Victor D’Hondt: Der Mann, dem das Parlament vertraut
Gent, 19. Jahrhundert: Ein belgischer Jurist entwickelt ein Verfahren, um Wählerstimmen in Parlamentssitze umzuwandeln – und wirft seinen Speer damit über zwei Weltkriege hinweg bis ins 21. Jahrhundert. Auch heute noch vertrauen Parlamente auf der ganzen Welt dem D’Hondt-Verfahren.
Wie setzt sich der Nationalrat eigentlich zusammen? In Österreich gibt es 183 Mandate, die es zu besetzen gilt. Anders als beispielsweise in Deutschland, wo der Bundestag aufgrund von Überhangmandaten immer weiter aufgebläht wird, ist die Anzahl der Mandate im Österreichischen Nationalrat fix. Intuitiv würde man also annehmen, dass die Zahl der gültigen Stimmen durch die Zahl der vergebenen Sitze geteilt wird und sich die Parteien nach historisch gewachsener Praktik von links nach rechts im Plenarsaal im Verhältnis zu ihren Stimmen wiederfinden. In der Nationalratswahlordnung ist das Destillat der Stimmverteilung in Absatz 6 des Paragraphen 107 definiert. Dort heißt es:
Jede Partei erhält so viele Mandate, wie die Wahlzahl in ihrer Parteisumme enthalten ist.
Mit dieser Definition alleine kommt man allerdings nicht sehr weit, es ist zusätzlich etwas Arithmetik notwendig, wenn man den dreistufigen Prozess der Stimmverteilung wirklich verstehen möchte. Kein Weg führt dabei an der Wahlzahl vorbei.
Magische Zahlen und Verfahren
Die Wahlzahl ist auf allen drei Ebenen relevant und wird bereits für die erste – die Verteilung nach Regionalwahlkreisen – ermittelt. Laut Paragraph 96 der Nationalratswahlordnung errechnet sich die Wahlzahl wie folgt:
Die Gesamtsumme der im Landeswahlkreis für die Parteien abgegebenen gültigen Stimmen wird […] durch die Anzahl der im Landeswahlkreis zu vergebenden Mandate geteilt. Die so gewonnene und in jedem Fall auf die nächstfolgende ganze Zahl zu erhöhende Zahl ist die Wahlzahl.
Teilt man also die abgegebenen gültigen Stimmen durch die (vorher festgelegten) Mandate des jeweiligen Bundeslandes, erhält man aufgerundet die Wahlzahl. Statistiker Erich Neuwirth hat 2017 in einem Beitrag anschaulich erklärt, wie es danach weitergeht: Jede Partei erhält so viele Mandate, wie die Wahlzahl in ihrer Parteisumme des jeweiligen Regionalwahlkreises (insgesamt gibt es davon 39 in Österreich) enthalten ist. Ein Beispiel: Im Regionalwahlkreis Villach beträgt die Wahlzahl 30.000. Partei X hat dort 40.000 Stimmen bekommen, erhält somit 1 Mandat. Partei Y hat 65.000 Stimmen erhalten, was 2 Mandate ergibt, Partei Z hat nur 20.000 Stimmen bekommen und geht somit leer aus.
Hat man die Mandate aus den Regionalwahlkreisen verteilt, beginnt Schritt 2 des Verteilungsverfahrens – die Landesebene. Da Parteien in der Regel mehr Mandate über Landeswahlkreise als über Regionalwahlkreise erhalten, kommt es zu Überschussmandaten, welche die Kandidatinnen und Kandidaten der Landeslisten bekommen. Auch auf dieser Ebene ist die Wahlzahl von zentraler Bedeutung.
Dritte Ebene, Auftritt Victor D’Hondt: Angenommen, es wurden nach den Ebenen 1 und 2 insgesamt 150 Mandate verteilt. Es müssen also noch 33 Mandate besetzt werden. Dies geschieht über die Bundeslisten der Parteien via D’Hondt-Verfahren und erneut mithilfe der Wahlzahl. Die Krux: Dieses Verfahren basiert auf Abrundungen. Teilt man beispielsweise die Stimmen eines Bundeslands durch die Wahlzahl, erhält man in den meisten Fällen eine Kommazahl, die abgerundet wird. Das D’Hondt-Verfahren hat somit ein Problem, da es stimmstärkere Parteien bevorzugt, weil bei jenen die Abrundung weniger stark ins Gewicht fällt. Ein Beispiel: Wenn bei 1,9 Mandaten abgerundet wird, entgeht einer Kleinpartei ein Zuwachs von beinahe 100 Prozent, eine Partei mit 10,9 Mandaten kann diese Abrundung somit besser verkraften, aber immer noch schlechter als eine Großpartei mit 100,9 Sitzen.
Empirisch ist es für die Mandatsverteilung ausreichend, die Wahlzahl und das bundesweite Ergebnis zu kennen. Wenn in Wien die Wahlzahl 25.000 beträgt und Partei X dort 140.000 Stimmen erhalten hat, bekäme sie in diesem Bundesland 5,6, abgerundet also 5 Mandate. Diese Rechnung stellt man für alle neun Bundesländer und im Parlament vertretenen Parteien an und erhält somit die Mandatsverteilung im Nationalrat.
D’Hondt, was sonst?
Das Verfahren findet in Parlamenten weltweit Anwendung: In den USA wird das Repräsentantenhaus nach diesem (dort nach Thomas Jefferson benannten) Verfahren besetzt. Auch die Schweiz, Israel, Japan oder das Europäische Parlament vertrauen auf Victor D’Hondt. In Deutschland wurde das Verfahren 1985 ersetzt, der Nachfolger wurde wiederum im Jahr 2008 abgelöst.
Zwar setzen viele Parlamente weltweit auf D’Hondt, gerade die Bevorzugung gegenüber stimmstärkeren Parteien ist dem Verfahren aber inhärent, weswegen eine Debatte über ein anderes System durchaus geführt werden könnte. Dass dies nicht geschieht, mag an der relativen Komplexität liegen – es ist schlichtweg kein Thema, mit dem man Wahlen gewinnt. Insbesondere Großparteien dürften als Profiteure kein gesteigertes Interesse an einer Änderung haben. Und überhaupt: Wer kann von sich behaupten, D’Hondt wirklich verstanden zu haben? Man vertraut dem Verfahren einfach, es hat sich schließlich bewährt und ist verlässlich. D’Hondts Verfahren scheint also, insbesondere in Österreich, eine gewisse Bräsigkeit zu besitzen – was aber nicht bedeutet, dass man an dieser Stellschraube nicht drehen könnte. Schließlich ist die Zeit der großen Volksparteien dem Parteipluralismus gewichen.