Was ist eigentlich die Mittelschicht?
Über die Mittelschicht und wie es ihr geht, darüber wird oft gesprochen, ebenso fühlen sich ihr viele Menschen zugehörig. Doch wie kann sie eigentlich definiert und gemessen werden, und wieso ist das wichtig?
Rechnen Sie sich eher zum oberen, mittleren oder unteren Teil der Mittelschicht? Fragen wie diese werden von Markt- und Meinungsforschungsinstituten oft gestellt, auch wenn die „mittlere Mittelschicht“ seltsam klingt.
Diese feingliedrige Unterteilung kommt daher, dass sich länderübergreifend ein Großteil der Menschen als Mittelschicht definiert, darunter auch viele Personen, die eigentlich der Ober- bzw. Unterschicht angehören. Der Household Finance and Consumption Survey etwa (HCFS), der in Österreich von der Nationalbank durchgeführt wird, zeigt, dass mit zunehmendem Vermögen diese verzerrte Wahrnehmung stärker wird. Auch im höchsten Vermögensdezil definiert sich niemand als Oberschicht, sondern alle als Teil der Mitte. Doch woher kommt dieser Drang zur Mittelschicht?
In der öffentlichen und politischen Debatte wird die Mittelschicht oft mit Aufstiegs- und Teilhabemöglichkeiten assoziiert, wodurch der Mittelschicht ein stabilisierender Faktor in unserer Gesellschaft zukommt. In Abgrenzung zur „Unterschicht“, die oft mit Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen zu kämpfen hat, und einer „Oberschicht“, die meist mit Privilegien und moralisch fragwürdigen Charaktereigenschaften konnotiert wird, ist das Bild der Mitte positiv besetzt.
Vielfältige Definitionen und Messmethoden
In der wissenschaftlichen Literatur finden sich viele Definitionen der gesellschaftlichen Mitte und Erläuterungen, wie diese gemessen werden kann. Die eine Definition gibt es aber nicht. Grundsätzlich gibt es drei grundlegende Konzepte, wie die Mitte definiert werden kann: der Blick auf das Bankkonto (ökonomisch), der Blick auf den Lebenslauf (Beruf und Ausbildung) oder der Blick in den Kopf (Kultur und Werte).
Ökonomisch
In der Ökonomie werden oft Definitionen verwendet, die auf finanziellen Kennzahlen basieren, insbesondere dem Einkommen. Diese sind einfach zu messen, über Ländergrenzen vergleichbar, und durch Veränderungen im zeitlichen Vergleich können Aussagen über Einkommens- und Vermögensverhältnisse getroffen werden. Hierfür werden meist statistische Parameter einer Verteilung für die Definition verwendet.
Oft heißt es, dass die Mittelschicht schwindet. Dieser Befund ist jedoch umstritten, nicht zuletzt wegen der vielfältigen Definitionen der Mittelschicht. Für den Sozialbericht 2016 haben Ökonom:innen der Oesterreichischen Nationalbank verschiedene Definitionen auf Basis der HCFS Daten miteinander verglichen. Knapp 20 Prozent aller Haushalte sind in allen Definitionen der Mitte vertreten, 90 Prozent finden sich mindestens in einer Definition wieder, und nur 10 Prozent der Haushalte fallen in keine Definition.
Gleichzeitig zeigen aber Studien, dass der Zugang zu Immobilieneigentum, das traditionell eng mit dem Begriff der Mitte verbunden ist, in vielen Ländern wesentlich schwieriger geworden ist. Weil die Wohnkosten so stark gestiegen sind, warnte die internationale Denkfabrik OECD etwa 2020 vor der „Squeezed Middle Class“, der Mittelschicht unter Druck.
Ein weiteres Problem ist, dass bei Diskussionen über Armut oftmals über Einkommen gesprochen wird, bei Reichtum aber über Vermögen. Viele wissenschaftliche Studien empfehlen mittlerweile eine Kombination aus beiden Indikatoren, um aussagekräftigere Ergebnisse zu bekommen. Im Freiheitsindex des NEOS Lab wird etwa das Konzept der ökonomischen Drittel verwendet, das sich auf Basis von Einkommen und Vermögensfragen definiert.
Beruf und Ausbildung
Einkommen mag der direkteste Weg zur Definition der Mitte sein, aber für viele Menschen sind gesellschaftliches Ansehen und Status nicht nur mit Geld verknüpft. Schließlich ist es üblich, ein Gespräch mit „Was machst du?“ zu starten, aber tabu zu fragen: „Wie viel verdienst du?“ Ökonomische Indikatoren mögen der direkteste Weg sein, materiellen Wohlstand zu messen – aber wenn es bei sozialem Ansehen darum geht, wie wir in der Gesellschaft gesehen werden, sind Berufe viel sichtbarer als Einkommen. Lebensläufe sind online schnell zu finden, Kontoauszüge nicht.
Insbesondere in den Sozialwissenschaften wird der Beruf als stärkster Einzelindikator für die Höhe des materiellen Wohlstands, des sozialen Ansehens und der Lebenschancen gesehen. Auf Basis von Berufsklassen werden Schichtzugehörigkeiten definiert. Gleichzeitig verändert sich die Arbeitswelt, Berufe verschwinden, neue werden geschaffen. Manche Berufe haben in den letzten Jahrzehnten an Stellung (und Bezahlung) gewonnen, andere verloren. Aus diesem Grund ist eine Klassifizierung nach Berufen oft sehr schwierig.
(Aus-)Bildung stellt also eine gute Alternative dar. Berufliche und schulische Qualifikationen gehen in der Regel Hand in Hand. Oft können Berufe nur ausgeübt werden, wenn bestimmte Fähigkeiten oder Qualifikationen erworben wurden. Bildung wird von vielen auch als starkes Merkmal der Schichtzugehörigkeit an und für sich angesehen. Bildung kann als eine Investition in Humankapital gesehen werden, höheres Einkommen und Vermögensbildung wären demzufolge die Rendite.
Kultur und Werte
Definitionen auf Basis von Geld, Qualifikationen oder Berufen beruhen meist auf „harten“ Indikatoren wie Einkommen oder Bildungsgrad. Diese ermöglichen belastbare Analysen. Aber für viele ist die Frage der Schichtzugehörigkeit eine Haltungsfrage. Eher als Bankguthaben oder Lebensläufe offenbart sie sich durch eine Kombination von Einstellungen, der Selbstwahrnehmung, Vorlieben oder Geschmäcker. Prominentestes Beispiel hierfür ist die Definition von Mittelschicht der „Middle Class Task Force“ der Obama-Administration. So heißt es:
„Middle class families and those who wish to be middle class have certain common aspirations for themselves and their children. They strive for economic stability and therefore desire to own a home and to save for retirement. They want economic opportunities for their children and therefore want to provide them with a college education.“
Schichtzugehörigkeit besteht demnach nicht darin, was Menschen verdienen oder für ihren Lebensunterhalt tun, sondern darin, wie sie leben. Oft wird hierfür der Begriff „kulturelles Kapital“ verwendet. Im Gegensatz zu wirtschaftlichem Kapital, bei dem es um Geld geht, und sozialem Kapital, bei dem es um Netzwerke geht.
Die politische Relevanz der Mittelschicht
Oft wird die Mitte der Gesellschaft ökonomisch, also über das Einkommen definiert. Je nachdem, ob sozialer Status oder Werte eine Rolle spielen, kommen auch Beruf, Ausbildung oder Wertehaltungen zum Einsatz. Ungeachtet der Definition ist es wichtig, wie es der Mittelschicht geht und vor welchen Herausforderungen sie steht.
Was passiert, wenn dies zu wenig berücksichtigt wird, zeigen historische Beispiele: Knapp zwei Drittel der Trump-Wähler:innen im Jahr 2016 hatten ein Haushaltseinkommen über dem US-Durchschnitt, aus ökonomischer Sicht ein klarer Fall von Mittelschicht. Ebenso sind 59 Prozent der Leave-Wähler:innen in Großbritannien Teil der Mittelschicht (auf Basis der National Statistics Socio-economic Classification NS-SEC). Über britische Fischer, die um das finanzielle Überleben kämpfen und daher für den Brexit sind, wurde während und nach der Abstimmung oft berichtet. Jedoch war es die Mittelklasse, die den Ausschlag für den Brexit gegeben hat.
Die Frage, wie es der Mittelschicht geht, hat auch heute politische Relevanz: Daten des Meinungsforschungsinstituts IPSOS zeigen, dass zwei Drittel der Unterstützer:innen des rechtsextremen niederländischen Politikers Thierry Baudet einen mittleren oder hohen Bildungsabschluss haben. So unterschiedlich die Definitionen der Mittelschicht auch sind: Klar ist, dass es sich für die Demokratie und die Politik immer rechnet, sich genau mit den Sorgen und Wünschen der Mittelschicht zu beschäftigen.