Verantwortungsvoll über Suizide berichten
Normalerweise liest man von Suizid-Versuchen nur selten. Doch in den vergangenen Monaten gab es mehrere, die eine politische Dimension hatten – und da tun sich viele im Medienbereich schwer, gar nichts zu sagen. Wenn man sich die Tragik des Falls Lisa-Maria Kellermayr anschaut, die monatelang von anonymen Drohungen von aggressiven Corona-Leugner:innen berichtet hatte, dann ist das auch nachvollziehbar. Genauso wie beim Suizidversuch des Nationalratsabgeordneten Hans-Jörg Jenewein, der kurz nach seinem Austritt aus der Partei stattfand.
Weniger nachvollziehbar ist aber, dass die Suizidberichterstattung in diesen zwei Fällen teilweise groteske Züge annahm. Nicht nur, dass über das „Wie“ berichtet wurde, im Fall Jenewein wurde sogar von einem Abschiedsbrief geschrieben. (Dessen Existenz wurde von seiner früheren Parteikollegin und Schwester übrigens bestritten.)
Dass das alles nicht sein muss, sollte sich von selbst verstehen, scheint aber bei „politisierten“ und somit „interessanteren“ Suizidversuchen nur optional geworden zu sein. Daher ein kurzer Reminder: Es gibt einen Leitfaden über Berichterstattung zu Suizid, den das Kriseninterventionszentrum veröffentlicht.
Wie schlechte Berichterstattung zu weiteren Suiziden führt
Will man wissen, wie man über Suizidversuche berichten soll, muss man sich im Wesentlichen nur zwei Effekte merken, die auf kulturelle Werke Bezug nehmen: den Werther- und den Papageno-Effekt.
Der Werther-Effekt besagt, dass die Berichterstattung über Suizide weitere Suizidversuche auslösen kann. Der Name geht zurück auf Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ – nach Veröffentlichung dieses Buches, dessen Protagonist sich aufgrund seiner unerwiderten Liebe umbringt, sollen sich zahlreiche andere junge Männer aus ähnlichen Motiven das Leben genommen haben. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür gibt es auch aus Österreich, wie der Leitfaden festhält:
Anfang der 80er Jahre waren vor allem U-Bahn-Suizide häufig Gegenstand von sensationserregenden Berichten in den Medien. Diese wissenschaftliche Untersuchung konnte nachweisen, dass die ab Mitte 1987 eingeführten Medienempfehlungen zu einer veränderten und zurückhaltenden Medienberichterstattung über U-Bahn-Suizide zu einem deutlichen Rückgang der U-Bahn-Suizide in Wien führten und diese seither trotz steigender Anzahl der U-Bahn-Stationen und Passagierzahlen auf einem verringerten Niveau gehalten werden konnten.
Um zu verstehen, warum das so ist, muss man verstehen, dass ein Suizidversuch selten nur einen Grund hat. Darum ist es auch falsch, wenn in der Suizidberichterstattung Motive wie unerwiderte Liebe vorkommen – sie stellen kaum die Realität dar, vor allem, wenn der Hintergrund in einer psychischen Erkrankung liegt. Viele suizidgefährdete Menschen befinden sich in einer länger andauernden Krise, in der sie sich aus ihrem Umfeld zurückziehen, sozial isolieren. Sie konsumieren aber immer noch Medien – und wenn sie in diesen von Suiziden lesen, die z.B. ein Motiv hatten, mit dem sie sich identifizieren können, kann das die eigenen Suizidgedanken verstärken und zur Nachahmung anregen.
Wie gute Berichterstattung funktionieren kann
Der Papageno-Effekt ist quasi das Gegenteil davon: Demnach kann Medienberichterstattung auch einen positiven Einfluss haben und Menschen vom Suizid abhalten, wenn richtig darüber berichtet wird. Der Ausdruck stammt aus Mozarts „Zauberflöte“, in der die drei Knaben der Hauptfigur Papageno Alternativen vorzeigen und ihm helfen, sich aus seiner suizidalen Krise zu befreien.
Medien könnten eine ähnliche Funktion erfüllen und diese Rolle der drei Knaben einnehmen, indem sie konstruktive Alternativen aufzeigen. In der Berichterstattung über mentale Gesundheit ist es wichtig, diese nicht als unvermeidbaren, ewig anhaltenden Schicksalsschlag darzustellen, sondern dass dieser als „zeitlich begrenzte Phase tiefer Verzweiflung aufgefasst wird, die auch durch konkrete und aktive Hilfe der Umwelt gelindert werden kann und Chancen der Neuorientierung beinhaltet“. Außerdem sollten Mental-Health-Themen nicht tabuisiert werden – vermittelt werden sollte, dass es normal und wünschenswert ist, sich Hilfe zu suchen.
Die konkreten Empfehlungen
Wenn man also lernen will, wie man über Suizide berichtet, ohne Nachahmung zu animieren, gibt es einige konkrete Handlungsempfehlungen dazu:
- Berichterstattung über Menschen, die ihre suizidale Krise positiv bewältigen konnten
- Berichterstattung über Warnhinweise suizidgefährdeter Personen
- Berichterstattung über die Person, ohne sie auf ihren Suizid zu „reduzieren“
- Berichterstattung im Blattinneren, statt reißerisch auf der ersten Seite
- Berichterstattung über Alternativen und Hilfsangebote
Es geht aber auch darum, was man nicht tun sollte:
- Keine vereinfachten Erklärungen für den Suizid liefern
- Keine Heroisierung, keine Romantisierung des Suizids (z.B. durch „Selbstmord aus Liebe“)
- Keine Beschreibung des Suizids als „unverständlich“ oder „ohne erkennbare Vorzeichen“
- Keine Gespräche mit trauernden Angehörigen, Ersthelfer:innen vor Ort oder Polizist:innen
- Keine fetzigen Schlagzeilen wie „XY tot: Selbstmord!“
Warum es wichtig ist, wie wir über Suizide sprechen
Da man doch relativ viel nicht tun soll, mag sich jetzt die eine oder andere Medienperson in ihrer redaktionellen Freiheit eingeschränkt fühlen. Aber wer über Suizide berichtet, sollte nicht zuerst an Auflage- und Reichweitenzahlen denken, sondern an Menschenleben. Aus dem Werther- und dem Papageno-Effekt kommt auch eine Verantwortung gegenüber denen, die mit Lebenskrisen und psychischen Erkrankungen kämpfen.
Medien prägen, wie wir unser Leben, die Gesellschaft und unseren Platz in ihr wahrnehmen. Daher haben sie auch die Aufgabe, verantwortungsvoll über Suizide zu berichten – auch, wenn man dadurch eine reißerische Headline ausspart. Das bedeutet aber nicht, dass die Verantwortung auf Medien beschränkt ist: Auch „Privatpersonen“ können helfen, indem sie Mental-Health-Themen nicht stigmatisieren und anderen nicht das Gefühl geben, über ihre Situation nicht sprechen zu können.
Und damit sich Materie auch selbst an diese Empfehlungen hält: zum Schluss noch ein paar Nummern, die man für den Fall eingespeichert haben sollte: die österreichische Telefonseelsorge erreicht man jederzeit unter 142, die speziell für junge Menschen eingerichtete Nummer „Rat auf Draht“ unter 147.