker montiert, das den Transport von wahlweise Einkaufstaschen, Beistelltischen oder Vorschulkindern ermöglicht. Niederländische Fahrräder sind echte Arbeitstiere, deren natürliches Habitat die Straße ist und die auch nach Jahren und ohne viel Wartung Leistung erbringen. Secondhand aus verlässlicher Quelle kann man solche Räder in den Niederlanden schon um 100 Euro erwerben, was sie zu einer echten Option für alle macht.
Eine Maßnahme ohne Verlierer
Stadtplanerisch kosten diese Maßnahmen Geld, sie rentieren sich aber direkt. Radfahren verhindert in den Niederlanden 6.500 Todesfälle pro Jahr und lässt die Lebenserwartung von Niederländer:innen um ein halbes Jahr steigen. Der gesellschaftliche Gesamtnutzen beträgt Schätzungen zufolge 77 Milliarden Euro.
Flankiert man die Verkehrswende hin zum Drahtesel mit einer Reduktion von Parkplätzen auf der Straße und einer Offensive für Grünraum, gewinnt die Stadt in vielerlei Hinsicht. Saubere Luft, Sicherheit im öffentlichen Raum, ein kühleres Stadtklima und gesündere Bürger:innen sind nur einige der Vorteile. Die Verkehrswende würde uns alle zu Gewinner:innen machen – wieso schaffen wir sie dann nicht?
Mutig in die neuen Zeiten?
In Österreich scheitert es allzu oft am Mut. Politiker:innen zögern, einschneidende Veränderungen vorzunehmen, verstecken sich hinter fadenscheinigen Ausreden, leeren Versprechen und unambitionierten Ausbauplänen.
Dabei gäbe es gerade einige Positivbeispiele von europäischen Städten, die von den Niederlanden (und Dänemark) lernen. Barcelona investiert massiv in verkehrsberuhigte Grätzl, Begrünung und Fahrradinfrastruktur. Die Pariser Bürgermeisterin wurde mit dem Versprechen, zehntausende Parkplätze in Fahrradwege umzuwandeln, wiedergewählt und hat ihr Vorhaben bereits über weite Teile umgesetzt. Selbst in den Niederlanden und in Dänemark wird an weiteren Maßnahmen gefeilt, um den Radverkehr zu optimieren. Radfahrer:innen sollen zu längeren Fahrten animiert werden (Stichwort Radschnellstraße und E-Bike) und Handwerker:innen sollen vermehrt vom Auto auf ein Lastenfahrrad umsteigen.
Bei uns ist, wie man auf Niederländisch so schön sagt „werk aan de winkel“ – wir haben noch so einiges zu tun. Vielleicht sollten wir alle Entscheidungsträger:innen zu einer Woche alternativlosem Radeln in Wien verdonnern – und dann zur Erholung in die Niederlande schicken. So eine pedalgetriebene Erholungskur auf baulich getrennten Radwegen und mit Wind im Haar kann Wunder wirken.