Regierungsprogramm: Wilders’ wilde Pläne für die Niederlande
Die Niederlande sind ein wunderschönes Land.
Ein Land, auf das man stolz sein kann.
Wir müssen hart arbeiten, um das Vertrauen der Niederländer zu verdienen.
So beginnt das Kernpunkteprogramm der nächsten niederländischen Regierung unter dem Rechtspopulisten Geert Wilders. Es trägt den klingenden Titel „Hoffnung, Mut und Stolz“.
Zum ersten Mal seit ihrer Gründung 2005 darf die Partij voor de Vrijheid voll mitregieren. Hinter der „Partei für die Freiheit“ steckt die rechtspopulistische Fraktion von Geert Wilders, die bei der Wahl 2023 zur stimmenstärksten Kraft wurde – aber ohne Anspruch auf den Sessel des Premierministers in die Regierung geht. Ein Kompromiss, um der Koalition aus der PVV, der rechtsliberalen VVD, der Bauernprotestpartei BBB und der schwer einzuordnenden Partei des Aufklärers Pieter Omtzigt (NSC) einen staatstragenden Anstrich zu verleihen.
Die zweifelhaften Lorbeeren für die Rechtskoalition darf die VVD für sich beanspruchen – sie war es, die die letzte Mitte-Links-Koalition platzen ließ, weil die vier Koalitionsparteien sich nicht darauf verständigen konnten, den Familiennachzug von Flüchtlingen weiter zu begrenzen. Diese Entscheidung ging nach hinten los und bescherte Wilders’ PVV Zugewinne, während die VVD abstürzte. Inhaltlich musste die VVD trotzdem auf Kurs bleiben: Koalitionsverhandlungen mit der rechtspopulistischen PVV, die Asyl und Migration extrem kritisch gegenübersteht, waren der logische nächste Schritt.
Regieren mit der PVV: Ibiza waiting to happen
Dass eine PVV-Regierungsbeteiligung chaotisch werden kann, steht jedenfalls seit 2010 fest: Damals stützte Wilders’ Partei eine von Mark Rutte geführte Minderheitenregierung. Ein Auszug aus den damaligen Vorkommnissen liest sich wie die Form von Polit-Satire, die in Österreich gut bekannt ist. Die PVV bestand etwa auf eine Studie, ob man den Euro wieder zugunsten des Guldens abschaffen sollte, und ließ diese regelwidrig vom Europäischen Parlament bezahlen. Sie richtete einen „Polen-Meldepunkt“ ein, an den sich Personen wenden konnten, die durch Arbeitsmigration ihren Job verloren hatten, und echauffierten sich darüber, dass die niederländische Königin bei einem Staatsbesuch in den Vereinigten Arabischen Emiraten ein Kopftuch getragen hatte. Nach etlichen Skandalen und Rücktritten seitens der PVV platzte die Regierung schließlich nach nicht einmal zwei Jahren.
Im Gegensatz zu 2010 gibt die PVV diesmal als stimmenstärkste Partei den Ton an – und sie hatte bei der Wahl viele rechtlich und moralisch bedenkliche Forderungen im Gepäck. Eine Regierungsbildung mit PVV-Beteiligung wird darum von manchen als demokratiegefährdendes Vorhaben eingestufte andere wiederum relativieren – schließlich benötigen die Rechtspopulisten mit ihren 25 Prozent mehrere Koalitionspartner, um Mehrheiten bilden zu können. Die Hoffnung war, dass Wilders’ verrückte Forderungen genau wie seine Haarpracht bei näherer Prüfung aus viel Luft und wenig Substanz bestehen würden: Ist Wilders nicht bereit, von seinen Forderungen abzurücken, gibt es eben keine Koalition. Die Demokratie wird’s richten.
Was die niederländische Regierung plant
Mit Veröffentlichung des Kernpunkteprogramms bekommen wir einen ersten Einblick, wie erfolgreich VVD, NSC und BBB bei der Eindämmung von Wilders’ wilden Ideen waren. Ein Aufriss ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Das Herzstück des Programms: Asyl und Migration
Viele der Punkte im Migrations-Teil des Programms lassen sich einfach mit „weniger Zuwanderung“ zusammenfassen: Neben neuen Hürden für den Familiennachzug stellt die Regierung besseren Grenzschutz in Aussicht und will andere Länder bezahlen, statt selbst Menschen aufzunehmen. Wie viel Migration die Wirtschaft braucht, will man kritisch evaluieren, Unternehmen sollen verstärkt für ihr Personal mit Migrationshintergrund verantwortlich gemacht werden. Für den Fall einer EU-Erweiterung behält sich die Regierung vor, den freien Personenverkehr zu begrenzen. Auch Studierende sieht die neue Koalition kritisch: Uni-Fächer sollen vermehrt ausschließlich auf Niederländisch angeboten, die Zahl der Studierenden aus dem Ausland soll begrenzt werden, und die Preise für Drittstaatsangehörige sollen steigen.
Im Bereich Asyl wiederum will die Koalition eine „Asylkrise“ ausrufen: In den nächsten Jahren sollen keine neuen Ansuchen bearbeitet werden. Das erst kürzlich beschlossene Gesetz zur Verteilung von Asylwerbenden soll zurückgenommen werden, stattdessen will man jede Art der Migration stark reduzieren. Das will die Regierung durch strengere Zulassungsverfahren sicherstellen: Die Beweislast soll reformiert, das Auslesen von Mobiltelefonen erlaubt und der Rechtsbeistand begrenzt werden. Außerdem soll Asyl nicht mehr auf unbestimmte Zeit vergeben werden, und wer sich gegen die Abschiebung wehrt, macht sich strafbar.
Eng verbunden mit dem Bereich Migration warnt das Regierungsprogramm auch vor der Bedrohung durch islamistischen Terrorismus. Darum sollen die Strafen für 14- bis 16-Jährige erhöht werden, und man will Möglichkeiten untersuchen, Personen, die für Terrorismus und andere schwere Delikte verurteilt wurden, die Staatsbürgerschaft abzuerkennen.
Leistbares Leben als Schwerpunkt
Das Kapitel zum Thema „Leistbares Leben“ trägt die Handschrift von Pieter Omtzigt, der vor der Wahl eine Affäre rund um Kinderbetreuungszuschüsse aufgedeckt hatte. Kurz zusammengefasst: Wegen strenger Betrugskriterien mussten zehntausende Eltern wegen vermeintlich betrügerischem Bezug von Zuschüssen hohe Summen zurückzahlen, wodurch viele von ihnen in große finanzielle Probleme gerieten. Neben der Reparatur des besagten Zuschusses – die bereits von der letzten Regierung versprochen, aber nicht geliefert wurde – stehen bessere Schuldnerberatung und mehr Rechte für (Schein-)Selbstständige auf der Wunschliste der zukünftigen Regierung.
Aber auch dem Kapitel Wohnen wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Was wenig überraschend ist – die Niederlande leiden an einem chronischen Wohnungsmangel. Ein Minister soll dafür sorgen, dass jährlich 100.000 Wohnungen gebaut werden. Dafür sollen alle Register gezogen werden: Entwicklung neuer Gebiete, Hürdenabbau für kooperatives Wohnen, Neunutzung bestehender Gebäude, Steuern auf ungenutztes Bauland mit Wohnwidmung, Verdichtung und Teilung von bestehenden Wohnungen. Ein wichtiger Fokus liegt zudem darauf, neue bezahlbare Miet- und Eigentumswohnungen zur Verfügung zu stellen.
Rückschritte in der Umweltpolitik
Im Programm wird die Ablehnung von Umwelt- und Klimapolitik deutlich: Tempo 130 auf der Autobahn soll bald wieder erlaubt sein, Wohnbau bekommt Vorrang vor dem Ausbau der Windkraft. Der nachhaltigeren Gestaltung des Autobestands will man zwar nicht im Weg stehen, Besitzer von Elektroautos sollen künftig allerdings „ehrlicher beitragen“ – Förderungen für Elektroautos werden ab 2025 gestrichen.
An die bisher zugesagten Klimaschutz-Pfade will sich die Regierung halten. Neue Maßnahmen soll es aber erst geben, wenn man diese verfehlt. Bis dahin werden einige Dinge zurückgenommen: Der CO2-Preis wird abgeschafft, die Wärmepumpen-Offensive ab 2026 kommt doch nicht. Nur in Anpassungen an den Klimawandel will man proaktiv investieren. Zumindest das Ziel der energiepolitischen Unabhängigkeit verfolgt die Regierung trotzdem, dabei setzt sie allerdings auf neue Atomkraftwerke, Gasgewinnung in der Nordsee, Windräder im Meer – und zwar nur noch dort – und Langzeitverträge für Gaslieferungen. Mit wem, ist nicht verschriftlicht.
Das Kapitel zum Thema Landwirtschaft trägt dafür den klaren Stempel der Bauernpartei BBB. Für Bauern und Fischer soll es bedeutend einfacher werden, Umweltstandards sollen aufgeweicht und angepasst werden, und auch bei der EU will man sich für verschiedene Lockerungen starkmachen. Der vorliegende Plan entspricht fast haargenau einem Gesetz, das bereits 2019 von einem Gericht gekippt wurde und zur Stickstoffkrise führte. Der Fonds, der für einen Übergang in eine stickstoffärmere Landwirtschaft geschnürt wurde, soll nun rückabgewickelt werden. Hauptsache, in der Landwirtschaft muss sich nichts ändern.
Nicht nur dieser Teil des Programms zeigt, dass der neuen Regierung einige Konflikte mit der Europäischen Union bevorstehen. Weder sie noch die niederländischen Gerichte werden den Landwirtschafts-Plänen viel abgewinnen können, eine Ausstiegsklausel für die europäische Asyl- und Migrationskrise ist genauso unrealistisch. Das dürfte Teil des Plans sein: Die „unkooperative“ EU gibt nicht nur in den Niederlanden ein hervorragendes Feindbild ab.
Und sonst so?
- Im Bereich Gesundheit soll der Selbstbehalt bis 2027 halbiert, eine elektronische Krankenakte eingeführt und die Gesundheitsbranche attraktiver werden. Mit Abtreibung und Sterbehilfe will sich die Regierung nicht beschäftigen.
- In der Bildung ist nicht viel Überraschendes vorgesehen – auffällig ist lediglich die Forderung, dass die Unterrichtsmethoden künftig „politisch neutral“ sein sollen.
- Zum Thema Verfassung soll die Möglichkeit eingerichtet werden, Gesetze auf ihre Verfassungskonformität prüfen zu lassen. Die neue Regierung behält sich allerdings vor, die Art der Prüfung einzugrenzen, was viele kritisch sehen.
- Das Parlament soll mehr Ressourcen bekommen, die Auskunftspflicht gegenüber Abgeordneten wird verbessert, und es wird ein „Recht, vergessen zu werden“ eingeführt.
- Im Bereich Außenpolitik ist die Zusammenarbeit mit der NATO und anderen europäischen Ländern die höchste Priorität der neuen Regierung. Die NATO-Ausgabennorm von 2 Prozent des BIP soll erreicht und gesetzlich verankert, die Rüstungsindustrie im eigenen Land und in der EU gefördert werden.
Was das Programm nicht erzählt
Zusammengefasst ist es NSC und VVD gelungen, Wilders’ wildesten Ideen einen Riegel vorzuschieben. Ein allgemeiner Asyl-Stopp steht genauso wenig im Programm wie das Ende aller Klimaschutzmaßnahmen in den Niederlanden.
In vielen Punkten wird der Teufel allerdings im Detail liegen – und damit in der konkreten Ausgestaltung. Gerade beim Klimaschutz wird das spannend zu verfolgen: Wilders’ PVV hält Klimaschutz für Unsinn, der Bauernpartei sind Umweltschutzmaßnahmen ein Dorn im Auge, und die anderen zwei Parteien konnten nur ein halbgares Bekenntnis zum Status quo verankern, das durch die Abschaffung oder Begrenzung mancher bestehender Maßnahmen weiter unterwandert wird.
Auch spannend ist die Prioritätensetzung: Fertig ausgearbeitet ist nur ein detaillierter Plan, was in Sachen Zuwanderung passieren soll. Die Niederlande haben im europäischen Vergleich wenig Asylmigration. Nur knapp 1,4 Prozent der niederländischen Bevölkerung (ca. 250.000 Personen) sind Flüchtlinge oder Vertriebene – ein guter Teil davon kommt aus der Ukraine. Wichtige Themen wie der Lehrkräftemangel werden dagegen mit Überschriften abgespeist.
Niederländische Medienberichte, die sich dem Programm widmen, betonen auch die Geschichte, die das zugehörige Budget erzählt. Nach dem Prinzip „Follow the money“ gibt es ernsthafte Zweifel, ob die versprochenen Reparaturen und Verbesserungen wirklich durchgeführt werden können – schließlich will diese Regierung 22 Prozent der Kosten des Beamtenapparats einsparen, während sie einige Maßnahmen ins Programm aufgenommen hat, für die im Gegenteil mehr Ressourcen notwendig werden. Auch auf anderen Gebieten sucht man den Realismus: Für den Bau von vier Atomkraftwerken sind im Budget 14 Milliarden Euro veranschlagt. In Großbritannien hat der Bau einer einzigen Kernzentrale gerade erst 54 Milliarden gekostet.
Aber immerhin finden sich ein paar Lichtpunkte im Programm, meist mit liberaler Handschrift. Zumindest im Wirtschaftsbereich und beim Thema Entlastung scheint Wilders der Vernunft keine Steine in den Weg zu legen. Trotzdem bleibt nach der Lektüre des Kernpunkteprogramms ein schaler Nachgeschmack: Die liberalen Kräfte werden in dieser Regierung hart arbeiten müssen, um sich das Vertrauen der Niederländer:innen zu verdienen.