So läuft das Lobbying in Brüssel wirklich
Der Anfang Dezember bekannt gewordene Fall von offensichtlicher Korruption im Herzen der europäischen Institutionen in Brüssel ist ein Beispiel für die allerschlimmste Art von Lobbyismus in der Hauptstadt der Europäischen Union: Geld gegen politische Meinungen, die entweder öffentlich im Plenum vorgetragen oder als Änderungsanträge zu Gesetzesvorschlägen eingebracht oder in Abstimmungen zu wichtigen legislativen Initiativen umgesetzt werden.
Warum überhaupt Lobbying?
Doch Lobbyismus, oder genauer gesagt Interessenvertretung in Brüssel, ist nicht nur eine Tatsache, sondern auch eine Notwendigkeit. Das Sammeln von Informationen und Einholen von Meinungen der staatlichen und nichtstaatlichen Partner:innen ist ein essenzieller Bestandteil, um die Brüsseler Gesetzgebungsmaschine mit Meinungen und Fakten aus der heterogenen Realität von 27 Mitgliedstaaten zu versorgen. Dazu bedarf es aber klarer Regeln und natürlich auch vertrauenswürdiger Partner:innen.
Der offensichtliche Weg, so einen „Reality Check“ durchzuführen, ist Teil der „besseren Verwaltungspraxis“ (better regulation). Dabei geht es um die Gestaltung des gesamten Politikzyklus: In der Planung geht es um die Folgenabschätzungsstudie, danach über den Beschluss durch die beiden Gesetzgeber (Rat und Parlament) zur Umsetzung durch die Mitgliedstaaten und zur Kontrolle und Bewertung durch die EU-Kommission.
Dabei sind bei allen Schritten Maßnahmen zur Beteiligung von Interessenvertretungen und Bürger:innen vorgesehen. Aber das ist Inhalt für einen anderen Beitrag, in dessen Rahmen auch die Lehren für den Gesetzgebungsprozess in Österreich zu thematisieren sind.
Zusätzlich zu diesem formalen Zugang besteht auch noch der Weg des Lobbyings: der Versuch einer Interessenvertretung, Politik mittels informeller Kontakte zu Vertreter:innen der Regierung und der Verwaltung zu beeinflussen. Laut Brüsseler Definition ist Lobbyismus die „Vertretung spezifischer Interessen im EU-Politik-Zyklus innerhalb der geltenden Regeln“.
Was genau ist Lobbying?
Lobbyist:innen kommen entweder aus einer professionellen Interessenvertretung eines bestimmten sozioökonomischen Wirtschafts- oder Gesellschaftssektors (Industrie- oder Arbeitnehmerverbände), aus halbstaatlichen Einrichtungen wie Kammern, aus NGOs oder aus spezialisierten Unternehmen wie Anwaltskanzleien oder Politikberatungsagenturen. Dazu gibt es noch Stiftungen, Universitäten und Forschungseinrichtungen auf allen Niveaus und in allen Bereichen sowie oft temporäre Koalitionen von Organisationen zu einem bestimmten Thema.
Der unmittelbare Nutzen einer Interessenvertretung liegt im Einbringen von bestimmten faktischen Informationen und klar gekennzeichneten Meinungen zu einem bestimmten Thema in den Gesetzgebungsprozess.
Ein Risiko besteht darin, dass diese Informationen und Meinungen nicht den Tatsachen entsprechen, sondern den Interessen einer kleinen Gruppe, die nicht im Einklang mit dem öffentlichen Entscheidungsfindungsprozess steht. Intransparenz im Sinne vom Verheimlichen der Weitergabe dieser Information und Meinung an Entscheidungsträger:innen in Politik und Verwaltung ist ein weiteres Risiko, das zu Interessenkonflikten führen kann. Das heißt, ein:e Entscheidungsträger:in trifft seine:ihre Wahl gegen den ihm:ihr von der Öffentlichkeit verliehenen Auftrag und für nicht mehrheitsfähige Partikularinteressen. Wenn es dafür Gegenleistungen gibt, handelt es sich um einen klaren Fall von Korruption.
Wie geht Lobbying?
Grundsätzlich kann man drei unterschiedliche Ebenen des Lobbyings identifizieren:
1. Kontext-Lobbying
Ziel von Kontext-Lobbying ist die Schaffung eines positiven Umfelds für das eigentliche Anliegen. Dabei wird bewusst kein offensichtlicher Zusammenhang zum Anliegen hergestellt. Als Akteur:in dient eine Stiftung, ein Verein oder Ähnliches, ohne kommerziellen oder parteipolitischen Hintergrund, dafür mit einem hohen Grad an Öffentlichkeit. Vertreter:in ist eine Person mit hohem Bekanntheitsgrad oder gesellschaftlichem Ansehen.
2. Fakten-Lobbying
Fakten-Lobbying hat den Aufbau einer faktenbasierten Beschreibung des eigentlichen Anliegens zum Ziel. Es geht dabei um möglichst exakte und unabhängige Daten und Analysen, die ein Problem identifizieren, und das Anliegen als die logische Lösung. Als Akteur:innen dienen angeworbene Forscher:innen und Expert:innen, deren Erkenntnisse als Studien und in Präsentationen der Öffentlichkeit und ganz besonders den Entscheidungsträger:innen nähergebracht werden. Dafür tritt ein:e für Forschung, Daten oder Ähnliches verantwortliche:r Vertreter:in des Anliegens auf.
3. Legislatives Lobbying
Das Ziel ist, durch die Formulierung von Gesetzestexten im Sinne des eigenen Anliegens direkt den politischen Entscheidungsprozess zu beeinflussen. Dafür treten Expert:innen der Organisation auf, die hinter dem Anliegen steht, und bieten juristischen Beistand. Es geht rein um die Zulieferung – ohne Öffentlichkeit und abseits der medialen Aufmerksamkeit. Die Organisation selbst wird von dem:der Verantwortlichen für EU-Gesetzgebung vertreten.
Ein Beispiel aus der Lobbyismus-Praxis
Ein gutes Beispiel dafür, wie das in der Brüsseler Praxis so abläuft, kann ich aus meiner Zeit bei der Entwicklung des Europäischen Schulobst-Programms geben, wofür ich dem zuständigen Direktor zugeteilt war. Dabei sollte zum ersten Mal in der europäischen Agrarpolitik ein nachfrage- statt angebotsgetriebenes Modell zur Anwendung kommen: Schulen sollten sich also die Produkte ihrer Wahl aussuchen können. Damit wurde es natürlich entscheidend, welche Produkte zugelassen wurden – und zwar im Wesentlichen, ob frisch oder auch verarbeitet, z.B. in Form von Saft oder Konserven.
Ein europäischer Konzern im Bereich „Verarbeitetes Obst und Gemüse“ (Konserven) verfolgte dabei die klassische dreistufige Strategie:
Schritt 1: Der CEO lud den verantwortlichen Direktor in der Kommission zum Besuch eines Schulgartens ein, den seine Firma unterstützte – eine kleine Anlage in einer Schule, in der die Schüler:innen Gemüse anbauen konnten, um es später auch in der Schulküche zu verwenden.
Schritt 2: Die Firma organisierte für die Mitarbeiter:innen des Direktors eine Veranstaltung zur Präsentation von Studien, warum der Einsatz von verarbeiteten Produkten die Ziele der Initiative unterstützt. Präsentiert wurde das von einem unabhängigen Experten – in Anwesenheit eines Public-Affairs-Managers der EU.
Schritt 3: Besagter Public-Affairs-Manager hatte einen Termin mit Rechtsanwält:innen bei den Mitarbeiter:innen des Direktors zur konkreten Formulierung eines Gesetzesvorschlags, um auch die Zulassung von verarbeitetem Obst und Gemüse zu ermöglichen. Ziel erreicht!
Praktische Tipps für Brüssel
Wer als Teil des Entscheidungsprozesses Ansprechpartner:in für Lobbyist:innen ist, sollte sich dieser ganz subjektiven, meiner persönlichen Erfahrung geschuldeten Tipps bewusst sein:
- Nutze das Transparenzregister: Vor jedem Kontakt, bei dem man einer Person oder Organisation Zugang zu Institutionen gewährt, ist immer ein Blick ins Register Vorbedingung: Das Register dient auch als Kontaktdatenbank und allgemeine Informationsquelle über Interessenvertreter:innen und ihren Zugang zu anderen EU-Institutionen.
- Halte dich an die Regeln: Der „Code of Conduct“ des Transparenzregisters bietet eine generelle, aber doch nützliche Anleitung für das Verhalten in der Zusammenarbeit mit externen Akteur:innen und Interessenvertreter:innen. Fehlverhalten wird sehr schnell publik und hat weitreichende und dauerhafte Folgen – wenn auch nicht notwendigerweise offiziell.
- Kenne dein Gegenüber: Vorab Informationen zu jedem (persönlichen oder virtuellen) Kontakt zu haben, ist essenziell, um nicht die Falschen zu treffen oder unsinnigen Aufwand zu betreiben. Doppelte Überprüfung durch öffentliche Daten und persönliche Auskunft ist immer empfehlenswert.
- Mit allen Seiten reden: Ein bekannter Spruch in Brüssel besagt: „Der Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Beamten ist nicht, ob er mit Lobbyisten spricht, sondern ob er mit beiden Seiten redet.“
- Biete Gegenleistungen: „Transactionalism“ heißt in Brüssel: Du musst geben, um zu bekommen. Jede Information kann eingetauscht, jeder Zugang abgegolten werden – nie gegen Sachleistungen, aber gegen andere Informationen und Kontakte.
- Brüssel ist auch nur ein Dorf: Jede schriftliche Kommunikation ist per se öffentlich. Vorsicht bei der Interpretation von Äußerungen, Diskretion bei der Weitergabe von Informationen, und niemals in der Öffentlichkeit Namen nennen.
Umgekehrt gibt es natürlich auch für aktives Lobbying eine Liste an Tipps und Tricks. Aber wenn sich beide Seiten an diese verschiedenen offiziellen und weniger offiziellen Regeln halten, dann profitiert der Gesetzgebungs- und politische Entscheidungsprozess von einem Mehr an Meinungen und Informationen – zum Vorteil aller.
FELIX MITTERMAYER ist privat und beruflich Europäer: Studien in vier Städten (Wien, München, Krakau und Leuven), Gedenkdienst in Auschwitz-Birkenau, seit Anfang 2000 europäischer Beamter in Brüssel mit Vor-Ort-Erfahrung im Beitrittsprozess der Slowakei und der Krise in Griechenland, Schwerpunkte Agrar- und Ernährungspolitik sowie bessere Verwaltung und Institutionenaufbau. Seit 2019 ist er International Officer für NEOS in Brüssel.