Psychische Gesundheit: Was Österreich von Frankreich lernen kann
Weltweit stecken Gesellschaften in multiplen Krisen. Seit bald drei Jahren leben wir mit Covid-19, der Teuerungsdruck durch gestiegene Lebenskosten wird immer spürbarer, und die Auswirkungen des russischen Aggressionskriegs führen zu einem volatilen, belasteten Umfeld.
Ein Bereich, der in der Vergangenheit oftmals wenig diskutiert wurde, durch die Pandemie allerdings mehr Aufmerksamkeit bekam, ist die psychische Gesundheit. Viele Studien haben in den letzten Jahren gezeigt, dass sich das mentale Wohlbefinden während der Pandemie teils massiv verschlechtert hat. Informationen über die Qualität und die Ergebnisse der psychischen Versorgung in ganz Europa sind auch nach drei „Corona-Jahren“ unzureichend.
Was wir über Mental Health in Österreich wissen
Das gilt insbesondere für Österreich: Die Datenlage basiert oft auf unregelmäßigen Erhebungen, vereinzelten Schätzungen zur Prävalenz von psychischen Erkrankungen oder rudimentären Daten über die psychische Gesundheitsversorgung. Die wenigen Daten, die es gibt, zeichnen ein überwiegend düsteres Bild: Eine im Sommer veröffentlichte Studie über die psychische Gesundheit der österreichischen Schüler:innen ergab beispielsweise, dass 62 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Buben depressive Symptomatik aufweisen. Im Freiheitsindex, den das NEOS Lab in Zusammenarbeit mit SORA erstellt hat, zeigt sich, dass psychische Gesundheitsprobleme bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen.
Eindeutige Daten sind jedoch unerlässlich: sowohl um akute Probleme lösen zu können als auch für eine Einschätzung der langfristigen Entwicklung der Gesundheitsinfrastruktur.
Österreich kann hier von anderen Ländern lernen, beispielsweise Frankreich. Zu Beginn der Covid-19-Pandemie startete das Santé Publique France eine Panelstudie mit dem Ziel, in regelmäßigen Abständen Aussagen über den psychischen Gesundheitszustand der französischen Bevölkerung zu treffen. Hierbei werden unter anderem Indikatoren für Depressionen oder Angststörungen erhoben. Nach knapp drei Jahren gibt es Ergebnisse, die auch für die österreichische Gesundheitsversorgung von Relevanz sind.
Frankreich erhebt Daten zu psychischer Gesundheit
Die Daten aus Frankreich zeigen einen sehr dynamischen Verlauf bei der Prävalenz von Depressionssymptomen. In Zeiten von Lockdowns gibt es einen hohen Anteil von Personen mit Depressionssymptomen, ebenso ist ein Anstieg in den Wintermonaten zu beobachten. Im Gegensatz dazu sinken die Werte in den Sommermonaten. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung hat die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen einen höheren Anteil an Depressionssymptomen, strukturell gesehen gibt es aber keinen Unterschied zu anderen Bevölkerungsgruppen.
Bei Angststörungen zeigt sich hingegen kein massiver Anstieg rund um Lockdowns. Im gesamten Zeitreihenvergleich ist in der Gesamtbevölkerung ein leichter Anstieg zu bemerken. Bei jungen Erwachsenen ist aber eine deutliche Zunahme an Angststörungen festzustellen, im Mai 2022 wies mehr als die Hälfte (51,8 Prozent) der 18- bis 24-Jährigen Symptome von Angststörungen auf. Besonders hervorzuheben ist, dass im Vergleich zur Gesamtbevölkerung der Anstieg in den letzten drei Jahren deutlich stärker war.
Im Laufe der Zeitreihe erfolgte eine Ergänzung der erhobenen Daten um Fragen zu einer möglichen Suizidgefahr. Im Februar des Jahres 2021 hatten 8 Prozent der Gesamtbevölkerung Suizidgedanken, im Mai 2022 waren es schon 11 Prozent – das ist ein Anstieg von 40 Prozent innerhalb von 15 Monaten. Bei der Gruppe der jungen Erwachsenen gab es allerdings eine wesentlich größere Zunahme: Während zu Beginn der Zeitreihe knapp 11 Prozent Suizidgedanken hatten, so waren es im Mai dieses Jahres schon 27,4 Prozent!
Die Daten der französischen Langzeitstudie legen auch für Österreich drei wesentliche Erkenntnisse nahe:
- Nicht alle psychischen Belastungen weisen dasselbe Muster auf. Während Depressionen besonders zu bestimmten Zeitpunkten (Lockdowns, Jahreszeit) zunehmen, ist bei Angstzuständen und Suizidgedanken ein kontinuierlicher Anstieg zu beobachten.
- Jugendliche und junge Erwachsene sind stärker von psychischen Gesundheitseinschränkungen betroffen als andere Personengruppen.
- Junge Erwachsene weisen bei Angstzuständen und bei Suizidgedanken einen massiv stärkeren Anstieg im Vergleich zur Gesamtbevölkerung auf, ihr Gesundheitszustand hat sich also schneller verschlechtert.
Was können wir für Österreich lernen?
Österreichische Ergebnisse, sofern vorhanden, decken sich mit der Langzeitstudie aus Frankreich. Die eingangs erwähnte Untersuchung zu österreichischen Jugendlichen zeigt, dass Suizidgedanken zwischen Frühjahr und Herbst 2021 von 33 auf 45 Prozent angestiegen sind. Die Daten des Freiheitsindex 2021 zeigen, dass junge Erwachsene eine deutlich höhere Belastung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung haben. Daher ist davon auszugehen, dass die psychische Gesundheit der Menschen in Österreich sich nicht strukturell von jener der französischen Bevölkerung unterscheidet.
In der Praxis bedeutet das, dass die von ÖGK und Bundesregierung gesetzten Maßnahmen zur Verbesserung der psychosozialen Versorgung wohl nicht ausreichen. Ein deutlicher Anstieg an psychischen Belastungen führt auch zu mehr Personen, die behandelt werden müssen. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn laut Betroffenen und Expert:innen lange Wartezeiten auf Therapieplätze weiterhin Standard sind und in Kinderpsychiatrien Triage längst Teil des medizinischen Alltags ist. Insbesondere, da schon vor Beginn der Pandemie die Behandlungsraten bei jungen Erwachsenen in ganz Europa niedrig waren und auch in Österreich eine Unterversorgung festgestellt wurde.
Welche Maßnahmen sollten wir in Österreich nun treffen?
Anhand des französischen Beispiels können wir für Österreich einige Punkte ableiten, die auch hierzulande Fortschritte im Mental-Health-Bereich bringen würden:
- Ein Maßnahmenpaket für Jugendliche und junge Erwachsene: Dieses muss unter anderem einen Ausbau der Kapazitäten in Kinder- und Jugendpsychatrie, die Aufstockung von Kinderärzt:innen, eine weitere Erhöhung der Kassenkontingente für Psychotherapie und eine Reduzierung der Wartezeit auf ebendiese Kassenplätze beinhalten.
- Prävention und Wiedereingliederungsmaßnahmen stärken: Die österreichische Gesundheitspolitik setzt traditionell wenig auf Prävention, sondern setzt Ressourcen erst dann ein, wenn der Krankheitsfall eingetreten ist. Während der Pandemie kam es sogar zu Rückschritten, so wurde die Sozialarbeit an höheren Schulen gestrichen. Fit2Work, ein international anerkanntes und erfolgreiches Modell für Prävention und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, stand vor der Einstellung – sogar der Bundespräsident musste intervenieren, um das Projekt zu erhalten. Die vor kurzem erfolgte Ankündigung der ÖGK, ihre Präventionsangebote auszubauen, kann nur ein erster Schritt sein. Besonders niederschwellige Angebote an Schulen und in Unternehmen sollten stärker ausgebaut werden.
- Bessere Datenbasis für psychische Gesundheit: Wir brauchen analog zu Frankreich aktuelle Daten zu psychischen Erkrankungen und eine darauf aufbauende Analyse des zu deckenden Bedarfs. Um die Engstellen in der Gesundheitsversorgung frühestmöglich zu erkennen, benötigt es eine Erhebung und Veröffentlichung von wichtigen Kennzahlen, wie beispielsweise die durchschnittliche Wartezeit auf Psychotherapie-Kassenplätze.
Was die österreichische Politik nur bedingt ändern kann, ist unser volatiles und von Krisen belastetes Umfeld. Jedenfalls sicherzustellen ist allerdings die Verfügbarkeit rascher und guter Behandlung im Krankheitsfall, und verschärften Auswirkungen von internationalen Krisen ist vorzubeugen.
Angesichts der vorhandenen Daten ist klar, dass die Bundesregierung handeln muss. Nicht zuletzt, da wesentliche strukturelle Probleme der psychischen Gesundheitsversorgung in Österreich schon seit Jahren bestehen.