Psychische Gesundheit: Ein System mit Schwierigkeiten
Psychische Gesundheit ist im Laufe der vergangenen Jahrzehnte weiter in den Fokus der öffentlichen Debatte und auch der Populärkultur gerückt: „Zehn Wege, glücklich zu werden“, „So achten Sie auf sich selbst“.
Schön und gut auf einer Hinweisebene, aber meist ist der Alltag doch etwas zu kompliziert, um mit solch kleinen Schritte zum Glück zu kommen. Spätestens wenn man sich im Detail ansieht, welche Art von Ansprache eine bestimmte Person tatsächlich benötigt, scheint der Weg zur Ausgeglichenheit aber nicht mehr so einfach.
Genau hier fängt das Problem an: In Österreich ist es schon sehr schwer, eine Diagnose und Therapiezugang zu erhalten. Wer eine Depression oder Essstörung hat, hat relativ eindeutige Symptomatiken und/oder körperliche Anzeichen. Das kann jeder und jedem Allgemeinmedizin Praktizierenden einfach erklärt oder demonstriert werden, eine Überweisung an eine:n Psychiater:in oder schlimmstenfalls ins Krankenhaus erfolgt dann relativ einfach. Aber was mache ich als Patient:in, wenn ich immer wieder psychische Schwankungen erlebe, aber selbst nicht einordnen kann, was die Ursache sein könnte?
Viele Fragezeichen bei der Suche nach Hilfe
Allgemeinmediziner:innen klagen darüber, zu wenig Zeit für ihre Patient:innen zu haben. Aber genau die braucht man, wenn man psychische Ursachen ergründen will. Tut man das nicht, bekommt ein:e Patient:in zwar möglicherweise eine Überweisung für Psychotherapie – aber wohin damit?
Viele Menschen kennen den Unterschied zwischen Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen und Psychiater:innen nicht wirklich, sondern halten alle drei Berufsgruppen – vereinfacht gesagt – für „jemanden, der Therapie anbietet“.
- Psycholog:innen – ausgenommen klinische – dürfen nicht behandeln, sondern nur diagnostizieren.
- Psychotherapeut:innen sind die ersten Ansprechpartner:innen für Therapie.
- Psychiater:innen sind Mediziner:innen, die wörtlich hergeleitet auf die Seele spezialisiert sind und dafür auch körperliche Ursachen finden können. Jüngere Psychiater:innen müssen im Rahmen ihres Studiums auch gleich die Ausbildung zu Psychotherapeut:innen mitmachen. Sie setzen heute mehr auf Gesprächstherapie und weniger auf Medikamente, als dies noch vor Jahren der Fall war.
Wer das alles nicht weiß, erhält eine Überweisung vom Hausarzt und muss sich dann mühselig heraussuchen, wo es überhaupt welche Arten von Therapie gibt und welche man benötigen könnte. Einen Kassenplatz können die meisten sowieso vergessen, dafür gibt es zu wenige, und die Wartelisten sind lang. Wer einen Kassenplatz bekommt, hat allerdings jedenfalls eine genaue Diagnose und wird dezidiert zugewiesen. Aber Kassenplätze sind selten, begehrt und haben strenge Auflagen.
Wer nicht „brav mitarbeitet“ – also erscheint –, kann diesen Platz aber sehr schnell verlieren. Beispielsweise gibt es Fälle von Personen, die aufgrund einer Depression in Therapie waren, nach einer Verschlechterung einen Suizidversuch hatten und ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Durch diesen Krankenhausaufenthalt wurde eine Therapiesitzung verpasst – und in Folge gab es keine Möglichkeit zur Kassentherapie mehr, sondern die Person wurde erneut am Ende der Warteliste auf einen Kassenplatz eingetragen.
Woher weiß man, wo man hin muss?
Das österreichische System der psychischen Versorgung akzeptiert individuelle Bedürfnisse also nur schwer. Das liegt auch an seiner Überlastung. Wer also nur ein bisschen Betreuung in einer schwierigen Phase braucht oder herausfinden möchte, warum er oder sie immer wieder vor ähnlichen Problemen steht, ist oft auf sich selbst gestellt.
Für zehn Stunden Psychotherapie übernehmen die meisten Sozialversicherungsträger ohne große Nachfragen den Kostenzuschuss: 28,42 Euro bekommt man bei der ÖGK pro Behandlungseinheit erstattet. Einen klaren Behandlungsweg gibt es allerdings nicht. Theoretisch sollte eine Überweisung zu einem:r Psychiater:in für eine Diagnose erfolgen, möglich wäre ebenso ein Besuch bei einem:r Psycholog:in. Weil Psychiater:innen aber ebenso rar gesät sind – erst recht jene mit Kassenvertrag – und Patient:innen selten wissen, warum eine ausführliche Diagnose abseits des hausärztlichen Gesprächs hilfreich wäre, erfolgt meist direkt der Besuch bei Psychotherapeut:innen.
22 verschiedene Richtungen von Psychotherapie gibt es in Österreich. Als unerfahrene:r Patient:in kann man aber nur schwer herausfinden, welche Therapieform am besten zum eigenen Problem passt. Geht es eher darum, die Wurzeln meiner Probleme zu finden? Brauche ich eine Richtung, die sich auf Analyse spezialisiert hat? Oder stehe ich möglicherweise ohnehin vor den Lösungen und brauche eher Hilfe, um diese in den Alltag zu integrieren? Ist Verhaltenstherapie deshalb die bessere Herangehensweise?
Welche Art der Therapie benötigt wird, ist oft alleine den Patient:innen überlassen – und die müssen oft erst damit konfrontiert werden, wo die Ursache für ihr Leiden liegt. Ganz ohne Anleitung landen Patient:innen also in der Regel einfach beim nächstbesten Anbieter. Weil Psychotherapie mangels Kassenplätzen oft über die Zuschüsse oder gänzlich privat finanziert wird, gibt es kaum Steuerungsmöglichkeiten, um Therapiewahl oder Therapieerfolg zu beeinflussen oder zu überprüfen.
Lieber ohne Kassenplatz
Gesteuert wird maximal über die Zuschüsse. Die orientieren sich aber eben an Patient:innen und nicht an der Therapie. Das ist grundsätzlich auch vernünftig und in deren Sinne – endet aber damit, dass Patient:innen gegen Ende der zehn bezuschussten Sitzungen einen Antrag auf mehr Therapiestunden ausfüllen. Oft helfen die Therapeut:innen selbst dabei. Die Diagnose und Beschreibung der psychischen Störung – sei es z.B. eine Essstörung, eine Angststörung, ein Suchtverhalten – sind hier oft der Schlüssel, damit mit den richtigen Formulierungen eine weitere Kostenübernahme herausgelockt werden kann.
Durch den größeren Fokus auf das Thema psychische Gesundheit im Laufe der Pandemie ist bei der ÖGK die Bereitschaft gestiegen, Zuschüsse zu übernehmen. 2020 wurden beispielsweise 15 Millionen Euro für Zuschüsse für Psychotherapie ausbezahlt.
Ob die jeweiligen Therapeut:innen für ihre Patient:innen aber wirklich den gewünschten Behandlungserfolg bringen, lässt sich kaum sagen. Kann eine Person die Ursache für ihre Angststörung finden? Verschwindet die Depression wirklich, oder wird ein Bewältigungsmechanismus gefunden, um eine depressive Phase leichter zu überstehen? In der Praxis sagt die Versicherung, dass es hier keine Kontrollen gibt oder geben kann. Bei Ärzt:innen werde ja auch nicht überprüft, ob eine Therapie Erfolg zeigt – die Einschätzung müsse den Patient:innen überlassen werden. Doch ob diese überhaupt an der richtigen Stelle sind, können sie eigentlich gar nicht wissen.
Reformbedarf bei psychischer Gesundheit
Neben dem steigenden Bewusstsein für psychische Gesundheit braucht es also auch in diesem Bereich eine gesteigerte Kompetenz bei Patient:innen. Das eigene Problem richtig zu erkennen, ist schwierig – aber umso mehr, die richtigen Ansprechpartner:innen für die Lösung zu finden.
Hier braucht es also einen Kontrollmechanismus: einen verpflichtenden Gang zu Psycholog:innen, um vor der Behandlung eine gesicherte Diagnose zu erhalten. Eine:n Allgemeinmediziner:in, der:die nach einem halben Jahr nachfragt, wie sich die Therapie entwickelt. Eine:n Therapeut:in, der nicht einfach weiter behandelt, sondern aus Pflichtbewusstsein gegenüber dem:r Patient:in auch sagt, wenn er:sie nicht mehr weiterhelfen kann.
Mental Health basiert momentan darauf, dass Patient:innen sich Therapie leisten können und bei der Wahl ihrer Ansprechpartner:innen Glück haben. Darum braucht es dringend Reformen – denn das allein kann nicht der Anspruch des österreichischen Gesundheitswesens sein.