Rote Linien oder Unklarheit? Das Ukraine-Playbook von Scholz und Macron
In der aktuellen geopolitischen Lage sind unterschiedliche Herangehensweisen der europäischen Großmächte zu beobachten, die jeweils tief in der Verteidigungsdoktrin und dem politischen Selbstverständnis der Nationen verwurzelt sind. Frankreich, mit seiner nuklearen Abschreckung, setzt auf strategische Unklarheit – während Deutschland klare Grenzlinien zieht. Beide Strategien bergen Risiken und Chancen, die es wert sind, näher betrachtet zu werden.
Im aktuellen geopolitischen Konflikt um die Ukraine zeigen sich deutliche Unterschiede in den Herangehensweisen und Strategien der europäischen Großmächte – insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland. Das könnte man als Schwäche sehen, die Russland ausnutzen könnte, und viele Politiker:innen und Kommentator:innen werden zu Recht nach einer besser koordinierten europäischen Antwort rufen.
Doch dahinter verbergen sich zwei altbekannte Strategien, die eben beide ihre Berechtigung haben: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sich an die Spitze der Bemühungen gesetzt, die Verbündeten der Ukraine zu sammeln, und signalisiert dabei eine offene Haltung hinsichtlich des Einsatzes westlicher Truppen zur Unterstützung der Ukraine. Macron betonte die kritische Lage und die hohen Einsätze für Europa und erklärte sich bereit, „alles zu tun, was nötig ist – so lange, wie es nötig ist“, um gegen die russische Invasion vorzugehen. Er wies auf wachsende Zweifel an der fortgesetzten Unterstützung Amerikas für Kiew hin und warnte vor einer aggressiveren Haltung Russlands.
Im Gegensatz dazu hat Deutschland, insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz, eine Haltung eingenommen, die klare rote Linien zieht, wie Macrons direkte Kritik an Scholz’ wiederholtem „niemals, niemals“ deutlich macht – eine Anspielung auf Deutschlands anfängliche Zurückhaltung, fortschrittliche Waffen zu liefern. Macron kritisierte auch Deutschlands Widerstand gegen EU-Verteidigungsanleihen, was einen Unterschied in der Bereitschaft der beiden Länder zeigt, finanzielle Ressourcen für die Verteidigung zu mobilisieren.
Während Macron die Führung beansprucht und eine breite Palette von Unterstützungen, einschließlich möglicher militärischer Maßnahmen, in Aussicht stellt, betont Deutschland die Bedeutung klar definierter Grenzen und zeigt eine gewisse Zurückhaltung bei der Eskalation des militärischen Engagements. Diese unterschiedlichen Sichtweisen spiegeln nicht nur die individuellen Verteidigungsdoktrinen und politischen Selbstverständnisse der Nationen wider, sondern auch ihre strategischen Berechnungen bezüglich der besten Vorgehensweise zur Unterstützung der Ukraine und zur Sicherung der europäischen Sicherheit.
Macron verspricht weiterhin, seine Rhetorik mit Aktionen zu untermauern, indem er mehr Hilfe bei Munition und Raketen sowie die Bildung einer Koalition zur Bereitstellung von Mittel- und Langstreckenwaffen ankündigt. Er erwähnt auch seine Bereitschaft, sich einer tschechischen Initiative anzuschließen, um Munition von Lieferanten außerhalb Europas zu kaufen, was eine signifikante Änderung in der französischen Position darstellt. Darüber hinaus plant Macron, weitere Sanktionen gegen Unternehmen und Länder zu verhängen, die Russland direkt oder indirekt mit Waffenteilen versorgen.
Macron setzt auf strategische Unklarheit
Das Konzept der „Strategic Ambiguity“ beschreibt in der Spieltheorie eine Situation, in der eine Person, Unternehmen oder Land absichtlich unklare oder mehrdeutige Signale über seine Absichten, Fähigkeiten oder Pläne aussendet. Das kann aus verschiedenen Gründen geschehen. Ein Auszug:
- Unsicherheit reduzieren: Durch das Verbergen der wahren Absichten oder Fähigkeiten kann ein Akteur verhindern, dass Gegner klare Gegenstrategien entwickeln.
- Flexibilität bewahren: Strategische Unklarheit ermöglicht es dem Akteur, seine Pläne anzupassen, ohne vorherige Verpflichtungen oder Ankündigungen widerrufen zu müssen.
- Kooperation fördern: In manchen Fällen kann strategische Unklarheit dazu beitragen, Kooperation in Situationen zu fördern, in denen direkte Kommunikation über Absichten zu Konflikten führen könnte.
- Missverständnisse ausnutzen: Ein Akteur kann bewusst Mehrdeutigkeiten schaffen, um die Wahrnehmungen und Reaktionen anderer zu seinen Gunsten zu beeinflussen.
Strategische Unklarheit wird nicht nur in der internationalen Politik genutzt, sondern auch bei Verhandlungen und in Wettbewerbssituationen, wo das Verbergen von Informationen oder das Erzeugen von Unsicherheit einen strategischen Vorteil bieten kann. Es ist ein zweischneidiges Schwert, da es auch das Risiko von Missverständnissen und Konflikten erhöht.
Klare rote Linien
Das Konzept der „Clear Red Lines“ aus der Spieltheorie bezieht sich hingegen auf die Praxis, bestimmte, nicht verhandelbare, Grenzen oder Bedingungen festzulegen, deren Überschreitung deutliche und vorhersehbare Konsequenzen nach sich zieht. Diese Strategie wird verwendet, um die Erwartungen und Verhaltensweisen der anderen Spieler in einer strategischen Interaktion klar zu definieren und zu steuern. Hier einige Schlüsselaspekte:
- Abschreckung: Durch das Ziehen klarer roter Linien sollen potenzielles Fehlverhalten oder unerwünschte Aktionen anderer Spieler abgeschreckt werden, indem klar gemacht wird, welche Aktionen als inakzeptabel gelten und welche Reaktionen diese hervorrufen würden.
- Vorhersehbarkeit und Klarheit: Klare rote Linien reduzieren Unsicherheit, indem sie deutlich machen, was toleriert wird und was nicht, wodurch die Entscheidungsfindung für alle Beteiligten erleichtert wird.
- Glaubwürdigkeit: Für die Wirksamkeit klarer roter Linien ist es entscheidend, dass die angedrohten Konsequenzen bei Überschreitung auch tatsächlich umgesetzt werden. Glaubwürdigkeit ist daher ein Schlüsselelement.
- Konfliktvermeidung: Indem klare Grenzen gesetzt werden, können Konflikte vermieden oder minimiert werden, da alle Spieler die Grenzen kennen und verstehen, innerhalb derer sie agieren können.
Dieses Konzept findet nicht nur in internationalen Beziehungen breite Anwendung, sondern auch im Management von Organisationen, in Verhandlungssituationen und in jeder Form von strategischer Interaktion, wo klare Kommunikation über akzeptable Verhaltensweisen und deren Grenzen erforderlich ist.
Die Playbooks von Frankreich, Deutschland – und der EU?
Frankreichs Position der strategischen Unklarheit soll potenzielle Aggressoren abschrecken, indem sie diese im Unklaren darüber lässt, ob und wann Frankreich militärisch intervenieren könnte. Diese Ambiguität kann jedoch auch innenpolitischen Druck erzeugen, der die Handlungsfähigkeit der eigenen Regierung einschränkt – und paradoxerweise das Eintreten des ungewissen Ereignisses wahrscheinlicher macht.
Deutschlands klare rote Linien hingegen sollen Stärke demonstrieren und gleichzeitig eine Eskalation verhindern. Allerdings besteht die Gefahr, dass solche Grenzen den Gegner lediglich dazu ermutigen, sie auszutesten. Einmal gezogen, müssen diese Grenzen verteidigt werden – was in der Praxis oft schwieriger ist, als es die Theorie vermuten lässt.
Russland spielt in diesem Konzert der Mächte eine eigene Melodie. Mit der Drohung einer nuklearen Eskalation versucht es den Westen von einer direkten militärischen Unterstützung der Ukraine abzuschrecken. Dieses Vorgehen zwingt die westlichen Staaten dazu, ihre Unterstützung auf nichtmilitärische Bereiche zu beschränken oder Wege zu finden, wie sie die Ukraine unterstützen können, ohne eine direkte Konfrontation zu riskieren.
Und Österreich? Je nachdem, wen man fragt. Aber die Strategien in der Landesverteidigungsakademie sehen auch eine gewisse Paradoxie: Oberst Berthold Sandtner hat dazu kürzlich in der Krone zusammengefasst: Einerseits will die EU keinen langen Krieg, andererseits scheut sie sich vor der Eskalation, die notwendig wäre, um den Konflikt schnell zu beenden. Sandtner sieht die Lösung in einer stärkeren militärischen Unterstützung der Ukraine durch die EU, um Russland effektiv zu schwächen. Die Zurückhaltung Europas, aus Angst vor russischen Reaktionen, verhindert jedoch eine solche Eskalation und verzögert damit eine Lösung des Konflikts.
Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob diese unterschiedlichen Ansätze zu einem koordinierten und effektiven europäischen Handeln führen können. Es scheint, als ob die gegenwärtige Situation von Unsicherheit und Uneinigkeit geprägt ist, die wenig dazu beiträgt, eine tragfähige Lösung für die Krise zu finden. Vielleicht wäre es dennoch an der Zeit, dass die europäischen Nationen ihre strategischen Differenzen überwinden und eine gemeinsame Linie finden, die sowohl die Unabhängigkeit der Ukraine sichert als auch eine weitere Eskalation des Konflikts verhindert.
Europa muss seine Rolle auf der Weltbühne neu definieren und einen Weg finden, geschlossen aufzutreten. Nur so können wir hoffen, in einer immer komplexer werdenden Weltordnung eine Rolle zu spielen, die unseren Werten und Interessen entspricht.