So werden in Brüssel Gesetze gemacht
In Zeiten des European Green Deal läuft die Brüsseler Gesetzgebungsmaschine auf Hochtouren. Es ist deshalb wichtiger denn je zu verstehen, wie der Gesetzgebungs-Prozess tatsächlich abläuft, welche Rolle die unterschiedlichen Akteure spielen, welche Termine entscheidend sind und wo man die besten Informationen findet.
Ein immer wiederkehrendes Bild von der EU ist eine Blackbox von undurchsichtigen Entscheidungen.
Eine Erklärung dafür ist das sogenannte Demokratiedefizit, also die fehlende Legitimität der europäischen Institutionen. Mitglieder des Europäischen Parlaments werden direkt gewählt, die Mitgliedstaaten entsenden ihre Kommissare in die EU-Kommission, und der Rat der Europäischen Union besteht aus den Regierungen an sich – trotzdem gibt es keine Direktwahl der Führung der Europäischen Union. Das führt zur fehlenden Legitimität – ein grundsätzliches Thema.
Aber es gibt auch einen zweiten Faktor, auf den wir hier genauer eingehen: den tatsächlichen Ablauf des formalen Gesetzgebungsprozesses und seine zum Teil nicht weitläufig bekannten, aber trotzdem prägenden Elemente. Es geht darum, wie man diese nicht nur in Brüssel, sondern auch in Österreich nutzen kann.
Es gibt viele Modelle, die einem Politik-Zyklus zugrunde liegen. Auch in Brüssel kursieren einige davon. Ein Modell, das oft verwendet wird, gliedert den Zyklus in vier Abschnitte, denen man jeweils die entsprechenden EU–Institutionen als Akteure zuordnen kann. In allen Phasen besteht die Möglichkeit zur direkten Einflussnahme für bestimmte politische Anliegen durch Interessenvertretungen und von Bürger:innen.
Phase 1: Entwicklung
Hauptakteur in dieser Phase ist die EU-Kommission. Für sie wurde in den Verträgen, konkret im Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2009, das Initiativrecht festgelegt. Was die Kommission plant, wird von der Präsidentin am Anfang ihrer Amtszeit durch ihre politische Erklärung, danach jedes Jahr im September durch die Rede zum State of the European Union vorgestellt. Wenn die Vorschläge inhaltlich ausgearbeitet sind, werden sie in einer Sitzung (jeden Mittwoch) der 26 Kommissare und ihrer Präsidentin angenommen.
Von der politischen Erklärung über das Arbeitsprogramm der Kommission bis zur Annahme des eigentlichen Vorschlags ist es ein langer und zeitraubender Weg. Eine entscheidende Etappe dabei ist die verpflichtende Folgenabschätzungs-Studie (Impact Assessment), die für alle wesentlichen Gesetzesvorschläge verpflichtend ist. Sie beinhaltet meist eine externe Studie und immer eine zweimalige öffentliche Befragung. Gesamtdauer: 12 bis 18 Monate.
Am Ende steht die Bewertung durch das kommissionsinterne Regulatory Scrutiny Board, das auch mit unabhängigen Experten bestückt ist. Wenn das Ergebnis positiv ist, wird es veröffentlicht und ist danach eine der besten Informationsquellen in Brüssel.
Meine eigene Erfahrung als Economic Advisor of the Director for Food Safety – und als solcher Teil aller wesentlichen Impact Assessments über einen Zeitraum von vier Jahren – ist, dass besonders die interne Abstimmung zwischen den Dienststellen der Kommission richtig hart ist. Sie ist inhaltlich jedenfalls fordernder als jede Diskussion im Europäischen Parlament. Das einzige Problem ist, dass schlussendlich immer wieder faktenbezogene Politik durch politikbestimmte „Fakten“ ersetzt wird. Das heißt, die erarbeiteten Handlungsoptionen, vom Status quo bis zur vollständigen Harmonisierung auf EU-Ebene, werden so dargestellt, dass die von der Kommission gewünschte Variante auch am besten aussteigt.
Phase 2: Entscheidung
Hier geht es um das allgemeine Gesetzgebungsverfahren mit Mitbestimmung und qualifizierter Mehrheit im Rat. Diese gilt für alle Gesetze abseits von Budget und Außenpolitik. Die Entscheidung findet zwischen dem Rat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament statt.
Kernstück dieses Verfahrens sind die sogenannten Triloge, die Verhandlungen zwischen der Ratspräsidentschaft (halbjährlich wechselnd) und dem Berichterstatter aus dem zuständigen parlamentarischen Ausschuss sowie Vertreter:innen der zuständigen Kommissionsdienststellen als „ehrliche Makler“. Das heißt, sie bringen nicht eine eigene Meinung ein, sondern unterstützen die beiden Co-Gesetzgeber dabei, einen tragfähigen Kompromiss zu finden.
Diese Triloge sind ein Beispiel, wie eine Verwaltung geltende Gesetze unterläuft: Da die zweite Lesung laut dem Vertrag von Lissabon mit drei (maximal vier) Monaten sehr kurz bemessen ist, die erste aber zeitlich unbeschränkt ist, wird praktisch kein Gesetzestext mehr in die zweite Lesung gegeben – sondern so lange in den Trilogen behandelt, bis ein Abschluss gefunden ist. Dieser wird dann im Rat und im Plenum des Europäischen Parlaments angenommen. Der Schlüssel der Trilog-Verhandlungen, die traditionellerweise am Nachmittag beginnen, um ein offenes Ende zu ermöglichen, ist der Trilog Table Editor: Eine tabellarische Aufstellung des Vorschlags der Kommission, der Positionen des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union, und in der vierten Spalte dann der ausverhandelte Kompromiss.
Dass so eine Tabelle natürlich um beliebig viele weitere Spalten vergrößert werden kann, in denen dann – für die anderen Verhandlungspartner unsichtbar gemacht – die eigene Position eingetragen wird, bewirkt in Brüssel bei jedem Trilog eine krampfhafte Jagd nach möglichst vollständigen Versionen. Nicht nur unter den Medien, vor allem auch unter den betroffenen Interessenvertretungen.
Phase 3: Umsetzung
Die Umsetzung spielt sich in erster Linie in den Mitgliedstaaten ab. Aber mit einem wichtigen, oft übersehenen Zusatzelement: der tertiären Rechtssetzung. Der Hintergrund ist folgender: Da das allgemeine Gesetzgebungsverfahren (mindestens zwei) aber eher noch länger dauert, technische oder länderspezifische Anpassungen aber regelmäßig vorgenommen werden müssen, beinhalten die Gesetzesvorschläge der Kommission eine wachsende Zahl an Ermächtigungen. In diesen Artikeln wird festgelegt, dass die Kommission gemeinsam mit den Mitgliedstaaten detaillierte Regeln festlegen kann. Dabei gibt es zwei Arten: Delegierte Rechtsakte, bei denen das Europäische Parlament ein Einspruchsrecht hat, und Umsetzungsrechtsakte, die unmittelbar zur Anwendung kommen.
Ein Beispiel dafür, dass dieses System seine Tücken hat, ist die Expertengruppe Landwirtschaftliche Marktordnung und Unterausschuss Olivenmarkt, quasi der „Olivenöl-Ausschuss“. Dieser beschloss im Rahmen einer Ermächtigung, dass nur noch original-verschlossene Mini-Flaschen Olivenöl auf Restauranttischen stehen dürften, keine wiederauffüllbaren – eine schlaue Absatzförderungsmethode für die Ölhändler. Nach einem kollektiven Aufschrei der betroffenen Branchen (Hotels, Caterings, Restaurants) wurde dieser Vorschlag aber schnell wieder zurückgezogen. Deshalb gilt die ungeschriebene Regel, dass alle Gesetze, die mehrere Mitgliedstaaten betreffen, als delegierte Rechtsakte umgesetzt werden, damit das Europäische Parlament eine Chance auf Einspruch hat.
Phase 4: Lernen
Das Lernen spielt sich in erster Linie zwischen Mitgliedstaaten und der Kommission ab, aber auch das Europäische Parlament kann sich einbringen.
Bei den Ausgabeprogrammen gibt es dazu umfassende Verfahren, vom Begleitausschuss bis zu externen Evaluierungen. Leider kommen deren Ergebnisse oft spät und fließen dann nicht ausreichend in die Entwicklung der nächsten Periode ein. Ein wirksames und sichtbares Instrument hingegen ist der Strukturierte Dialog, der einen regelmäßigen Austausch zwischen dem jeweiligen Kommissions-Mitglied und entsprechenden EU-parlamentarischen Fachausschuss befördert. Außerdem gibt es mit der Möglichkeit einer Fragestunde mit den Kommissar:innen im Europäischen Parlament oder einem Meinungsaustausch in den Ausschüssen zwei kurzfristig einsetzbare Mittel, das Handeln der Kommission demokratisch zu kontrollieren.
In diesem Abschnitt spielt der Zugang zu Information eine kritische Rolle. Abgesehen von dem immer mehr in reinem Jargon verfassten Texten der Kommission, die ein großartiges Anwendungsfeld für Bullshit Bingo bieten, gibt es zwei wichtige Informationsquellen von anderen EU-Institutionen. Zum einen wären da die Berichte des Rechnungshofs (Court of Auditors) – abgesehen von seinen gewöhnlichen Berichten erstellt er auch Special Reports, die die mit Abstand kritischsten und nützlichsten Analysen der EU-Politik beinhalten. Zum anderen macht das European Parliament Research Service die Unzahl an Kommissions-Veröffentlichungen in nutzer-orientierten Formaten verwendbar, z.B. mit Kurzzusammenfassungen.
Was alle über Brüssel wissen sollten
Dieser Politik-Zyklus wirkt technisch, und das ist er auch. Aber er ist designt, um vielen Stakeholdern einen rechtsstaatlichen Rahmen für ihre Mitsprache zu sichern – und damit Gesetze zu machen, die auch das Leben in Österreich entscheidend beeinflussen. Daher ist es wichtig, die Grundlagen des europäischen Prozesses zu verstehen. Was wir davon lernen können:
- Um mitzuentscheiden, muss man den politischen Prozess und seine vier Etappen kennen – von den Hauptakteuren über den Ablauf, von den politischen Prioritäten bis zur Umsetzung und Kontrolle.
- Zeitnahe und regelmäßige Information ist entscheidend, um rechtzeitig ein Anliegen fördern zu können: Schlüsseldaten sind die State of the Union-Rede im September und die Kollegs-Sitzungen jeden Mittwoch.
- Es gibt auch Informationsquellen abseits des Jargons der Kommission, auch wenn die englischen Namen für viele technisch klingen mögen: das Regulatory Scrutiny Board, das European Parliament Research Service und den Court of Auditors.
- Zur tatsächlichen Mitgestaltung muss man die wesentlichen Partner in allen drei Institutionen kennen und langfristige Beziehungen entwickeln, die auch belastbar sind.
- Durch die Lieferung von sachlichen, leicht verwertbaren Beiträgen, die unmittelbar einsetzbar sind, kann man prägenden Einfluss auf die Gesetzesvorlagen gewinnen.
- Zur Durchsetzung eines bestimmten Anliegens ist es unerlässlich, einen lokalen „Champion“ zu finden, der das Anliegen in- und außerhalb der Institutionen vertritt.
- Aufseiten des Rates ist grundsätzlich eine Beteiligung der nationalen Parlamente (auch der Opposition) dauerhaft und gleichartig für alle Mitgliedstaaten zu regeln – langfristig z.B. in Form einer zweiten Kammer im Europäischen Parlament.
- Eine Änderung der Verträge, um eine zeitlich begrenzte erste Lesung und dafür eine längere zweite Lesung zu ermöglichen, sollte die Triloge durch öffentlich zugängliche Verhandlungen ersetzen.
- Sowohl das Europäische Parlament als auch der Ausschuss der Regionen und der Wirtschafts- und Sozialausschuss sind zur Präsentation von spezifischen politischen Anliegen geeignet.
- Für Österreich kann der Prozess der Folgenabschätzungsstudien einschließlich Befragung, technischer Expertise und internen Qualitätskontrolle als Vorbild für evidenzbasierte Politik dienen. Auch hier wurden bereits erste Schritte gesetzt.
FELIX MITTERMAYER ist privat und beruflich Europäer: Studien in vier Städten (Wien, München, Krakau und Leuven), Gedenkdienst in Auschwitz-Birkenau, seit Anfang 2000 europäischer Beamter in Brüssel mit Vor-Ort-Erfahrung im Beitrittsprozess der Slowakei und der Krise in Griechenland, Schwerpunkte Agrar- und Ernährungspolitik sowie bessere Verwaltung und Institutionenaufbau. Seit 2019 ist er International Officer für NEOS in Brüssel.