Sefton Delmer: Der Mann, der Hitler überlistete
Das Buch „How To Win An Information War“ von Peter Pomerantsev liefert eine packende Biografie des britischen Propagandisten Sefton Delmer, die gerade im aktuellen Kontext relevant ist.
Wie gewinnt man einen „Infokrieg“ – diese Frage dürfte wohl viele mehr interessieren, seit russische Propaganda im Zuge des Ukraine-Kriegs sichtbarer geworden ist. Mit Trollfabriken, Desinformation und einer unglaublichen Zahl unterschiedlicher Narrative versucht der Kreml, die öffentliche Debatte im Westen zu beeinflussen: gegen den Liberalismus, gegen die Sanktionen, für einen „Verhandlungsfrieden“ in der Ukraine, der Wladimir Putin ein Drittel des Landes bringen soll.
Dafür gibt es viele Namen: Im angelsächsischen Kontext spricht man von „politischer Kriegsführung“, im russischen von „aktiven Maßnahmen“. Fest steht: Propaganda ist nichts Neues – und kommt aus einer ganz anderen Zeit. In seinem neuen Buch „How To Win An Information War“ zeigt Peter Pomerantsev (unter anderem bekannt durch „Nothing Is True And Everything Is Possible“ und „This Is NOT Propaganda“) auf, wie die britische Political Warfare Executive im Zweiten Weltkrieg daran arbeitete, die Kriegsfähigkeit Hitler-Deutschlands zu untergraben. Er zieht spannende Parallelen zwischen damals und heute und fokussiert dabei auf einen Hauptcharakter, Sefton Delmer. Oder, wie es im Untertitel des Buches heißt: „The Propagandist Who Outwitted Hitler.“
Der Propagandist, der Hitler überlistete
Delmer ist ein Brite, der im Deutschland des Ersten Weltkriegs aufwächst und am eigenen Leib miterlebt, was es heißt, zwischen die Fronten der Propaganda zu kommen: In Berlin ist er der „Engländer“, der Feind, später in London wird ihm vorgeworfen, nicht „britisch genug“ zu sein. Während Delmer als Korrespondent für den Daily Express in Berlin und später für die BBC schreibt, reflektiert er über die Art und Weise von Propaganda und darüber, wie man Menschen überzeugt und wie nicht. Durch seinen Kindheitswohnort bleibt ihm die Tür für mehr versperrt – bis ins Jahr 1941.
Seine erste Erfindung ist „Der Chef“. Auf dem Propagandasender Gustav Siegfried 1, den man im Englischen als „covert operation“, als verdeckte Operation bezeichnen würde. Über das Radio spielt Delmers Team auf Deutsch einen überzeugten Nazi, dem Deutsche seiner Zeit gerne zuhören: Er hetzt gegen Jüdinnen und Juden, schimpft gegen Churchill und lobt den „Führer“. Die eigentliche Propaganda findet in der Nebenhandlung statt: Der Chef übt offene Kritik an der zweiten und dritten Reihe des Nazi-Reichs, wo gierige und unfähige Politiker den Erfolg des Krieges gefährden würden. Ein Versuch, den Glauben an den Krieg und die Moral zu unterwandern.
Im Laufe des Zweiten Weltkriegs setzt sich in Großbritannien die Erkenntnis durch, dass Delmers Art der Propaganda Wirkung zeigt. Er wird mit dem Aufbau von mehr und mehr Sendern aufgebaut: In Österreich sendet ein katholischer Priester unter dem Namen „Vater Elmar“, der die Unterdrückung des Katholischen im Nazi-Reich kritisiert, in Rumänien schallt es aus dem Radio Tipps und Tricks, die Nazi-Kriegsmaschinerie zu sabotieren. Ob in Deutschland, in Italien oder am Balkan, überall werden verschiedene Strategien ausprobiert. In Bulgarien etwa gibt man sich als Nazi-Polizeistation aus, die das bulgarische Volk wüst beleidigte.
The simplest and most effective of all black operations is to spit in a man’s soup and cry „Heil Hitler“.
Sefton Delmer
Propaganda ist dein Freund
Besonders raffiniert ist aber der Soldatensender Calais. Mit ihm gibt die britische Propaganda beinahe zu, Propaganda zu sein. Der Sender überträgt Nachrichten von der Front auf Deutsch, gratuliert Soldaten zum Nachwuchs in der Heimat, spielt Lieder nach Wunsch – gepaart mit Instrumental-Musik, die in Deutschland längst verboten ist. Der Wink mit dem Zaunpfahl kommt bei vielen an: Einige Deutsche wissen, dass sie den Briten zuhören und sind fasziniert davon, wie gut sie verstanden werden, durch Informationen der britischen Geheimdienste kommen sie an praktische Informationen darüber, wo die nächsten Luftschläge stattfinden werden.
Mit dieser Art der Propaganda umgeht Delmer das immer dünnere Korsett dessen, was in Nazi-Deutschland zugelassen wird. Der Chef wurde längst als Propaganda-Aktion enttarnt, wer beim Hören erwischt wurde, muss mit harten Strafen rechnen. Aber der Soldatensender ist genau so offensichtlich, dass man ihn hören darf – immerhin gibt es praktische Informationen, gegen die kein aufrechter Nazi etwas haben könne. Durch das Wissen, wahrscheinlich Feindpropaganda zu lauschen, hintergeht man die Befehle der Nazis ungestraft. Genau das, was Großbritannien ermutigen will.
Großbritannien wird zum Freund der Deutschen, personifiziert durch die Moderatorin „Vicki“, die den Soldaten an der Front und in U-Booten „drei Küsse schickt“. Die gut gelaunte Stimme von Vicki ließ niemanden vermuten, dass ihre halbe Familie in den Gaskammern von Auschwitz ermordet wurde – die Political Warfare Executive rekrutierte sich vor allem aus Vertriebenen aus Deutschland, denen die Flucht gelungen war. Sie konnten akzentfrei senden, als Komparsen wurden deutsche Kriegsgefangene verwendet.
Delmer und die „schwarze Propaganda“
Das Leben von Sefton Delmer gibt nicht nur handwerklich spannende Einblicke in die Welt der Propaganda. Als Hauptcharakter ist er auch deshalb eine spannende Figur, weil er im Laufe seiner Karriere ethisch bedenkliche Entscheidungen treffen muss.
Besonders tragisch ist einer seiner effektivsten Tricks: Der britische Geheimdienst weiß, welche deutschen Soldaten im Krieg getötet werden, und verwertet diese Informationen im Sinne der Propaganda. Einige Zeit nachdem die Hinterbliebenen in Deutschland die Nachricht bekommen, dass ihr Sohn für sein Land gestorben sei, schickt Großbritannien einen zweiten Brief nach. Die Nazis lügen – dein Sohn ist desertiert. Er ist in einem neutralen Land, wo es ihm gut geht, und er freut sich schon auf seine Rückkehr, wenn Hitler gefallen ist. Die Eltern sollten niemandem von diesem Brief erzählen, aber Delmer wusste natürlich, dass es jede glückliche Mutter, jeder erleichterte Vater zumindest einem Menschen erzählen würde: Das Gerücht der Massenflucht von der Front machte in ganz Deutschland die Runde.
Wenn Sefton Delmer mit dem Schmerz von Hinterbliebenen arbeitet, fällt das unter „Black Propaganda“, quasi ihre ethisch verwerflichste Version. Die Political Warfare Executive überschreitet Grenzen, weil der „totale Krieg“ längst ausgerufen ist, auf beiden Seiten nicht nur die Worte aufgerüstet werden. Während Delmer von zahlreichen Stationen sendet, ist Goebbels nicht untätig – auf die Forderung der „bedingungslosen Kapitulation“ reagiert er mit seinem eigenen Narrativ, demzufolge es nur totalen Sieg oder totale Niederlage gäbe. So schwächt der die britische Propaganda ab: Egal was du von den Nazis, ihrer Führung und dem Krieg an sich hältst, wir sind zu tief drin, um andere Optionen zu haben.
Im Fall der gefälschten Briefe an Eltern verstorbener Söhne wäscht Delmer selbst sein Gewissen rein: Er schickt ihnen Essenspakete „aus dem neutralen Land“. So gibt er ihnen nicht ihren Sohn zurück – aber die Hoffnung darauf, dass er leben könnte, und einen handfesten Vorteil in der verarmenden deutschen Kriegswirtschaft.
Parallelen zwischen 1941 und 2024
Die Geschichte von Sefton Delmer wird von Autor Pomerantsev immer wieder durch Zeitsprünge ins Heute unterbrochen. Auch heute sendet Russland über unzählige Kanäle seine Propaganda-Narrative. Es streut Gerüchte, dass der Westen längst am Krieg teilnehme, schiebt die Schuld für den Krieg der EU und NATO zu, spricht von „Nazis“ in der Ukraine und angeblichen Biowaffen-Labors in Kiew. Gleichzeitig wird daran gearbeitet, das Vertrauen in nationale Regierungen zu unterwandern, die russlandfreundlichste Partei des Landes wird über alle Kanäle unterstützt. Das geht von Twitter-Bots mit null Followern über gefälschte Videos auf TikTok über irreführende Zusammenschnitte auf Telegram bis zur höchsten Form der Diplomatie – auch die russische Botschaft in Österreich verbreitet seit Kriegsausbruch aktiv Verschwörungstheorien.
Hier werden nicht nur die Parallelen klar, dass es damals wie heute darum geht, die öffentliche Meinung über den Krieg zu beeinflussen. Pomerantsev macht auch klar, dass Propaganda ein Werkzeug ist. Heute würde niemand mehr bestreiten, dass die Alliierten die Guten im Zweiten Weltkrieg waren – aber sie greifen auf die gleichen Methoden zurück, die von den Bösen verwendet wurden.
Und auch heute passiert russische Propaganda nicht einseitig: Die Ukraine versucht, die russische Bevölkerung aufzuwecken. Gegen Ende des Buchs gibt Pomerantsev Einblicke in diese Bemühungen und sieht dieselben Lektionen, die auch die Geschichte von Sefton Delmer bringt: Narrative, die das eigene Leben betreffen, sind wesentlich nützlicher als ein Appell an die Moral. So würden Russinnen und Russen eher auflegen, wenn es um die Kriegsverbrechen in der Ukraine geht – wenn es aber um ihre eigenen wirtschaftlichen Nachteile geht, etwa um eine Sondersteuer für die Unterstützung des Kriegs, wird deutlich öfter zugehört. Wie schon mit dem Soldatensender Calais, es dominiert das gute alte Eigeninteresse.
Beim Lesen von „How To Win An Information War“ tun sich noch zahlreiche weitere Learnings auf, die Pomerantsev nicht explizit anspricht. Das macht es zu einem Must-read für alle, die sich für Propaganda, ihre ethischen Implikationen, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs oder den Krieg in der Ukraine interessieren. Dass es spannend wie ein Spionagethriller geschrieben ist, macht die Lektüre nur umso ansprechender. Denn das Leben von Sefton Delmer wäre ohnehin schon ein gutes Buch – sogar wenn es nicht so aktuell und relevant wäre.