Richtungswechsel? Historische Wahl in Mexiko
In Mexiko tobt in diesen Wochen der blutigste Wahlkampf, den das Land je erlebt hat. Am 2. Juni 2024 wird nach sechs Jahren nicht nur ein neues Staatsoberhaupt gewählt, sondern auch beide Kammern und diverse Gouverneursposten – insgesamt 20.000 neue politische Positionen. Es ist die größte Wahl, die das Land je abgehalten hat.
Überschattet wird die Wahl von einer sich dramatisch verschlechternden Sicherheitslage und vom allgemeinen Kampf um Demokratie und Rechtstaatlichkeit, den das Land mit diversen Strategien schon seit Jahrzehnten führt. Seit Juni 2023 wurden bereits 35 Kandidat:innen ermordet: In vielen Regionen des Landes ist es ein Schlagabtausch zwischen den Kandidat:innen, die sich demokratisch der Wahl stellen, und den Drogenkartellen, die mit ihrer Vormachtstellung den Rechtsstaat immer weiter aushebeln.
Mexiko hat eine holprige Vergangenheit mit der Demokratie: Nach der Mexikanischen Revolution bekam Mexiko 1917 eine Verfassung und wurde zu einer präsidialen Bundesrepublik. Das politische System war bis in die 1990er Jahre de facto ein Einparteiensystem, dominiert von der Partido Revolucionario Institucional (PRI) – der Partei der institutionalisierten Revolution. Mario Vargas Llosa nannte die Hegemonie der PRI einmal „die perfekte Diktatur“, da diese über Jahrzehnte unangefochten an der Macht saß, bis 1997 die absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus hatte und es durch ihre Postenbesetzungen einen Mangel an institutioneller Kontrolle gab. Es war ein in sich korruptes System, das sich durch alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereiche im ganzen Land zog.
2000 kam der erste große Richtungswechsel: Die christdemokratische Partido Acción Nacional (PAN) gewann die Wahlen. Sie sollte zwei Amtszeiten an der Macht bleiben, bevor ein weiteres Intermezzo der PRI kam. 2018 gewann dann Andrés Manuel López Obrador (AMLO) mit seiner linkspopulistischen Partei Moreno die Wahlen, mit dem großen Versprechen, der Korruption im Land endlich ein Ende zu bereiten, alte Strukturen der Eliten aufzubrechen und mit einer neuen Sicherheitsstrategie der Sicherheitslage im Land Herr zu werden. Nichts von all dem hat er geschafft. Noch nie gab es so viele Morde in einem sexenio (der sechsjährigen Amtszeit) wie im letzten. Zwischen Dezember 2018 und Dezember 2023 wurden insgesamt 171.085 Morde registriert. Nun ist die Sicherheitspolitik das dominante Wahlkampfthema.
Linkspopulismus oder Rechtsstaatlichkeit?
Die Wahl am 2. Juni wird richtungsweisend sein: Wird mit der Spitzenkandidatin Claudia Sheinbaum die Politik des derzeitigen linkspopulistischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) fortgeführt? Sie ist das Ziehkind AMLOs und verspricht Kontinuität seiner Politik.
Ein erneuter Richtungswechsel wäre ein Sieg der Mitte-Rechts-Kandidatin Xóchitl Gálvez: Sie ist die Kandidatin einer Koalition gegen AMLO, die sich den Namen Fuerza y Corazón por México – Kraft und Herz für Mexiko – gegeben hat. Das Lager könnte diverser kaum sein. Ihr politischer Lebenslauf begann bei der konservativen PAN und wird nun in der sozialdemokratischen PRD (Partido de la Revolución Democrática – Partei der demokratischen Revolution) weitergeführt. Beide Parteien und die PRI sind Teil dieser Koalition, die nicht viel mehr eint, als dass sie AMLO und dessen Partei ablösen wollen.
Fest steht: Mexiko wird nach dieser Wahl zum ersten Mal in der Geschichte von einer Frau regiert werden. Aber wofür die beiden Kandidatinnen stehen, könnte in der Essenz nicht unterschiedlicher sein, auch wenn sie oberflächlich erst einmal zwei Gemeinsamkeiten haben: Sie sind beide 61 Jahre alt und Ingenieurinnen.
In den Umfragen liegt Claudia Sheinbaum seit Monaten weit vor ihrer Hauptkonkurrentin. In den letzten Wochen hat diese allerdings gut aufholen können, nach der dritten und letzten Debatte der Präsidialkandidat:innen wurde ihr sogar ein Sieg zugesprochen. Im Duell zwischen den beiden Kandidatinnen geht es nach Analysten in Mexiko darum, ob es ein „Weiter so“ der Politik AMLOs mit Sheinbaum geben wird, einer alt-neuen politischen Kultur, in der Fakten und (oppositionelle) Meinungen keinen großen Stellenwert haben; wo die Opposition ignoriert wird, wo Institutionen weiter geschwächt wurden. AMLOs Regierungszeit erinnerte in vielerlei Hinsicht an altbekannte Arten und Weisen, Politik zu machen; so, wie es die PRI über Jahrzehnte im 20. Jahrhundert gemacht hat.
Dem gegenüber steht ein rechtstaatliches Programm der Koalition hinter Gálvez, die Sicherheit im Land schaffen will, indem sie den Rechtsstaat stärken und politischen und ideologischen Pluralismus fördern will. Immer wieder ist die Rolle der Justiz in diesem Wahlkampf Thema, eben kein „Weiter so“, da dieses „Weiter so“ als katastrophal für das Land eingeschätzt wird.
Derzeit sieht es noch so aus, als ob es ein „Weiter so“ in Mexiko geben wird. Oder täuschen die Umfragen? Am kommenden Sonntag wissen wir mehr.